«Mütter übertragen Ängste oft auf ihre Kinder»
Von der Trennungsangst bis zur Furcht vor dem Zahnarztbesuch: Viele Ängste sind «vererbt». Psychoanalytikerin Jeannette Fischer erklärt, was dahintersteckt – und was man dagegen tun kann.
Veröffentlicht am 8. November 2011 - 08:49 Uhr
Beobachter: Was sind das für Personen, die ihre Ängste auf andere übertragen?
Jeannette Fischer: Das tut jeder, solange er sich dessen nicht bewusst ist. Oft sind es Mütter.
Beobachter: Warum gerade Mütter?
Fischer: Die erste und intensivste Beziehung des Kindes nennen wir Primärbeziehung. In unserer Gesellschaftsform besteht die Primärbeziehung vorwiegend zwischen Mutter und Kind. Deshalb häufen sich die Angstübertragungen durch die Mutter. Denn Kinder sind besonders empfänglich für übertragene Ängste. Sie können sich kaum wehren dagegen, vor allem wenn diese Ängste von einer von ihnen geliebten und ihnen nahestehenden Person ausgehen. Gibt es in einer Primärbeziehung Gewaltanwendung oder Irritationen, beeinflusst das später stark. Was man an die nächste Generation weitergibt, ist immer etwas, was man in der eigenen Kindheit in einer Beziehungsstruktur selbst erlebt hat.
Beobachter: Welche Ängste werden denn übertragen?
Fischer: Angst an sich wird immer weitergegeben. Ob das Verlustangst, Angst vor dem Zahnarzt oder eine andere Furcht ist.
Beobachter: Können Sie ein Beispiel nennen?
Fischer: Nehmen wir zum Beispiel das Heimweh. Wenn ein Kind Heimweh hat, kann man davon ausgehen, dass die Mutter ihre Trennungsangst überträgt. Mitunter kann sich das sehr heftig äussern. Eine Patientin von mir studiert in Zürich, ihre Eltern leben aber im Ausland. Fährt sie von einem Besuch zurück in die Schweiz, hat sie im Zug immer schlimme Panikattacken. Sobald sie in Zürich ankommt, sind diese vorbei. Ihre Mutter kann nicht loslassen. So liebevoll und fürsorglich sie beim Abschied jeweils ist, ihre Tochter nimmt die Trennungsangst sehr wohl wahr. Für sie ist das eine Bombe.
Beobachter: Passieren Angstübertragungen auch bei Profis, etwa Lehrern und Erziehern?
Fischer: Und ob. Eine Anekdote dazu: Eine Kindergartenklasse besuchte meine Ausstellung zum Thema Angst. In einem Saal, der als Terrarium gestaltet war, befand sich eine alte, träge Boa constrictor. Die Sicherheit der Besucher war vorher ausführlich thematisiert worden, im Saal war ausserdem eine Aufsichtsperson. Die Kinder suchten sofort neugierig nach der Schlange, die sich gut versteckte. Doch die Kindergärtnerin hatte Angst und rief die Kinder panisch zu sich. Am Schluss hingen ihr alle am Rockzipfel. Wäre sich die Kindergärtnerin bewusst gewesen: «Ich habe panische Angst», hätte sie in diesem Moment eine wichtige Unterscheidung zwischen ihrer Angst und den neugierigen Kindern machen können. Weil sie das nicht konnte, hat sie ihre Angst auf die komplette Klasse übertragen.
Beobachter: Wie kann man Ängste bei sich selbst erkennen?
Fischer: Indem man sich selbst wahrnimmt und versucht, sich «abzutasten»: «Wieso habe ich jetzt Herzklopfen, schweissige Hände? Warum bleibt mir die Spucke weg, fühle ich mich plötzlich wie gelähmt?» Dann erkennt man: «Aha, ich habe Angst.» So weit kann sich eigentlich jeder selbst analysieren.
Beobachter: Was ist, wenn die Eltern ihre Emotionen nicht als Angst erkennen?
Fischer: Dann hat das Kind in unserem Kleinfamiliensystem eigentlich keine Chance, der übertragenen Angst auszuweichen. Wäre eine Sippe da, mit Grosseltern, mit Tanten und Onkeln, hätte das Kind einen Ausweg, sich in gewissen Momenten an die anderen Bezugspersonen zu wenden. Die Kleinfamilie ist aber ein absolut abgeschlossenes System, das Kind hat keine Ausweichmöglichkeiten. Schon Sigmund Freud sagte: «Die Kleinfamilie ist die Wiege der Neurose.»
Beobachter: Kann man etwas tun, damit die eigene Angst nicht oder weniger übertragen wird?
Fischer: Ja. Oft hilft nur schon das Feststellen: «Ich habe jetzt Angst.» Das wirkt wirklich Wunder. Dann muss man erkennen: «Das ist meine Angst, und die hat mit den anderen nichts zu tun.» Schliesslich sollte man seine Angst mitteilen. Auch den Kindern gegenüber. Das Gegenüber hat dann die Möglichkeit, zu reagieren und zu beruhigen. Gerade die Kinder können sehr fürsorglich sein.
Beobachter: Ein Beispiel?
Fischer: Nehmen wir an, das Kind muss zum Zahnarzt, die Mutter hat aber selbst panische Angst vor dem Besuch. Wenn die Mutter ihre Angst erkennt, merkt sie gleichzeitig, dass sie nicht fähig sein wird, ihr Kind in seiner Angst zu beruhigen. Nur schon diese Erkenntnis kann Ruhe bringen. Eine Möglichkeit ist auch, dem Kind offen zu sagen: «Ich kann dich jetzt gerade nicht beruhigen, weil ich selbst Angst habe. Was könnten wir jetzt zu deiner Beruhigung tun?» Natürlich kann man auch eine andere Begleitperson zum Zahnarzt mitschicken oder versuchen, der Angst mit Notfalltröpfli, Baldrian und Ähnlichem entgegenzuwirken. Verknüpft man den Zahnarztbesuch mit einem positiven Erlebnis, zum Beispiel einem kleinen Geschenk, kann auch das helfen.
Beobachter: Muss man dem Kind wirklich mitteilen, dass es einem selbst gerade nicht gutgeht?
Fischer: Ja. Das Kind nimmt es ja sowieso wahr. Kommuniziert die Mutter das, merkt es, dass seine Wahrnehmung stimmt. Es kann dann reagieren, indem es auf die Mutter zugeht oder sie in Ruhe lässt. Viel schlimmer ist, wenn die Mutter ihre Angst verneint. Dann fühlt sich das Kind nicht nur schuldig, weil es die Mutter nicht glücklich machen kann, sondern es beginnt auch, an seiner Wahrnehmung zu zweifeln. Das sind dann die Patienten, die zuerst lernen müssen, sich selbst wahrzunehmen und ernst zu nehmen, weil sie es nie erfahren haben. Nimmt man das Kind in seiner Wahrnehmung ernst, kann man ihm vieles zumuten.
Beobachter: Wie kann das nähere Umfeld darauf reagieren und helfen?
Fischer: Indem eine weitere Bezugsperson eine Art Anwalt der Seele des Kindes wird. Dazu ist zu sagen, dass sich übrigens auch positive Emotionen aufs Kind übertragen. Wenn die Mutter zum Beispiel Trennungsängste hat, kann der Vater sagen: «Lass es gehen, ich kümmere mich darum.» Er kann die Mutter beruhigen. Die Mutter muss aber auch bereit sein, ihre Angst auszuhalten und sich beruhigen zu lassen.
Beobachter: Und wann braucht es eine Therapie?
Fischer: Meist bringt einen nur schon das Erkennen der Angst einen grossen Schritt weiter. Man kann wieder mit einer gewissen Unbeschwertheit durch den Alltag gehen. Wenn man dieses Wohlbefinden nicht mehr selbst herstellen kann und sich im Kreis dreht, sollte man zur Therapie.
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