Die meisten Schulkinder freuen sich auf die Pause. Bei Andrea Lanfranchi war das anders. Weil dann nur eines zählte: Fussball spielen. Das aber konnte er nicht. Bei der Auswahl der Mannschaften war er die Niete, die keiner ziehen wollte. «Ich musste mir auch anhören, wie die Gspäändli zueinander sagten: ‹Okay, dann nehmen wir eben Andrea, letztes Mal hattet ihr ihn ja. Andrea, steh ins Tor!›»

Heute ist Andrea Lanfranchi 52 Jahre alt. Und – man kann es Ironie des Schicksals nennen – Kinder- und Jugendpsychologe. «Solche Pausenplatzerlebnisse können alles andere als förderlich sein für die gesunde Entwicklung eines Kindes», sagt er. Zumal einige Kinder das Stigma des Verlierers in der Schule nicht loswerden und sich auch allgemein sozial ausgeschlossen fühlen.

Partnerinhalte
 
 
 
 

Aber: Lanfranchi weiss aus eigener Erfahrung, dass Schwächen auf einem Gebiet oft mit Kompetenzaufbau anderswo ausgeglichen werden. «Ich konnte gut Klavier spielen und schrieb schöne Aufsätze.» Das habe ihm auch Bewunderung eingebracht – und Freunde. «Es gibt das Sprichwort: ‹Durch Schaden wird man klug.› Hier könnte man sagen: ‹Schwächen können stärken.›»

Wie sollen Eltern aber auf Schwächen ihrer Kinder reagieren? Genügt Trost bereits, um den Andreas dieser Welt Mut zu machen? Oder wäre Spezialtraining angezeigt? Oder sollen Eltern gar die fiesen Pausenhofgspäändli ins Gebet nehmen? Davon rät Andrea Lanfranchi ab. «Fussball ist ein Mannschaftssport, und entweder ein Kind spielt gern und gut und kann mitmachen – oder eben nicht.» Hat das Kind aber grosses Interesse am Fussball und möchte besser werden: Warum nicht für Unterstützung sorgen? «Gehen Sie regelmässig mit ihm spielen. Vielleicht können Sie es in anderen, ihm besser behagenden Sportarten physisch und psychologisch stärken und ermuntern», rät er betroffenen Eltern.

Was dich nicht umbringt, macht dich stärker. Verlieren im Spiel wappnet die Kinder fürs Leben. Doch: Für das Leben gerüstet sind wir, wenn wir ein gesundes Selbstwertgefühl haben. Dazu gehört das Erleben von Grenzen, von Scheitern; dazu gehören aber auch Erfolgserlebnisse. Dauernd zu verlieren entmutigt Kinder und raubt ihnen die Lust, sich anzustrengen.

Doch genauso langweilig ist es, dauernd zu gewinnen. Zudem verführt immerwährender Erfolg dazu, sich selbst zu überschätzen. Von dieser Sorte «selbstgefälliger Siegertypen» gebe es leider sehr viele, «und das sind sehr unangenehme Zeitgenossen», meint Gerald Hüther. Der Göttinger Hirnforscher und Autor des Buchs «Wie aus Kindern glückliche Erwachsene werden» plädiert deshalb für «den gesunden Mittelweg». Ohnehin komme es bei Wettbewerbsspielen nicht so sehr aufs Gewinnen oder Verlieren an. «Wichtig ist die Erfahrung, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben und zu lernen, Frustrationen auszuhalten.» Und vor allen Dingen: dass Kinder durch die Reaktionen ihrer Eltern erleben, wie man mit Erfolgen und Misserfolgen umgeht.

Und dann das Drama im Pyjama

Das klingt vernünftig – in der Theorie. Doch nehmen wir folgende Situation: Es ist 19 Uhr, nach dem Abendessen, die Kinder wünschen sich noch ein letztes gemeinsames Gesellschaftsspiel. Es dauert länger, die Kinder werden müde und quengelig – zu allem Übel zeichnet sich auch noch ab, dass die Tochter verlieren wird. Ein Drama im Pyjama ist programmiert. Soll man sie nun gewinnen lassen? Oder tut man ihr einen Gefallen, wenn man das Spiel mit aller Konsequenz durchzieht? Oder soll man um diese Uhrzeit generell auf derartige Spiele verzichten? Hier scheiden sich auch unter Experten die Geister. «Ganz klar die Tochter gewinnen lassen», sagt Andrea Lanfranchi. Seine Begründung: Eltern hätten in diesem Fall gar keine Möglichkeit, auf das Drama einzugehen, das Kind zu trösten und zu warten, bis es sich beruhigt hat, und dann eventuell nochmals zu spielen.

«Spiel abbrechen», meint dagegen Yves Hänggi vom Institut für Familienforschung und -beratung der Uni Freiburg. Denn, so fragt Hänggi, selbst Vater zweier kleiner Kinder: «Was lernt das Mädchen, wenn man das Drama in Kauf nimmt? Dass Spielen eine negative Konsequenz hat.» Die Stimmung wäre im Eimer – «das gäbe dem geselligen Spiel einen bitteren Nachgeschmack. Das wäre schade.»

Hirnforscher Gerald Hüther schiebt den Schwarzen Peter den Eltern zu: «Diese Situation kann sich nur deshalb so entwickeln, weil die Eltern vorher nicht richtig nachgedacht haben. Aber dazu haben wir ja unser Gehirn: um vorausschauend zu denken und absehbare Krisensituationen zu vermeiden.»

Die gleichen Fehler machen wie das Kind

Einig sind sich die Experten darin, dass Eltern das Kind im Spiel durchaus einmal absichtlich gewinnen lassen dürfen. «Denn verlieren werden die Kinder in ihrem Leben noch genug – ob sie wollen oder nicht», sagt Psychologe Hänggi. Und ein Sieg gegen einen vermeintlich überlegenen Gegner tut gut. Dieses Gefühl dürfen Eltern ihren Kindern also ruhig ab und zu gönnen. Wichtig ist nur, dass sich Eltern dabei nicht allzu tölpelhaft anstellen. Kinder sollen nämlich nicht merken, dass ihnen der Sieg geschenkt wurde.

Hänggi verrät dazu seinen persönlichen Trick: «Ich mache die gleichen Fehler wie meine Kinder, dann merken sie es nicht.» Das kann heissen: Man wählt bei «Eile mit Weile» bewusst eine schlechtere Strategie, nimmt beim «Uno» eine Karte auf, obwohl man nicht müsste, oder steht auf dem Fussballplatz mal gar breitbeinig da, um sich vom Kleinen einen Tunnel schieben zu lassen. Oder man spielt ganz einfach «Memory»: Da trocknen bereits die Kleinsten die Grossen leicht ab.

Spiele sind ein sozialer Tanz, sagt Andrea Lanfranchi. Doch nicht alle Kinder – und bei weitem nicht alle Erwachsenen – ertragen es, wenn man ihnen dabei auf die Füsse tritt. Es gibt diverse Gründe dafür, wenn ein Kind nicht verlieren kann: Es ist überfordert und unfähig, Schwächen zu zeigen. Oder es kann sich schlecht einschätzen und fühlt sich ungerecht behandelt. Oder es wähnt sich generell im Zentrum wenn nicht gleich des Universums, dann doch zumindest der Familie. Und wird insofern dominant und kann sich nicht an Regeln halten.

Für ein Trauma braucht es mehr

Doch die Ursache für Wutausbrüche ist nicht ausschliesslich beim Kind zu suchen. «Es kann auch an den Reaktionen und Botschaften der Mitspieler liegen», meint Lanfranchi. Konkret: Wenn die Tochter bei «Mensch ärgere dich nicht» ausflippt, weint und strampelt, können die Eltern ebenfalls wütend werden und sagen: «Hör auf, sonst schmier ich dir eine.» Sie können aber auch sagen: «Oha, ich verstehe, du warst so engagiert in diesem Spiel. Ich wundere mich eigentlich, dass du nicht noch viel wütender bist.» Oder noch besser: Sie sagen gar nichts, sind einfach da für ihr Kind.

Dass sich negative Spielerlebnisse im Kopf der Kinder eingraben und ein veritables Trauma hinterlassen, brauchen Eltern nicht zu fürchten. «Negative Erfahrungen beim Spielen können ungünstig sein, das Selbstvertrauen untergraben, die Lust rauben oder wütend machen. Aber traumatisieren kann etwas nur, wenn es das Leben bedroht», so Hirnforscher Hüther.

Wichtiger als Wettbewerbsspiele sei ohnehin das entspannte Spielen allein oder mit anderen Kindern: «Da lernt man alles, was man später im Leben braucht.» Wenn Kinder nicht mehr unbefangen, ohne Ziel und ohne Absicht, spielen könnten, seien sie krank. «Oder wir haben ihnen mit unseren Absichten, Vorstellungen und Förderungsbemühungen die Lust am Spielen verdorben – und damit auch die Freude am eigenen Entdecken und Gestalten. Das wäre dann», betont Gerald Hüther, «kein Trauerspiel, sondern ein Drama.»