Nach vier Wochen war das Kind da
Wie kann eine Frau nicht erkennen, dass sie ein Kind in sich trägt? Betroffene werden als Lügnerinnen bezeichnet. Dabei kann es jeder passieren.
Veröffentlicht am 14. Oktober 2019 - 10:07 Uhr
Sie hatte einen Verdacht. Ein mulmiges Gefühl. Corina Frei* war 21, als sie ihrem eigenen Körper gegenüber misstrauisch wurde. An einem Wintertag im Dezember 2012, kurz vor Weihnachten. Sie sass allein im Büro, die Mitarbeiter bereits weg, draussen wurde es langsam dunkel. «Und dann spürte ich diese Regungen in meinem Bauch.» Sie fasste sich an den Unterleib und fühlte die Bewegungen. Unheimlich unregelmässig. Die Hände wurden schweissig, das Herz raste. «In diesem Moment ergab plötzlich alles Sinn: die Schmierblutungen der letzten Monate, die Krämpfe im Bauch, die Übelkeit.» Es gab keine Ausreden mehr. Kein Blinddarm, kein schlechtes Essen. «Schwanger sein? Das war keine Option. Nicht jetzt. Nicht so.»
Die Monate davor hat sie gelebt, die junge Frau, das Leben in vollsten Zügen genossen. «Schon ziemlich wild», erzählt sie. Partys, Alkohol, Zigaretten. Ihre Lockenmähne entzückte die Männer, sie war schön, sie war begehrt. Und das Leben umarmte sie geradezu. «Ich zog nach Bern zu meinem neuen Freund.» Ein blonder Sonnyboy. «Wir waren verliebt.» Das Leben fing erst richtig an. Aber das Strampeln im Bauch. «Plötzlich hatte ich diese Scheissangst.»
Ein erster Versuch, Klarheit zu finden, scheiterte an diesem dunklen Abend in der Frauenklinik Bern. «Ich ging rein, setzte mich ins Wartezimmer. Aber ich brachte kein Wort über die Lippen.» Sie lief wieder raus, ohne mit jemandem gesprochen zu haben. Am nächsten Tag rief sie dann an: «Ich glaube, ich bin schwanger.» Zum ersten Mal ausgesprochen – «ich brach in Tränen aus».
Ultraschall, Abtasten und Messungen der Frauenärztin brachten am selben Tag Gewissheit: schwanger im achten Monat. Und das Leben prallte mit voller Wucht auf sie.
«Mein erster Gedanke war: Was habe ich diesem Kind angetan?» Erinnerungen an die letzten Monate brausten an ihr vorbei, die durchzechten Nächte, der Kater am nächsten Morgen. «Würde ich überhaupt ein gesundes Kind zur Welt bringen? Und wie konnte ich nicht merken, dass ich schwanger bin?»
Das medizinische Phänomen heisst Gravitas suppressalis, verdrängte Schwangerschaft. Davon spricht man, wenn eine Frau bis mindestens zur 20. Woche nicht merkt, dass sie schwanger ist – wenn es für einen Abbruch bereits zu spät ist.
Corina Frei verhütete mit der Pille
. Sie hatte ihre Tage, «Zwischenblutungen, was ich für normal hielt». Morgens hing sie nie über der Kloschüssel. «Mir war nur
übel, wenn ich das schlechte Parfüm des Mitarbeiters im Büro roch.» Auch ihr Freund bemerkte nichts – «und er hat mich nackt gesehen». Sie hatte zwar ein paar Kilos mehr auf den Hüften, einen runderen Po, was ihr gefiel, aber keinen Babybauch. «Der kam quasi über Nacht, als ich mich meiner Mutter anvertraute.»
50 Frauen jährlich erfahren in der Schweiz erst bei der Geburt, dass sie schwanger waren.
Der ganze psychische Druck fiel an diesem Abend von ihr ab. «Es war, als dürfte mein Körper nun zugeben, dass in mir etwas heranwächst.»
Kaum jemand glaubt, dass eine Frau so etwas nicht merkt, dass sie alle Symptome komplett falsch deutet. Das kann so weit gehen, dass Frauen als Lügnerinnen abgestempelt werden. «Dabei sind wir Menschen Meister im Verdrängen», sagt Sibil Tschudin, leitende Ärztin für gynäkologische Sozialmedizin und Psychosomatik am Unispital Basel. «Und das ist bei der verdrängten Schwangerschaft der zentrale Punkt: Was nicht sein darf, das kann nicht sein.»
Die Psyche steuert den Körper. Wenn eine Frau nicht damit rechnet, schwanger zu sein, werden alle Anzeichen anders interpretiert und die Symptome von der Psyche schliesslich so stark unterdrückt, dass eben kein Babybauch wächst, die Periode weiterhin kommt. Corina Frei ist eine von 160 Frauen jährlich, denen das passiert. «Bei einem Drittel der Fälle wird die Diagnose sogar erst bei der Geburt gemacht», sagt Sibil Tschudin. «Es gibt wohl keine Gynäkologin, die nie diese Erfahrung gemacht hat.»
«Als ich damals vor sieben Jahren bei der Ärztin lag und sie sagte, dass ich schwanger bin, dachte ich, ich träume», erinnert sich Corina Frei. «In dieser Minute fühlte es sich an, als knallte ein Wirbelwind in mein Leben, der alles durcheinanderbrachte. In einer verdammten Minute.»
Sie wollte aus diesem Traum aufwachen, normal weiterleben. Mit ihrem neuen Freund, mit durchtanzten Nächten. Doch ihr blieb noch ein Monat bis zur Geburt. Vier Wochen Zeit, um Mutter zu werden.
«Ich musste diese Situation erst mal akzeptieren.» Verdauen, verarbeiten, dann vorbereiten. Ein Kinderbett, Windeln, neue Hosen für den grossen Bauch mussten her. Und mehr: «Ich musste mir überlegen, wie mein Leben weitergeht.» Der Job als Kauffrau im Büro. Die Wohnung in der Berner Altstadt mit dem neuen Freund. «Und Mutter sein? Kann ich das? Will ich das überhaupt?»
An einem Morgen im Januar war ein Termin mit der Sozialberatung vereinbart. Adoption, Pflegeeltern oder das Kind behalten – die Optionen sollten besprochen werden. Ihre Mutter begleitete sie, war mit dem Auto auf dem Weg vom Aargau nach Bern.
«Ich stand zu Hause vor dem Spiegel im Badezimmer, kämmte mir die Haare, als auf einmal diese Krämpfe durch den Bauch zogen. Immer und immer wieder.» Sie rief ihre Mutter an: «Wir können uns nicht bei der Beratung treffen. Hol mich bitte hier ab!» Diesmal waren die Bauchschmerzen Wehen. Zwei Stunden später, elf Uhr morgens, ein Kaiserschnitt, und sie hielt ihre Tochter in den Armen. 3200 Gramm, 49 Zentimeter.
«Die Muttergefühle kamen nicht auf Knopfdruck.»
Corina Frei*
Emily* kam am 22. Januar 2013 zur Welt. Corina Frei war vier Wochen schwanger gewesen. «Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte, als ich meine Tochter zum ersten Mal sah, zum ersten Mal an ihr roch», sagt sie. Ein herziges Baby. Eine krasse Situation. So surreal. Sie war erleichtert, als die Hebamme sagte, dass Emily gesund sei. Zehn Finger, zehn Zehen, kräftiges Schreien.
«Die Muttergefühle kamen nicht auf Knopfdruck», erzählt Corina Frei. Aber die Beratung beim Sozialdienst erübrigte sich. «Ich wusste, dass ich Emily nie weggeben könnte.» Die Zeit danach war schwierig. «Ein neues Leben. Ich musste ein Kind stillen, nachts aufstehen, Windeln wechseln.» Ihr damaliger Freund stand nach der Geburt zwar am Spitalbett. Doch er kam mit der neuen Situation nicht klar. Es war nicht sein Kind. Die Beziehung zerbrach bald.
Corina Frei zog zurück in den Aargau, in die Nähe ihrer Familie. «Und wurde zum Dorfgespräch», sagt sie. «Ich wusste, dass sich die Leute hinter meinem Rücken das Maul zerrissen.» Dann die Fragen aus ihrem Umfeld, bei der Arbeit. Die Reaktionen darauf. «Es war hart. Ich kam mir so dumm vor. Ich traute meinem eigenen Körper nicht mehr.»
Eine unbemerkte Schwangerschaft löst grosse Selbstzweifel aus. «Es ist ein psychischer Kraftakt», sagt Sibil Tschudin, die bereits zahlreiche Frauen in dieser Situation behandelte. Dabei kann diese Verdrängung jeder passieren. Weder die Intelligenz, der Bildungsstand, die Herkunft noch das Alter der Frau spielen eine Rolle. «Es kommt zwar häufiger bei Frauen vor, die noch nie schwanger waren. Aber es kann genauso der Dreifachmutter in ihren Vierzigern passieren.» Wichtig sei, dass sie nicht verurteilt werde.
«Darum braucht die Mutter nach der Geburt Zeit. Zeit, um eine Beziehung zum Kind aufzubauen und sich selbst wieder zu vertrauen.» In fast 80 Prozent der Fälle entscheidet sich die Frau für das Kind.
«Heute weiss ich, es musste alles so kommen», sagt Corina Frei. Emily feiert bald ihren siebten Geburtstag. Diesen Sommer ging sie zum ersten Mal in die Schule. Sie hat viele Freundinnen. Die beneiden sie um ihre langen, blonden Haare. Sie spielt, sie lacht, Emily ist ein kleiner Frechdachs. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie für ihr Alter nicht normal entwickelt ist. «Das hätte ich mir nie verziehen», sagt ihre Mutter.
Sie hätte anders gelebt, wenn sie früher gemerkt hätte, dass sie schwanger war. «Es war eine turbulente Reise, aber sie endete mit dem Besten, was ich mir hätte wünschen können.»
* Name geändert
Die Telefon- und Online-Beratungsstelle Appella bietet Frauen und Männern unabhängige Informationen und Beratung zu den Bereichen Schwangerschaft, Pränataldiagnostik, Geburt, ungewollte Schwangerschaft , Verhütung und Kinderwunsch. Zudem vermittelt sie ausgewählte Fachleute und Fachstellen aus den Bereichen Medizin, Psychologie und Psychotherapie.