Wer hoch fliegt, fällt tief
Möglichst grosses Selbstvertrauen ist etwas vom Wichtigsten, was man Kindern mitgeben kann – glauben viele Eltern. Doch damit liegen sie falsch. Das zeigen neuere Untersuchungen.
Veröffentlicht am 27. Mai 2013 - 16:32 Uhr
Leute mit grossem Selbstbewusstsein gelten als absolute Siegertypen: Der Erfolg – ob im Beruf oder privat – scheint ihnen nur so zuzufliegen. Wem es dagegen an Selbstbewusstsein mangelt, der kann in unzähligen Büchern, Kursen oder Seminaren lernen, mehr Selbstwertgefühl zu entwickeln. Auch in den Köpfen vieler Eltern ist der Glaube, dass Selbstbewusstsein und Erfolg eng zusammenhängen, tief verankert – und sie wollen ihrem Kind deshalb möglichst viel davon mit auf den Weg geben.
Allerdings: Laut neueren Studien führt ein hohes Selbstbewusstsein weder zu besseren Schulnoten noch zu grösserem beruflichem Erfolg. Und der Schuss kann auch nach hinten losgehen, sagt Expertin Astrid Schütz: Menschen mit einem zu hohen Selbstwertgefühl überschätzen häufig ihre Fähigkeiten und bereiten sich daher zum Beispiel auf eine wichtige Prüfung nicht genügend vor. «Damit sind sie nicht unbedingt erfolgreicher als Menschen mit geringer Selbstwertschätzung, die an ihren Fähigkeiten zweifeln – und dann tatsächlich weniger leisten, als sie eigentlich könnten», erklärt die Professorin für differenzielle Psychologie und Diagnostik an der Universität Bamberg.
Ausserdem suchten Selbstbewusste die Ursache für ihr Scheitern häufig bei anderen oder in ungünstigen Umständen, was sie nicht gerade sympathisch erscheinen lässt. In Vorstellungsgesprächen, so fand die Wissenschaftlerin weiter heraus, scheiden Leute mit übergrossem Selbstvertrauen ebenfalls schneller aus als solche, die etwas bescheidener auftreten.
Doch unbestritten erleichtert eine gute Dosis Selbstvertrauen das Leben. Es hilft etwa dabei, Probleme zu bewältigen, statt an ihnen zu verzweifeln. Zudem sagt es uns, wann wir aufgeben müssen, weil wir das gesetzte Ziel nicht erreichen können.
Und es hat enorme Auswirkungen auf das soziale Verhalten, weil es dazu beiträgt, dass wir uns selbst und anderen mit Wertschätzung begegnen. Und darüber hinaus macht es uns zu besseren Partnern, weil wir unsere Beziehungen nicht strapazieren mit grundloser Eifersucht und der ewigen Frage: «Liebst du mich überhaupt?»
Wie also können Eltern ihrem Kind die richtig dosierte Portion Selbstvertrauen vermitteln? Genug, damit es vor neuen Herausforderungen nicht ängstlich zurückschreckt – und doch nicht so viel, dass es glaubt, alles mit links schaffen zu können, und schliesslich genau daran scheitert?
Die Aargauer Psychologin Irene Rohrer hat sich auf das Thema spezialisiert und hält Vorträge mit dem Titel «Mein Kind ist selbstbewusst». Für sie geht es bei der Bildung von Selbstbewusstsein vor allem darum, «dass sich ein Kind zu Hause geborgen und angenommen fühlt. Die Gewissheit, geliebt zu werden, wie man ist, stärkt das Selbstbewusstsein ungemein.»
Im Erziehungsalltag heisse das unter anderem: Wenn Eltern mit dem Kind schimpfen, sollen sie lediglich sein Verhalten kritisieren – und nicht das Kind als Person. Sie sollen zeigen, dass sie dem Kind etwas zutrauen, und es eigene Erfahrungen machen lassen.
Ebenso wichtig ist laut Irene Rohrer, die Gefühle des Kindes ernst zu nehmen. Also ihm etwa die Angst vor der Dunkelheit nicht abzusprechen, sondern es mit einem Lichtstrahl im Zimmer zu beruhigen. Oder das weinende Kind in den Arm zu nehmen und zu trösten, statt ihm zu sagen, dass der Sturz harmlos war und es gar nicht wehtun kann. «Es fällt Kindern schwer, ein gutes Gefühl für sich und Vertrauen in sich zu entwickeln, wenn ihre Gefühle und Wahrnehmungen regelmässig übergangen werden.»
Vor allem in den ersten Jahren sei die Bildung von Selbstbewusstsein «eine reine Beziehungs- und Herzenssache, die massgeblich von den Eltern beeinflusst wird». Daneben scheinen auch Gene eine Rolle zu spielen: Studien mit Zwillingen lassen vermuten, dass ein Teil des Selbstwertgefühls vererbt wird.
Eine feste Grösse ist Selbstvertrauen nicht. Es entwickelt sich während des ganzen Lebens weiter und ist auch immer wieder Schwankungen unterzogen. So gehört es zur gesunden Entwicklung, dass Jugendliche in der Pubertät sich manchmal eher überschätzen und zugleich starke Selbstzweifel haben. Insbesondere bei Mädchen kann das Selbstwertgefühl absinken, weil sie gängigen Schönheitsidealen nicht entsprechen. Auch andere grosse Veränderungen wie der Eintritt in die Schule oder in die Lehre, aber auch die Geburt des ersten Kindes können das Selbstbewusstsein ins Wanken bringen. Oft braucht es da mehr als ein Erfolgserlebnis, bis man wieder mit sich selbst im Reinen ist.
Neben Erziehung und Genen spielt laut Irene Rohrer auch das elterliche Vorbild eine wichtige Rolle. «Wer seinem Kind ein starkes Selbstvertrauen vermitteln will, muss zuerst bei sich selber hinschauen.» Wie soll die Tochter ein gutes Selbstbewusstsein entwickeln, wenn die Mutter sich dauernd kleinmacht und an sich zweifelt?
Vor allem Frauen bekunden bis heute Mühe damit, ihre Fähigkeiten realistisch einzuschätzen. Psychologin Astrid Schütz hat in einer Studie herausgefunden, dass Frauen ihre Aufmerksamkeit viel häufiger als Männer auf ihre Schwächen lenken – und sich fragen, in welchen Bereichen sie sich noch verbessern könnten. Oft trauen sie sich auch weniger zu als Männer. Als Grund dafür vermutet die Wissenschaftlerin, dass Lehrer, Erzieherinnen und Mütter die selbstkritische Haltung bei Mädchen eher verstärken. Nach wie vor gelten Frauen, die selbstsicher und fordernd auftreten, schnell als arrogant, während Männer eher als souverän wahrgenommen werden.
Weit weniger wichtig als bisher angenommen scheint das Loben zu sein. Noch vor einigen Jahren hiess es, man könne Kinder nicht genug loben, um sie zu selbstbewussten Menschen zu erziehen. Heute glaubt man, dass exzessive Lobeshymnen sogar kontraproduktiv wirken können. Der deutsche Psychologe Wulf-Uwe Meyer hat in einer Reihe von Studien herausgefunden, dass zwölfjährige Schüler lobende Worte des Lehrers vor allem so interpretieren, dass sie ihre Leistungsfähigkeit erreicht haben. Werden sie hingegen kritisiert, glauben sie, dass sie ihr volles Potential noch nicht ausgeschöpft haben und ihre Noten verbessern könnten.
Lob sollte sich ausserdem immer auf eine Anstrengung und nicht auf eine Fähigkeit oder ein Talent beziehen. Konkret: Einem Kind, das ein schönes Bild gemalt hat, sagt man besser nicht: «Du bist aber ein toller Künstler», sondern: «Da hast du aber ein sehr schönes Bild gemalt.» Zudem kommt Lob bei einem Kind nur dann richtig an, wenn die Eltern ehrlich begeistert sind. Falsches Lob, so Irene Rohrer, werde von den Kleinen sofort als solches durchschaut: «Es ist ein grosser Unterschied, ob ich ein Kind lobe, um es zu manipulieren, also es zu mehr Anstrengung anzuspornen – oder ob ich echte Freude an seinen Fortschritten habe.»
Buchtipp
Astrid Schütz: «Je selbstsicherer, desto besser? Licht und Schatten positiver Selbstbewertung»; Verlag Beltz, 2005, 156 Seiten, CHF 36.90