«Wie schützen wir die Kinder?»
Frage: «Meine Frau und ich stehen nach neun Jahren Ehe vor der Scheidung. Unsere Kinder sind drei, sieben und acht Jahre alt. Wie verhindern wir, dass sie seelischen Schaden nehmen?»
Veröffentlicht am 16. März 2016 - 11:47 Uhr
Antwort von Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin:
Alle Kinder haben Angst davor, dass die Eltern sich trennen. Wenn diese sich scheiden lassen, sind die Kinder unglücklich und verunsichert. Das ist einfach so.
Das heisst aber nicht automatisch, dass Scheidungskinder dauerhaft Schaden nehmen oder zu unglücklichen und nicht beziehungsfähigen Erwachsenen werden.
Diese Gefahr besteht nur, wenn Eltern in einer solchen Situation so sehr mit sich selbst beschäftigt sind, dass die elementaren Bedürfnisse der Kinder vergessen gehen.
Heutzutage brechen so viele Familien auseinander und formieren sich neu, dass es kaum noch eine gesellschaftliche Stigmatisierung gibt, unter der Eltern und Kinder zu leiden haben. Trotzdem ist eine Trennung verbunden mit Kränkungen und mit einer Veränderung des täglichen Gefüges. Um zu verhindern, dass Kinder über die Massen belastet werden, ist es sinnvoll, die Situation auch einmal aus der kindlichen Perspektive zu durchdenken.
«Eltern sollten die Kinder nicht aus einem Schuldgefühl heraus verwöhnen.»
Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin
Das Kind verliert nicht weniger als «seine bisherige Welt» und meist die tägliche Nähe zu einem Elternteil. Es verliert die Sicherheit, dass die Eltern da sind und immer da sein werden. Wenn einer geht, geht der andere dann auch? Worauf ist noch Verlass?
Viele Kinder fühlen sich zudem schuldig an den Konflikten in der Familie. Sie glauben, dass sie durch schwieriges Verhalten den Bogen überspannt hätten und deshalb die Eltern nun genug hätten und sich trennen.
Ein weiterer Faktor, der es Kindern schwer macht: Sie sind sehr empfänglich für die Not und Bedürftigkeit der Eltern und nehmen Rücksicht, zeigen angepasstes Verhalten, solange es geht, und machen ihre eigene Not mit sich selber aus, um die angeschlagenen Erwachsenen nicht zusätzlich zu belasten.
Aber: Auch Eltern geraten nun mal in Situationen, in denen eine Trennung notwendig und richtig ist. Es gibt dann keine Möglichkeit, «den Kindern zuliebe» so zu tun, als ob die Liebe fortbestünde und alles in Ordnung wäre.
Wie kann man nun trotz Trennung die Bedürfnisse der Kinder nach Verbindlichkeit und Geborgenheit sicherstellen? Worauf sollte man achten?
Akzeptieren Sie, dass das Kind die Trennung nicht will. Respektieren Sie heftige Gefühle wie Wut, Trauer und pure Verzweiflung, die Sie als Eltern auslösen, und seien Sie bereit, diese auszuhalten. Wenn das Kind genötigt wird, Ihre Beweggründe zu verstehen und die Trennung als vernünftig und nötig anzuerkennen, ist es doppelt gestraft.
In zwei grossen US-Studien wurden Scheidungskinder über Jahrzehnte beobachtet; dabei hat man folgende «Schutzfaktoren» herausgefunden:
- Eltern müssen nach der Trennung verlässliche Eltern sein, mit deren Fürsorge und Schutz die Kinder rechnen können, egal, was passiert.
- Eltern, die das aufgrund ihrer psychischen Belastung und Überforderung nicht leisten können, sollten soziale und/oder therapeutische Hilfe annehmen, bis sie mit der neuen Situation angemessen umgehen können.
- Kinder brauchen rasch eine klare, verlässliche Alltagsstruktur, in der sie sich aufgehoben fühlen. Kinder möchten nicht nur hören, dass sie weiterhin geliebt werden, sie müssen es spüren (gemeinsame Zeit im Alltag).
- Eltern müssen sich vor den Kindern nicht übertrieben harmonisch zeigen, offenen Streit und Beschimpfungen aber unbedingt vermeiden.
- Eltern sollten die Kinder nicht aus einem Schuldgefühl heraus verwöhnen.
- Kinder bleiben Kinder und werden durch eine Trennung nicht zu Partnern.
- Bewertung: eine Scheidung nicht nur als Scheitern (negativ, Versagen) ansehen, sondern als neue Situation (enthält Schwieriges und Positives).
Fazit: Eine Trennung ist ein anspruchsvoller Prozess, der keine bleibenden Schäden hinterlassen muss. Die Grundbedürfnisse der Kinder müssen auch (und gerade) in Krisenzeiten Priorität haben. Die Verantwortung dafür tragen beide Elternteile.
Buchtipp
Remo H. Largo, Monika Czernin: «Glückliche Scheidungskinder. Was Kinder nach der Trennung brauchen»; Piper, 2015, 352 Seiten, CHF 17.90.
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