Frauenhäuser rüsten sich für die Krise
Institutionen, die sich um Menschen in Not kümmern, verzeichnen mehr Anfragen. Die häusliche Gewalt werde in der Corona-Krise zunehmen, sagen die Betreiber.
Veröffentlicht am 19. März 2020 - 15:58 Uhr
Seit die Menschen zuhause bleiben müssen, kursiert auf Facebook ein Meme. Es zeigt einen Screenshot aus dem Film «Shining»: Eine dreiköpfige Familie auf dem Weg zu einem verlassenen Hotel in den Bergen, mehrere Monate Abgeschiedenheit. Unter dem Bild steht: «Home Office, allein mit der Familie. Was soll dabei schon schiefgehen?»
So ziemlich alles. Wer den Film gesehen hat, fürchtet dessen Ende: Der Vater, gespielt von Jack Nicholson, geht mit der Axt auf seine Frau uns sein Kind los. Ein fiktives Szenario, klar, basierend auf dem Roman von Stephen King aus dem Jahr 1977. Doch Experten sind sich einig: Quarantäne hat einen negativen Einfluss auf die Psyche.
Ende Februar hielten Ärzte vom Londoner King’s College in einem wissenschaftlichen Bericht fest: Isolation kann posttraumatische Belastungsstörungen verursachen, Verwirrung und Wut auslösen. Die Forscher haben 3166 Arbeiten zum Thema ausgewertet und ihre Ergebnisse in der renommierten Fachzeitschrift «The Lancet» publiziert. Stressfaktoren seien eine lange Dauer der Quarantäne, Infektionsängste, Frust, Langeweile, Versorgungsengpässe, mangelnde Informationen, finanzielle Sorgen.
Markus Noser leitet ein Beratungsteam der Frauenzentrale Zug. Derzeit unter erschwerten Bedingungen. Persönliche Kontakte werden auf ein Minimum reduziert, geholfen wird wenn möglich am Telefon. Er sagt: «Wir stellen uns auf einen Marathon ein.» In den eigenen vier Wänden, isoliert von der Aussenwelt, drohe Vereinsamung und Verzweiflung, die Konflikte würden zahlreicher und die häusliche Gewalt nehme zu. «Ich bräuchte jetzt schon zehn Hände und zwanzig Ohren.»
Sämtliche vom Beobachter angefragten Institutionen, die sich um Menschen in Krisensituationen kümmern, bereiten sich derzeit auf eine ungewisse Zukunft vor. Es sei noch zu früh, um die Folgen für ihre Klientel abzuschätzen, heisst es unisono, doch rechnet man überall mit einem Anstieg der Anfragen und Fallzahlen.
Die Telefonseelsorge «Dargebotene Hand» führt seit März eine Statistik. «Der Anstieg ist enorm», sagt Geschäftsleiterin Sabine Basler. Zum Beispiel hat die Regionalstelle Waadt letzte Woche eine Steigerung der Anrufe um 60 Prozent erlebt. Gesamtschweizerisch wurden in den letzten 15 Tagen 1720 Gespräche zum Thema Coronavirus verzeichnet. «Die Belastung ist sehr gross. Die Leute haben zum Teil Panik, sehen sich in ihrer Existenz bedroht, oder haben Fragen zur Alltagsbewältigung. Auch Einsamkeit ist ein Thema.»
Derzeit nehmen 670 Freiwillige in allen Landesteilen Anrufe über die Nummer 143 entgegen. Die Mehrheit gehört zur Altersgruppe 65 plus. Rentner, die nun, da sie ihre Enkel nicht mehr treffen dürfen und auf soziale und kulturelle Aktivitäten verzichten müssen, mehr Zeit zur Verfügung haben als sonst. Basler sagt: «Die Hilfsbereitschaft ist riesig, viele melden sich für zusätzliche Schichten.» Auch ehemalige Freiwillige böten ihre Hilfe an. «Wir sind bereit und werden unsere Kapazitäten in den nächsten Wochen ausbauen.»
Auch in den Frauenhäusern laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. «Es muss gewährleistet bleiben, dass Frauen, die geschützt werden müssen, einen Platz bekommen», sagt Brigitte Kissling, Stiftungsrätin des Frauenhauses Aargau-Solothurn. Die Krise dürfe kein Grund sein, jemanden abzulehnen. Die Stiftung betreibt drei Häuser, eines davon ist nun reserviert für Frauen mit Verdacht auf eine Virusinfektion. Es liege auf der Hand, sagt Kissling, dass die gegenwärtige Gesundheitskrise zu mehr Eskalationen im häuslichen Umfeld führen werde. «Alles spitzt sich zu: Die Unsicherheit, finanzielle Nöte, Probleme, die durch Alkoholmissbrauch verursacht werden.»
Marlies Haller, Geschäftsführerin der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern, sagt: «Wir befinden uns in einem Zweifrontenkrieg. Gegen Gewalt und gegen das Virus.» Die Frauenhäuser hätten grundsätzlich Platzprobleme, die Krise verschärfe nun diese Situation. In Bern und Thun würden in den Frauenhäusern Zimmer freigehalten für Corona-Infizierte und ihre Kinder.
Bei der Opferhilfe Bern entwickelt man Szenarien für den Fall, wenn die Frauenhäuser an ihre Kapazitätsgrenze stossen sollten. Im äussersten Notfall erwägt man, Hotels anzufragen, die wegen der Krise geschlossen haben. «Verbringen die Menschen mehr Zeit miteinander auf engem Raum, steigt das Konfliktpotenzial», sagt Stellenleiterin Pia Affolter. Sie rechnet wie ihre Kolleginnen mit einem Anstieg der Anfragen in den nächsten Tagen und Wochen. Gleichzeitig geht sie davon aus, dass in anderen Bereichen weniger Arbeit für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anfallen wird. «Da die Leute nicht mehr in den Ausgang können, kommt es zu weniger Schlägereien, und auch die Verkehrsunfälle gehen vermutlich zurück, wenn weniger Menschen unterwegs sind.»