Auf dem Buckel des Mittelstands
Im sozialen Sicherungsnetz für ältere Menschen wird seit Anfang Jahr gespart. Eine wissenschaftliche Analyse zeigt: Am härtesten trifft es jene, die Betreuung brauchen.
Veröffentlicht am 12. Februar 2021 - 14:16 Uhr
Seit Anfang Jahr gelten bei den Ergänzungsleistungen (EL) neue Spielregeln: Rentnerinnen und Rentner müssen ihr Vermögen bis auf 100'000 Franken aufbrauchen, bevor sie Unterstützung vom Staat erhalten.
Mit dieser Revision reagierte das Parlament auf die steigenden Ausgaben. Im Jahr 2030 sollen damit 400 Millionen Franken gespart werden. Bis dahin will man sich diesem Betrag schrittweise annähern.
Eine erste wissenschaftliche Analyse der EL-Revision zeigt: Betroffen sind vor allem ältere Menschen mit hohen Betreuungs- und Pflegekosten. Denn die Ergänzungsleistungen sind sowohl materielle Grundsicherung als auch eine Art Betreuungs- und Pflegeversicherung.
Die Revision geht nun vor allem zu Lasten jener Seniorinnen und Senioren aus dem Mittelstand, die über etwas Vermögen verfügen. Sie können nicht mehr frei über ihre Ersparnisse verfügen. Wofür sie diese einsetzen und wie viel sie ausgeben können, ohne später bestraft zu werden, bestimmt nun das Gesetz.
Von der Regelung, dass man höchstens 100'000 Franken Vermögen haben darf, sind selbst bewohnte Liegenschaften teilweise ausgenommen, nicht aber das Ferienhaus und grosse Geschenke für die Kinder.
Um zu verhindern, dass das Vermögen vorab verbraucht wird, prüfen die Behörden nun auch, wie man mit seinen Ersparnissen in den letzten zehn Jahren umgegangen ist. Je nachdem werden die EL gekürzt. Pro Jahr darf man maximal 10'000 Franken aufbrauchen. Davon ausgenommen sind Kosten im Zusammenhang mit Krankheiten, Behinderungen sowie werterhaltende Sanierungen des eigenen Hauses oder der eigenen Wohnung. Diese Regeln gelten für alle, die neu Ergänzungsleistungen beantragen. Für jene, die bereits EL beziehen, erst ab 2024.
EL-Beziehende müssen weiterhin einen substanziellen Teil vom Vermögen aufbrauchen – nach der Revision noch mehr als vorher. Neu müssen Alleinstehende die finanziellen Reserven bis auf 30'000 Franken aufbrauchen statt wie bislang bis auf 37'500 Franken. Paare dürfen noch 50'000 Franken und nicht mehr 60'000 Franken behalten.
Dazu kommt, dass – falls nach dem Tod mehr als 40'000 Franken übrig sind – die EL aus dem Nachlass zurückbezahlt werden müssen. Damit ist klar: Wer vorgesorgt hat, wird bestraft. Gespart wird auf Kosten der Seniorinnen und Senioren mit kleinem und mittlerem Vermögen und ihrer Erben.
Betroffen sind vor allem Bewohnerinnen von Pflegeheimen. Denn die Pflegeheimkosten sind häufig so hoch, dass auch Angehörige der Mittelschicht diese nicht mit ihrem Einkommen tragen können: Rund die Hälfte der Heimbewohner erhält bis anhin deshalb EL.
Zu ihnen gehören Menschen wie die fiktive Frau Meier: Sie verfügt über 39'600 Franken Einkommen pro Jahr und hat 137'000 Franken auf der Seite. Damit ist sie eine typische Mittelschichtlerin. Die Frau kann nicht mehr allein zu Hause leben. Sie braucht rund um die Uhr Betreuung und lebt darum in einem Pflegeheim.
Vor der EL-Revision hätte Frau Meier in den meisten Kantonen trotzdem EL erhalten und damit einen Teil ihres Aufenthalts im Pflegeheim finanzieren können. Wie hoch die Leistungen waren, hing vor allem davon ab, wie teuer das Pflegeheim in der jeweiligen Gemeinde war. Wenn sie jetzt neu EL beantragen müsste, würde sie keine Unterstützung erhalten.
Um ihre Lebenshaltungskosten zu decken, muss sie laufend von ihrem Vermögen zehren. Denn ihr Einkommen reicht nicht, um Pflegeheim, Krankenkasse und Steuern zu zahlen.
Sobald Frau Meier 37'001 Franken aufgebraucht hat – was in einigen Kantonshauptorten bereits nach einem Jahr der Fall sein wird –, hat sie wieder Anspruch auf Ergänzungsleistungen. Dank dieses Zusatzeinkommens nimmt auch ihr Vermögen weniger schnell ab.
Die Revision der Ergänzungsleistungen hat Auswirkungen auf den Charakter des Sozialwerks. Die Funktion einer Betreuungs- und Pflegeversicherung übernehmen die EL nur noch für Seniorinnen ohne oder mit kleinem Vermögen.
Die EL unterscheiden sich somit stark von Sozialversicherungen wie der Arbeitslosen- oder der Mutterschaftsversicherung. Dort erhält man Unterstützung, sobald der versicherte Fall eintritt – unabhängig vom vorhandenen Vermögen.
Die Folge der EL-Revision ist klar: Es werden noch mehr fragile Menschen allein für ihre Betreuung und Pflege aufkommen müssen.
Infografik: So unterschiedlich sind die Auswirkungen pro Kanton
Die Ökonomin und Soziologin Nora Meuli hat die EL-Revision im Rahmen eines Forschungsprojekts der Fachhochschule Nordwestschweiz analysiert; die Studie wird im Herbst publiziert.
Weitere Informationen zum Forschungsprojekt: einkommen-im-alter.ch
Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.
Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.
4 Kommentare
Bis jetzt heisst es überall wer hat dem wird noch gegeben. Nun haben wir mal ein System bei dem das nicht zutrifft und wieder hagelt es Kritik. EL soll jene unterstützen die es wirklich brauchen.
Soviel zur Schweizer "Volks-WOHL-Politik" = Eigeninteressen-Verfolgung, Lobbyismus!!
Wie immer, wird bei den Ärmsten gespart, darüber sollte sich der Beobachter aufregen und nicht darüber, dass dann für die Erben nichts mehr bleibt. Erben ist ein Geschenk, schön wenn was übrig bleibt und weiter gegeben werden kann. In erster Linie spart man aber doch für seinen eigenen Lebensabend, und dass man diesen in einem Pflegeheim verbringen kann, wo es einem gut geht, bei guter Betreuung und Pflege, die halt auch seinen berechtigten Preis haben.
Für uns hat die EL Reform fatale Folgen, da ich IV bin und im Kanton St.Gallen wohne, konnte ich seit ich hier wohne noch nie von den Steuererleichterung für IV Empfänger leben, dafür bekamen wir bis 2020 eine Auserordentliche Ergänzungsleistung, welche jetzt ab dem 2021 auch wegfällt. Da diese ja Steuerlich nichts bringt, haben wir einfach CHF 5000 im Jahr weniger.
Woher wir jetzt das Geld nehmen - werden wir noch schauen müssen!
Auch meine Frau kann von Ihrem Lohn weniger behalten. Vorher waren es 2/3 jetzt nur noch 10%. Somit fallen wir in die Sonderregelung bis 2024 und dann kommt zum Glück meine Tochter aus der Schule