«Ich werde kämpfen – oder sterben»
Eine emanzipierte Kosovarin heiratet einen Landsmann und zieht zu ihm in die Schweiz. Als die Ehe scheitert, ist sie mit der tödlichen Tradition ihrer Vorväter konfrontiert.
Veröffentlicht am 2. August 2018 - 17:36 Uhr,
aktualisiert am 2. August 2018 - 17:30 Uhr
«Es muss Blut fliessen», sagte der Vater von Besa Berisha* seiner Tochter am Telefon. So wolle es der Rat der Ältesten, so wolle es der Kanun, das albanische Gewohnheitsrecht. Aug um Aug, Blut um Blut.
Begonnen hat es wie viele Geschichten im heissen kosovarischen Sommer. Auch 2011 war das Land voll mit «Schatzis» – Schweizern und Deutschen mit kosovarischen Wurzeln, die hier ihre Ferien verbringen. Darunter eine Frau aus dem Schweizer Mittelland. «Meine Schwester hat einen Sohn, der eine Frau sucht. Eine wie dich», sagte sie zu Besa. Schön solle sie sein, gebildet und selbständig.
Besa, die in der Hauptstadt Pristina aufgewachsen ist, war gerade 22 geworden. Sie lehnte ab. Für Männer hatte sie keine Zeit. In Kürze würde sie ihr zweites Studium abschliessen, und sie hatte bereits einen guten Job im Ministerium für Jugend und Sport. Sie fuhr Auto, reiste. Keine Selbstverständlichkeit für eine junge Kosovarin. Und schon gar nicht für Besa, die einer ethnischen Minderheit angehört, den südosteuropäischen Roma. An Konferenzen im Ausland repräsentierte sie die emanzipierte Frau.
«Ich habe keine Tochter zu verkaufen.»
Vater von Besa*
Doch die Frau mit dem heiratswilligen Neffen liess nicht locker. «Trink wenigstens einen Kaffee mit ihm», bettelte sie. Das Treffen dauerte keine halbe Stunde. Besa blieb bei ihrem Nein. Der junge Mann aber – nennen wir ihn Besnik – hatte Gefallen gefunden an der gross gewachsenen blonden Schönheit. Er schrieb ihr Nachrichten, lobte sie für ihre Intelligenz, ihren beruflichen Erfolg. Die Ablehnung bröckelte. «Vielleicht ist er genau, was ich brauche», dachte Besa.
Es verging fast ein Jahr, bis Besas Vater einwilligte, die Eltern des Mannes zu treffen. Man lud sie ein. Besa und ihre Schwestern servierten Kaffee, süssen Tee und Baklava. Der Besuch lobte das Gebäck. «Wie viel Gold, wie viele Kleider erwartet ihr zur Hochzeit?», fragte Besniks Vater. Besas Vater erwiderte: «Ich habe keine Tochter zu verkaufen.» Seine Töchter seien modern, und er wolle deswegen später keine Probleme. Besniks Eltern nickten.
«Die sind nicht gut», sagte Besas Onkel später. «Geh nicht», riet der Vater, «denn sonst gibt es kein Zurück.» – «Ich war naiv, hatte keinerlei Erfahrung in solchen Dingen», sagt die junge Frau heute. Aber sie hatte sich verliebt.
Zwei Jahre lang war das Paar verlobt, dreimal sahen sie sich kurz. Im Frühling 2014 dann die Hochzeit. Besa im weissen, schulterfreien Kleid, der Bräutigam im dunklen Anzug. Direkt nach der Feier flog Besa nach Zürich. Noch bevor sie ihren Koffer auspacken konnte, schickte die Schwiegermutter sie in die Küche. «Zieh einen langen Rock an», befahl sie, «dann erweise deinem Schwiegervater die Ehre.» Das Geld, das Besa bei sich hatte, nahm sie ihr ab.
Besa fügte sich. «Was hätte ich tun sollen?» Die Ankunft in der Schweiz war hart: Sie verbrachte ihre Tage in der Küche oder auf einem Stuhl im Wohnzimmer. Besuch kam, um sich von der Braut bedienen zu lassen, so will es die Tradition. Besa, die Muslimin, erfuhr, dass sie in eine Familie eingeheiratet hatte, die die meisten Verbote des Korans ablehnt. Alkohol gehörte zum Alltag. Ihr Mann trank mehr, als gut für ihn war. Ihrer Mutter schrieb Besa: «Die Schweiz ist schön.»
«Du siehst aus wie eine Nutte.»
Nach zwei Wochen durfte sie zum ersten Mal raus. In der Migros wiesen die Schwiegereltern sie an, hinter ihrem Mann zu gehen. Dieser trieb sich in Klubs herum, kam nicht selten erst frühmorgens heim. Beim Sex war er grob, und wenn seine Frau einen Laut von sich gab, ohrfeigte er sie. «Willst du schwatzhafte Kinder?»
Als Besnik sie eines Morgens erwischte, wie sie in Trainerhosen den Geschirrspüler ausräumte, legte er ihr die Hände um den Hals, drückte zu. «Du siehst aus wie eine Nutte.» Die Druckstellen am Hals überschminkte Besa. In kurzer Zeit nahm sie fast zehn Kilo ab. Doch dann wurde sie schwanger. Jetzt wird alles gut, hoffte sie, aber ihr Mann schien sich nicht für das Kind zu interessieren. Einmal nannte sie ihn scherzhaft «Papa». «Hör auf damit», schnauzte er.
Nach einem besonders heftigen Streit stürzte sie die Kellertreppe hinunter. Der Arzt diagnostizierte schwere Prellungen in der Lendengegend. «Du kannst mich töten», sagte sie zu ihrem Mann, «aber dein Kind stirbt mit.» Er habe sie weiter geschlagen, erzählt Besa. Im vierten Monat setzten Blutungen ein. Ihre Schwägerin begleitete sie zum Arzt: ein Sohn. Er lebte! Kurz darauf verlor Besa Fruchtwasser. Erst vier Tage später erlaubte Besnik einen weiteren Arztbesuch. «Ich kann nichts mehr tun», sagte der Arzt. Besa bekam Medikamente, die eine stille Geburt einleiteten. Die Schwägerin stand am Kopf des Bettes, die Schwiegermutter zu ihren Füssen. Besnik ging spazieren.
Auch nach fast drei Jahren fällt es ihr schwer, darüber zu sprechen. Weinkrämpfe schütteln sie, ihre Tränen bilden kleine Pfützen auf dem Tisch des Cafés. Zur Zeit der Totgeburt sprach Besa kein Deutsch. Erst viel später erfährt sie, dass der Arzt geraten hatte, die Todesursache abklären zu lassen. Ihr Mann hatte abgelehnt.
Besa flehte ihren Schwiegervater an, mit seinem Sohn zu sprechen. «Er hat unser Kind auf dem Gewissen.» Der Schwiegervater verlangte Zeit und Besas Schweigen. «Wenn du Probleme machst», drohte ihr Besnik einige Tage später, «schicken wir dich zurück.» – «Wohin?», fragte Besa. Heim, das wusste sie, konnte sie nicht.
«Du musst weg hier», sagte ihr Vater.
Besnik nahm Besa das Handy ab, fuhr mit ihr in den Kosovo. Eine Woche sollte sie bei ihren Eltern verbringen, gute Miene zum bösen Spiel machen. Er selber fuhr nach Albanien. Besa schwieg nicht. Ihre Eltern sagten: «Du hast es so gewollt.» Besa realisierte, in was für eine schwierige Situation sie ihre Familie gebracht hatte. «Was ist mit eurer Tochter?», fragten Verwandte. «Wieso ist sie nicht bei ihrem Mann?»
In den Akten, die Besa später der Polizei übergeben wird, steht, dass sie im August 2015 versucht hat, sich umzubringen. In der Klinik diagnostizierte man «einen depressiven Zustand schwerer Natur». «Du musst weg hier», sagte der Vater. Ihr Bruder steckte ihr heimlich Geld zu für ein Rückflugticket in die Schweiz. Das hiesige Frauenhaus nahm sie nicht auf, die Opferhilfe konnte nichts für sie tun .
Später werden die Richter sagen, sie hätte ihre Verletzungen fotografieren und gegen ihren Mann Strafklage einreichen müssen. Besa findet bei der Freundin einer Cousine Unterschlupf. Im November 2015 rief Besnik bei der Gemeinde an und meldete, er lebe von seiner Frau getrennt.
«Was ist mit Besa?», fragten daheim im Kosovo Verwandte und Bekannte. Der Rat der Ältesten kam zusammen und beriet die Situation im Haus Berisha. So will es der Kanun, das «Lek Dukajin». Wenn es um Fragen der Familie geht, spielt das Gewohnheitsrecht aus dem 15. Jahrhundert in Albanien und Teilen Kosovos bis heute eine Rolle. Wem die Ehre geraubt wird, der soll vergeben oder sein «schwarzes Gesicht» der Unehre wieder reinwaschen.
Der Kanun besagt: Eine verheiratete Frau, die allein lebt, bringt Schande über ihre Familie. Ein Mann darf zwar seine Frau entlassen, aber nur, wenn er das begründen kann. Falls der Mann seine Frau verletzt und diese sich bei ihren Eltern beklagt, ist er verpflichtet, diesen Rechenschaft zu geben.
Besnik weigerte sich, an der Urteilsverkündung teilzunehmen. Er schickte einen Onkel. «Sie hat nicht gestohlen, nicht betrogen, am Tod des Sohnes trifft sie keine Schuld», verkündeten die alten Männer. «Sie gehört zu ihrem Mann.» Wenn er sie nicht zurücknehme, sei es an Besas Familie, die Ordnung wiederherzustellen. Besnik rief Besa an: «Du beugst dich, oder du bleibst.» Besa sagte, sie ertrage keine Schläge mehr und wolle arbeiten gehen. «In meinem Haus machst du keine Regeln», entgegnete der Mann, der ihr einst so schöne Komplimente gemacht hatte.
Besa schlief nicht in dieser Nacht. Sie wusste, dass sie eine Blutfehde anzettelte zwischen den Familien, wenn sie sich verweigerte. Sie wusste aber auch, dass sie so nicht leben konnte. Ein muslimischer Seelsorger half ihr. Sie fand eine Stelle, eine Wohnung. Bald sprach sie fliessend Deutsch, der Chef offerierte eine Weiterbildung. Das änderte nichts am Druck, der auf ihrem Vater und ihren Brüdern lastete.
Im März 2016 meldete sich Besnik bei der Schweizer Polizei. Er fühle sich von den Verwandten seiner Frau bedroht. Besa flehte ihren Bruder an: «Lasst es ruhen.» – «Das liegt nicht in unserer Hand», entgegnete der.
Ein paar Mal parkte nachts ein Auto vor Besas Wohnung. Darin sassen Verwandte ihres Mannes. Vor kurzem bekam sie das Scheidungsurteil zugeschickt. Sie müsse, schrieben die Richter, die Schweiz verlassen. Die Ehe sei zu kurz gewesen, um ein Bleiberecht zu erwirken . «Die Ehe mag kurz gewesen sein», sagt sie unter Tränen. «Für mich hat sie 100 Jahre gedauert.»
In den Kosovo zurück kann Besa nicht. Nicht als Geschiedene, als eine, die sich dem Urteil des Ältestenrats widersetzt hat. «Die Zeiten haben sich geändert», schreibt sie ihrem Vater. Er antwortet nicht. Sie hat keinen Plan für den Moment, wenn die Beamten vor ihrer Wohnung stehen werden. «Ich werde kämpfen. Oder sterben.»
Ihr Exmann habe kürzlich eine neue Frau in die Schweiz gebracht, erzählt sie. Sie sei 18 Jahre alt und stamme aus einer abgelegenen Gegend in Albanien.
* Name geändert
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