Das Kind auf dem Papier
Vom ersten Gekritzel bis zur komplexen Bildergeschichte: Kinderzeichnungen faszinieren. Und widerspiegeln direkt die Entwicklung des Kindes.
Veröffentlicht am 3. August 2009 - 17:22 Uhr
Die meisten Kinder beginnen etwa im Alter von einem Jahr mit dem Zeichnen. Die ersten Kritzeleien entstehen aus zufälligen Bewegungen mit einem Stift auf einer Unterlage. Zunächst durchläuft jedes Kind eine ähnliche zeichnerische Entwicklung: Gemäss Untersuchungen finden sich selbst bei Kleinkindern aus völlig verschiedenen Kulturen keine Unterschiede. Punkt für Punkt, Linie für Linie probieren es die kleinen Zeichner und beginnen bald einmal, das entstandene Bild mit der sichtbaren Wirklichkeit zu vergleichen. Eigentlich wollen sie einfach das zum Ausdruck bringen, was sie interessiert: zum Beispiel eine farbige Fläche, einen Bagger oder einen Wasserfall.
Später werden die Zeichnungen immer individueller. Ausschlaggebend dabei sind unterschiedliche motorische und geistige Fähigkeiten sowie Interessen. Kinder zeichnen gern, solange sie nicht an ihren eigenen oder fremden Ansprüchen scheitern. Das Zeichnen eines Kindes hat nichts mit Kunst zu tun – das geht gern vergessen. Dafür umso mehr mit Neugier und Lust, etwas darzustellen.
Die Altersangaben bei den hier dargestellten zeichnerischen Entwicklungsphasen sind ungefähre Werte, sie können von Kind zu Kind stark variieren. Ausserdem kommt es oft vor, dass ein Kind eine Phase überspringt.
Mit etwa vier Monaten kann ein Kind greifen. Bald schon hantiert und schmiert es spielerisch mit allen möglichen Materialien und Gegenständen.
Nelson, 18 Monate: Im Alter von etwa einem Jahr beginnt das Kind mit Kritzeln, zufällig, aus Freude an der Bewegung. Dann entdeckt es den Zusammenhang zwischen seinem Tun und der entstandenen Spur: Es bewirkt etwas mit dem Stift. Vom Schultergelenk ausgehende Bewegungen führen zu absichtslosen Strichen (sogenanntes Hiebkritzeln, etwa zwischen 12 und 16 Monaten). Danach kommt es zu Bewegungen aus dem Ellbogengelenk: dichte Strichlagen (sogenanntes Schwingkritzeln, etwa zwischen 16 und 22 Monaten).
Mit etwa anderthalb Jahren gibt es erste Hinweise auf einen Inhalt des Gekritzels. Die Bedeutungen sind wechselnd für ein und dieselbe Zeichnung. Viele Kinder wollen bereits etwas Bestimmtes darstellen, doch motorisch sind sie dazu noch nicht in der Lage. Bewegung aus dem Handgelenk heraus führt zu knäuelartigen Spuren (sogenanntes Kreiskritzeln, ab etwa 21 bis 23 Monaten).
Nelson, 27 Monate: Gegen Ende des zweiten Lebensjahrs entstehen verschiedene Kritzelgebilde, Spiralen folgen. Einige Kinder haben bereits Lieblingsfarben.
Jolene, zweieinhalb: Um drei Jahre herum erscheinen die ersten Kopffüssler. Sie bestehen aus einem Kreis mit abstehenden oder kreuzenden Linien. Der Rumpf fehlt. Da im Kreis manchmal ein Gesicht eingezeichnet ist, gilt der Kopffüssler als erste Zeichnung mit Darstellungscharakter. Aus denselben Elementen wird oft ein Leiterschema gebildet, das Häuser, Bäume oder Wagen darstellt.
Natalja, 4 Jahre: Ab dem vierten Lebensjahr entstehen aus einer knappen Zahl von Elementen Kombinationen wie Sonne, Augen, Haare, Bauch, Baum, Haus, Mensch, Tiere. Die Figuren bekommen Attribute: Nase, Hut, Wimpern. Das Wissen, wie die Motive aussehen, ist weit grösser als die zeichnerischen Möglichkeiten. Die Darstellungen werden individueller.
Jolanda, 5 Jahre: Ende des vierten Lebensjahrs ist die Bildfläche zunehmend organisiert: rechts und links, unten und oben (sogenannte Streifenbilder mit Bodenlinie und eventuell Himmelslinie). Die dargestellten Gegenstände stehen in Beziehung zueinander. Es gibt hinter der Zeichnung eine Handlungs- und Erzählstruktur, die Bilder sind vermehrt situationsgebunden. Typisch sind die schrägen Kamine.
Jeannine, 7 Jahre: Die Entwicklung von Motiven und Bildorganisation ist etwa mit sieben Jahren abgeschlossen, man spricht von «Werkreife». Dennoch wird die Zeichnung noch reicher an individuellen Details. Die Kinder können die Darstellung bewusst steuern: Die Zeichnung ist also nicht mehr so spontan wie zuvor. Typisch sind «Röntgenbilder»: Sichtbare und unsichtbare Bildebenen werden übereinandergelegt – ein Haus etwa ist von aussen abgebildet, zugleich sieht man, was in den verschiedenen Stockwerken drinnen passiert. Grösse oder Detailreichtum entspricht oft dem Stellenwert, den das Motiv für das Kind hat. «Umklappungen» treten auf: Eine Strasse wird perspektivisch von oben, daran stehende Häuser seitlich nach unten respektive nach oben geklappt gezeigt.
Carlo, 11 Jahre: Zwischen acht und zwölf Jahren gibt es grosse Lust am Detail, «uninteressante» Dinge werden weggelassen. Die Zeichnungen bilden die persönlichen Interessen des Kindes ab (Weltraumphantasien, Seeräuber, Familiengeschichten et cetera). Die Grössenverhältnisse sind realistischer. Erste perspektivische Zeichnungen, Ansichten aus der Vogelperspektive: Grundrisse von Schiffen, Festungen, Häusern und so weiter. Vorbilder aus den Medien (Comic-Motive, politische Ereignisse) werden zeichnerisch verarbeitet. Karikierende Zeichnungen, Übertreibungen kommen hinzu. Auch Schule, Kollegen und Eltern vermitteln zeichnerische Vorstellungen und Werte, die das Kind übernimmt.
Ein Forschungsteam der Zürcher Hochschule der Künste hat eine der weltweit grössten öffentlich zugänglichen Sammlungen auf dem Gebiet der frühen graphischen Äusserungen aufgebaut und im Hinblick auf Bildmerkmale und Bildentwicklung untersucht: www.scribblings.ch
Was sagen Zeichnungen über Kinder aus? Expertin Ruth Kunz wehrt sich gegen an den Haaren herbeigezogene Deutungen.
Beobachter: Warum zeichnen Kinder?
Ruth Kunz: Wenn ein Kleinkind merkt, dass seine Bewegungen eine Spur hinterlassen, ist das eine grossartige Erfahrung. Es bewirkt mit seiner Handlung etwas. Und es kann durch dieses Gekritzel bereits kommunizieren, denn selbst wenn es noch nicht spricht, reagieren die Eltern auf das Gezeichnete, und es entsteht ein Dialog. Kleine Kinder erklären ihre Zeichnungen übrigens auch oft ihren Kuscheltieren. Sie merken, dass das, was sie beschäftigt, zwar nicht da ist, durch das Gezeichnete aber symbolisch trotzdem vorhanden ist. So entwickelt das Kind bereits vor dem ersten Wort ein Bildverständnis und lernt, zwischen Sprache, Bild und Wirklichkeit zu unterscheiden.
Beobachter: Zeichnen alle Kinder dieser Welt gleich?
Kunz: Im Kritzelstadium wohl schon, danach spielt die kulturelle Prägung mit hinein. Die bei uns übliche Zentralperspektive etwa ist eine sehr westliche Art und Weise, den Raum darzustellen. Und natürlich spielt auch eine Rolle, ob und wann ein Kind überhaupt Gelegenheit zum Zeichnen hat, also ob es all die handlungsorientierten und wahrnehmungsbedingten Erfahrungen machen kann, um über die ersten Phasen hinauszukommen.
Beobachter: Gibt es auch Unterschiede zwischen dem Zeichnen von Mädchen und Buben?
Kunz: Das Zeichnen an sich ist nicht unterschiedlich, aber oft die Art und Weise, wie sie die Welt sehen und erleben. Spätestens im Kindergartenalter zeigen sich diese Unterschiede auch in den Zeichnungen, denn Buben und Mädchen machen andere lebensweltliche Erfahrungen: Viele Buben lieben räumliche Darstellungen und Action. Mädchen hingegen sind näher am Körper, zeichnen ornamentaler und malen mehr aus; die Farbigkeit ist wichtig. Ihre Zeichnungen sind oft atmosphärischer. Buben legen Wert auf Coolness. Auch mediale Vorbilder hinterlassen Spuren – bei beiden Geschlechtern.
Beobachter: Kann man Kinderzeichnungen psychologisch interpretieren?
Kunz: Das ist schwierig und oft auch verfehlt. Die Kinderzeichnung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark romantisiert und später auch psychologisiert. Bis heute hält sich der Irrtum, Störungen, Konflikte bis hin zu sexuellem Missbrauch liessen sich an Kinderzeichnungen ablesen. Nicht gezeichnete Hände würden beispielsweise eine Handlungsunfähigkeit des Kindes anzeigen. Oder wenn ein Kind mit Schwarz zeichne, gehe es ihm nicht gut. Solche Interpretationen greifen zu kurz und sind problematisch.
Beobachter: Kann man also gar nichts erschliessen aus den Zeichnungen?
Kunz: Bilder enthalten einen zeichnerischen und erzählerischen Reichtum, das genügt eigentlich schon. Psychologisch wie bildnerisch gesehen ist der Akt des Zeichnens mindestens so interessant wie das Produkt Zeichnung. Doch auch Beobachtungen des zeichnerischen Prozesses müssen unbedingt in einem weiteren Zusammenhang betrachtet werden.
Beobachter: Weshalb hören viele Kinder im Schulalter mit dem Zeichnen auf?
Kunz: «Ich kann das nicht» meinen viele, wenn sie nicht naturalistisch zeichnen können. Kinder, die etwa an der Perspektive scheitern, schämen sich, weil sie ihrem eigenen Anspruch nicht genügen. Vielleicht könnte aber der Umgang mit anderen Medien, etwa Fotografie, den Kindern helfen, experimentierfreudiger zu werden. Damit sie sich in ihren Ausdrucksmöglichkeiten wieder bestätigt fühlen und erleben, wie sie etwas zu bewirken vermögen, das andere mitvollziehen können. Es geht ja eigentlich auch gar nicht nur ums Zeichnen, sondern um die gestalterische Fähigkeit an sich.