Das Schicksal der verkauften Kinder aus Sri Lanka
In den achtziger Jahren wurden Hunderte Babys aus Sri Lanka von Schweizer Eltern adoptiert – viele illegal. Für Betroffene gibt es wenig Hoffnung.
Veröffentlicht am 14. Februar 2020 - 11:17 Uhr,
aktualisiert am 27. Februar 2020 - 10:33 Uhr
Am liebsten würde Anja Konings einfach in der Masse verschwinden, sich unsichtbar machen. Etwas, was der 38-Jährigen noch nie gelang. Schon als Kind stach sie heraus. In der Schule nannten sie die anderen Kinder «Schoggistängeli», die Lehrerin zeigte ihr in einem Spiegel, dass sie schon recht hatten, wenn sie sagten, Anja sei anders.
Ihre Eltern erklärten ihr, sie stamme nicht aus dem Bauch ihrer Mutter. Sie sei von einer anderen Frau in einem anderen Land namens Sri Lanka geboren worden. Bilder vom Juli 1982 aus der Nähe von Colombo zeigen, wie ihre Adoptivmutter sie zum ersten Mal in den Armen hielt. Sie trug nur ein Lümpli. Mehr erfuhr Anja Konings nicht über das Wie und Warum ihrer Adoption. «Aber ich hatte immer das Gefühl, etwas passe nicht zusammen.»
Im Frühling 2018 sollte sie erfahren, dass ihr Gefühl sie nicht getäuscht hatte. Im Fernsehen sah sie eine Reportage über Adoptionen von Kindern aus Sri Lanka. In den achtziger Jahren waren Tausende Babys von westlichen Paaren adoptiert worden, rund 700 kamen in die Schweiz. In vielen Fällen war es nicht mit rechten Dingen zugegangen. Mütter wurden zur Adoptionsfreigabe gedrängt oder gezwungen, manchen wurden die Kinder gestohlen. Es gab sogenannte Babyfarmen, wo Schwangere festgehalten wurden, um Kinder für die Adoption zu gebären. Gegen Bezahlung gaben sich vor Gericht andere Frauen als Mütter aus, Urkunden wurden gefälscht.
In der Schweiz liefen die meisten Adoptionen aus Sri Lanka über die Vermittlerin Alice Honegger aus Bollingen SG. Schon 1982 wusste man vom Handel mit den Babys. Medien berichteten, der Schweizer Botschafter in Sri Lanka warnte die Bundesbehörden vor einem Skandal. Zeitweise entzog die zuständige Kantonalbehörde Honegger die Bewilligung. Die Adoptionen liefen dennoch weiter.
Für viele Adoptierte waren die Berichte 2018 ein Schock. Anja Konings aber schöpfte Hoffnung. Sie hatte schon seit 2003 nach ihren Wurzeln gesucht und 2009 eine Frau gefunden, die angeblich ihre Mutter war, aber keinen Kontakt wollte. Was, wenn diese Frau gar nicht die richtige Mutter war? Was, wenn die richtige Mutter sich nach ihr sehnte?
Erst viel später wurde ihr klar: Keine der Organisationen, die Opfer bei ihrer Suche unterstützen, kann bei einer illegalen Adoption wirklich helfen. Offiziell zuständig sind die kantonalen Auskunftsstellen. Sie leiten die Anfragen und Dossiers an das Bundesamt für Justiz weiter. Die darauf kontaktierte zentrale Adoptionsbehörde in Sri Lanka sucht dann die leiblichen Eltern. Sie wird dabei unterstützt von lokalen Behörden – aufgrund der Informationen in den offiziellen Registern. Sind Namen oder andere Angaben gefälscht, verläuft die Suche zwangsläufig im Sand.
Der Suchdienst des Roten Kreuzes bietet Betroffenen Hilfe auf privater Basis an und orientiert im Gespräch, ob und wie man sich die notwendigen Dokumente beschaffen kann. In Sri Lanka wird jedoch nicht mehr ermittelt, weil die Suchen ergebnislos blieben.
Anja Konings hatte sich anfänglich an den Internationalen Sozialdienst Schweiz (ISS) gewandt: die Organisation, die mit Kontaktpersonen vor Ort aktiv nach Angehörigen sucht und gemäss Website besonders Wert legt auf Beratung und Begleitung. Sechs lange Jahre wartete sie vergeblich auf Neuigkeiten, dann teilte ihr der ISS telefonisch und brieflich mit, man habe ihre Mutter gefunden, doch diese wolle keinen Kontakt. Gemäss dem Bericht des Sozialarbeiters vor Ort gab die Frau an, niemals ein Kind an ein ausländisches Paar abgegeben zu haben. Seine Interpretation: Die Frau schäme sich wohl und sage deshalb nicht die Wahrheit.
Der ISS teilte Konings mit, man dürfe ihr keine Angaben machen zum Aufenthaltsort der Mutter. Juristisch ist das korrekt, doch Anja Konings zog es den Boden unter den Füssen weg. «Warum dürfen fremde Menschen meine Mutter treffen, ich aber nicht? Wenigstens ein Foto von ihr hätte ich mir gewünscht.» Der ISS riet ihr, bei Bedarf psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen, nannte aber keine Adressen. «Ich fühlte mich alleingelassen.»
Nach den Enthüllungen von 2018 fragte Konings nochmals beim ISS an, mit der Bitte, ihre Mutter zu treffen. Sie wollte einen DNA-Test machen. Auch diesmal erhielt sie keine Adresse. Datenschutz. Sie wandte sich an den Verein Back to the Roots, der 2018 von anderen Adoptierten gegründet wurde. Innert weniger Tage fand die Kontaktperson des Vereins die Adresse der Frau heraus – mit den gleichen Dokumenten, die Konings schon dem ISS gegeben hatte.
Sie flog nach Sri Lanka – und wurde erneut überrascht. «Die Frau bestätigte, dass sie meine Mutter ist, erzählte mir sogar von meiner Geburt und willigte auch in einen DNA-Test ein.» Anja Konings glaubte Ähnlichkeiten zu entdecken in den Gesichtszügen, in der Art, wie sie sich bewegte. Doch der DNA-Test war negativ. Die Frau verstrickte sich in Lügen. «Für mich brach eine Welt zusammen.»
Zur Enttäuschung mischte sich Wut. Warum brauchte der Sozialdienst ISS sechs Jahre, um eine Frau zu finden, deren Adresse man innert Tagen herausfindet? Warum hinterfragte niemand die Aussagen des Sozialarbeiters? Warum hatte man sie für eine so einschneidende Nachricht nicht zu einem persönlichen Gespräch eingeladen? Wo blieben die angepriesene Beratung, wo die Begleitung?
Fragen, die sich auch Celin Fässler stellt. Auch sie wurde 1982 trotz Bewilligungsstopp aus Sri Lanka adoptiert. Im Januar 2018 beauftragte sie den ISS mit einer Herkunftssuche . Das war kurz bevor sie erstmals von den illegalen Adoptionen hörte. Sie hatte nur ihre Geburtsurkunde und den sri-lankischen Pass.
Nachdem sie vom Babyhandel erfahren hatte, meldete sie sich im August 2018 erneut beim ISS. Sie fragte nach, ob sie noch mehr Dokumente beschaffen könnte, und falls ja, welche nützlich seien und wie gross die Erfolgschancen seien. «Die Mitarbeiterin hatte keine Ahnung, wovon ich sprach, dabei war es in allen Medien zu lesen.» Danach hörte sie einige Monate nichts. «Ich wusste nicht, ob und wie es weitergeht.»
Im November lud man sie zum Gespräch. Eine ISS-Mitarbeiterin teilte ihr mit, man habe die Zusammenarbeit mit der bisherigen Kontaktperson in Sri Lanka im August beendet, die Suche sei bisher ergebnislos verlaufen. Celin Fässler liess sie abbrechen. Im April 2019 erhielt sie eine Rechnung über 1800 Franken. Zum verabredeten Kostendach von 1400 Franken kamen 400 Franken für den ISS-Partner vor Ort.
«Als Baby hat jemand an mir Geld verdient. Und nun wieder.»
Trotz hartnäckigen Nachfragens erfuhr Fässler nie, wofür das zusätzliche Geld konkret ausgegeben worden war. Man liess sie wissen, die Kontaktperson habe die auf der Geburtsurkunde vermerkte Adresse gesucht, vor Ort herumgefragt, aber weder die Mutter noch ihren Aufenthaltsort gefunden. «Warum die Kosten dafür nicht in der Pauschale enthalten sind, bleibt mir ein Rätsel», sagt Fässler. Sie fühle sich ein zweites Mal verkauft. «Als Baby hat jemand an mir Geld verdient. Und nun wieder.»
Celin Fässler versuchte es auf eigene Faust und flog im November 2019 nach Sri Lanka. Sie fand innerhalb eines einzigen Tages mehr Informationen als der ISS in fast zwei Jahren. «Ich fuhr in meine Geburtsklinik, fand im Register den Namen eines Vaters und den Hinweis auf mehrere Geschwister. Nun kann ich dieser Spur nachgehen.»
«Es tut mir leid, dass sich diese beiden Betroffenen im Stich gelassen fühlen. Wir legen sehr grossen Wert auf die Begleitung, ich kann mir das nicht erklären», sagt Direktor Rolf Widmer. Früher sei man verpflichtet gewesen, vor Ort ausschliesslich mit staatlichen Organisationen zusammenzuarbeiten. «Das erklärt die lange Suchzeit im Fall Konings. Die staatlichen Stellen waren teilweise selber in den Babyhandel involviert und hatten wohl kein Interesse an einer Aufklärung.»
Warum es dem privaten Sucher 2018 nicht in den Sinn kam, in Celin Fässlers Geburtsklinik das Register einzusehen, sei unklar. «Hier ist man wohl eine falsche Strategie gefahren. Wir suchen derzeit neue qualifizierte Partner.»
«Die Schweizer Behörden tragen für den Babyhandel eine Mitverantwortung.»
Sarah Ineichen, Verein Back to the Roots
Sarah Ineichen, Präsidentin des Adoptiertenvereins Back to the Roots, ortet ein grundsätzliches Problem. Ihr sind weitere Betroffene mit ähnlichen Erfahrungen bekannt. «Gemäss unseren Informationen war die letzte Kontaktperson des ISS in Sri Lanka indirekt in die Babyvermittlungen verstrickt. Es mangelt nach wie vor an Distanz.»
Zudem hätten viele Vorbehalte, dass die kantonalen Stellen die Herkunftssuche übernehmen. «Es kostet grosse Überwindung, sich ausgerechnet an jene Behörde zu wenden, die damals die illegalen Adoptionen nicht verhindert hat», sagt Ineichen. Deshalb fordert sie, dass eine unabhängige Anlaufstelle eingerichtet wird, die bei der Suche umfassend hilft. Vor Ort brauche es ein Netz von geprüften, vertrauenswürdigen Kontaktpersonen. Das sei eine Aufgabe, die der Staat finanzieren müsse. «Die Schweizer Behörden tragen eine Mitverantwortung für den Babyhandel und somit auch für dessen Folgen», sagt Ineichen.
Für Adoptierte mit gefälschten Papieren wären grossflächige DNA-Tests am ehesten erfolgversprechend. «Man weiss, wo diese Babyfarmen standen, und könnte in den umliegenden Dörfern Tests verteilen.»
Das Bundesamt für Justiz ist derzeit daran, sich einen Überblick über Angebote und Erfahrungen der Kantone bei der Herkunftssuche zu verschaffen. Man könne aber nicht im Ausland aktiv werden und auch in der Schweiz nicht von sich aus neue Angebote schaffen. «Dafür braucht es politische Impulse», sagt Joëlle Schickel, Leiterin der Zentralstelle internationale Adoptionen.
Ende Februar wird eine vom Bundesamt für Justiz in Auftrag gegebene Studie zur Praxis der Sri-Lanka-Adoptionen zwischen 1973 und 1997 erwartet. Möglich, dass er genug Zündstoff enthält und endlich etwas passiert. Anja Konings war unterdessen mehrmals in Sri Lanka, es ist ihre «zweite Heimat» geworden. Dort fühle sie sich wohl – ein wenig weniger anders.
«Es wurden nicht Eltern für Kinder gesucht, sondern Kinder für Eltern.» Zu diesem Fazit gelangen die drei Forscherinnen der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in ihrem jetzt veröffentlichten Bericht zu den Adoptionen von Kindern aus Sri Lanka zwischen 1973 bis 1997. Die Studie wurde vom Bundesamt für Justiz in Auftrag gegeben und zeigt auf knapp 300 Seiten das totale Versagen der damals für Auslandsadoptionen zuständigen Behörden auf. Dass in Sri Lanka Kinder gegen Geld und Luxuswaren eingetauscht wurden, war hinlänglich bekannt. Im Bundesarchiv gibt es sogar ein Dossier aus der damaligen Zeit mit der Aufschrift «Kinderhandel». Doch weder die zuständigen kantonalen Stellen noch die Bundesbehörden stoppten die Adoptionen. Im Gegenteil: Sie verschlossen die Augen, schoben die Verantwortung auf das Herkunftsland und ignorierten die Gesetze, die den Babyhandel hätten eindämmen können.
Die ZHAW-Forschenden untersuchten 71 Adoptionsdossiers in den Kantonen St. Gallen, Bern und Genf. Die meisten erfüllten die rechtlichen Vorgaben nicht. In vielen Fällen fehlte etwa die Zustimmungserklärung der leiblichen Eltern, es wurden Blanko-Einreisebewilligungen erteilt mit fiktiven Namen und es reisten Babys ein, obwohl die Adoptiveltern keine Pflegekinderbewilligung hatten. Häufig fehlten Geburtsurkunden und in den Dokumenten über die Herkunft der Kinder fanden sich zahlreiche Ungereimtheiten. Kaum jemand fragte nach. Manche Beamte adoptierten sogar selber Kinder.
Die Recherchen zu Sri Lanka zeigten nur einen kleinen Ausschnitt aus einer problematischen Praxis, halten die Forscherinnen fest. In jener Zeit seien tausende Kinder aus andern asiatischen und südamerikanischen Ländern adoptiert worden, teilweise über die gleichen Vermittlungsstellen. Eine umfassende historische Aufarbeitung zu den Auslandadoptionen sei deshalb dringlich. Weitere Aufklärung sowie umfassende Unterstützung fordert auch der von Adoptierten aus Sri Lanka gegründete Verein «Back to the Roots». Zudem wünschen die Betroffenen sich eine Entschuldigung und Wiedergutmachung für das erfahrene Unrecht.
Beobachter-Mitglieder erhalten mit dem Merkblatt «Adoption» eine Übersicht, welche Voraussetzungen für eine Adoption erfüllt sein müssen und wirft Fragen auf, mit denen sich Eheleute, Konkubinatspaare und eingetragene Partner beschäftigen sollten.