Der Informant, der sich anonym beim Beobachter meldet, sieht die Gerechtigkeit mit Füssen getreten: Ein Programmierer arbeite schwarz weiter, obwohl er seit Jahren eine hundertprozentige IV-Rente beziehe. So verdopple der Sehbehinderte sein Einkommen «spielend». Zuvor hatte sich der Schreiber an die zuständige Zürcher IV-Stelle gewandt. Doch geschehen sei nichts.

Der Mann ist nicht der Einzige, der wegen eines vermuteten IV-Missbrauchs die Behörden informiert. Die IV-Stellen-Konferenz geht davon aus, dass letztes Jahr allein in der Deutschschweiz fast 1500 Hinweise aus dem Volk eingegangen sind – telefonisch oder schriftlich, meist anonym.

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Der demonstrative Sparkurs der IV und die politisch und gesellschaftlich heftig geführte Diskussion um «Scheininvalide» brachte einigen der 26 kantonalen IV-Stellen spürbar mehr Meldungen. So etwa in der Innerschweiz: «Bis vor einigen Jahren erhielten wir nur alle paar Monate einen Hinweis, letztes Jahr waren es 27», sagt Andreas Dummermuth, Leiter der IV-Stelle Schwyz. Die Sensibilität in der Bevölkerung habe deutlich zugenommen. Jeder Missbrauchsfall, über den die Medien berichteten, löse eine Welle von Anrufen und Briefen mit Angaben ähnlicher Fälle aus.

Meist ist der gemeldete «IV-Betrüger» der Nachbar. Oder Firmeninhaber sind überzeugt, ihr Konkurrent beschäftige IV-Rentner schwarz. Doch was von den Vermutungen schliesslich bleibt, scheint nicht gerade viel: «Die Mehrheit der Verdachtsfälle bewahrheitet sich nicht», fasst Simone Bischof von der IV-Stellen-Konferenz die Erfahrungen an der Front zusammen.

Dennoch sehen die IV-Stellen die Meldungen aus der Bevölkerung nicht als reines Anschwärzen und folglich als nutzlosen Mehraufwand. Das greife zu kurz. «Jeder einzelne Hinweis ist wichtig. Denn die Einsparungen belaufen sich, über alle involvierten Versicherungen und Zusatzleistungen betrachtet, schnell auf eine halbe Million Franken pro Fall und Jahr», sagt Daniela Aloisi, Sprecherin der Sozialversicherungsanstalt Zürich. Bei der Zürcher IV-Stelle erhärten sich rund 10 bis 15 Prozent von jährlich etwa 360 sogenannten Bürgeranzeigen.

Nachprüfen, aber ohne Rückmeldung

Rund 280'000 Renten hat die IV im Jahr 2010 ausbezahlt. In total 300 Fällen wiesen IV-Stellen einen Missbrauch oder Betrug nach. Allerdings gehen die aufgedeckten Fälle nicht allein auf Bürgeranzeigen zurück. Vielmehr fliessen in diese Zahlen auch Hinweise anderer Versicherer ein, deren Verdachtsmomente häufig bereits stichfest sind.

Weshalb entpuppt sich ein Grossteil der Meldungen aus der Bevölkerung als falsch? Daniela Aloisi vermutet, dass es vielfach an Wissen fehlt. «Meist glauben die Leute, dass IV-Bezüger gar nicht arbeiten dürfen.» Viele aber hätten bloss eine Teilrente und könnten die bisherige Tätigkeit in reduziertem Umfang weiter ausüben. Oder jemand könne zum Beispiel nicht mehr als Bodenleger arbeiten, aber durchaus Zeitungen austragen (siehe unten: «Arbeiten trotz IV-Rente»).

In Zürich werde jede einzelne Bürgeranzeige geprüft, betont Aloisi. Ob auch jener Hinweis auf den sehbehinderten Programmierer dabei war, will sie allerdings nicht beantworten. «Aus Datenschutzgründen dürfen die IV-Stellen gegenüber Dritten keine Angaben machen.» Wer, wie der anonyme Beobachter-Informant, einen vermuteten Missbrauch meldet, erhält also keine Rückmeldung.

Seit 2008 wird in allen Schweizer IV-Stellen ein neues «Betrugsbekämpfungsmanagement» eingeführt. Folgt die Zürcher Stelle dem vereinheitlichten Vorgehen, klärt sie im Fall des sehbehinderten Programmierers zunächst, ob der Mann überhaupt IV-Bezüger ist – denn häufig werden auch Personen gemeldet, die gar keine Rente erhalten. Bezieht der Programmierer aber tatsächlich Leistungen, werden die Angaben des anonymen Hinweisgebers zur Berufstätigkeit des angeblichen IV-Betrügers mit dem Dossier verglichen, und die IV-Stelle erkundigt sich bei anderen Versicherungsbehörden nach Verdachtsmomenten. Gibt es Ungereimtheiten und erhärtet sich die Vermutung, lädt die IV-Stelle zum Gespräch oder leitet gleich ein Revisionsverfahren ein.

Derartige Überprüfungen der Rente werden auch ohne Verdacht von Zeit zu Zeit veranlasst. «So müssen wir den Beschuldigten nicht sagen, dass wir einen Tipp erhalten haben», erklärt IV-Stellen-Leiter Andreas Dummermuth. Sind zusätzliche Beweise nötig, können die Verantwortlichen als letztes Mittel auch eine verdeckte Ermittlung anordnen. Ob und wie die Zürcher IV-Stelle im Fall des sehbehinderten Programmierers wirklich handelte, bleibt offen. Der anonyme Melder wird es vermutlich nie erfahren.

Arbeiten trotz IV-Rente

Eine Invalidenrente erhält, wer wegen eines körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheitsschadens nicht mehr oder nur noch teilweise arbeiten kann. Der Invaliditätsgrad bemisst sich anhand der Lohneinbusse zwischen der früheren Tätigkeit und einer allenfalls noch ausübbaren Arbeit.

Etwa ein Viertel der IV-Renten sind Teilrenten: Betroffene können nach IV-Einschätzung weiterhin reduziert arbeiten. Eine sogenannte ganze Rente erhalten Versicherte, die zu mindestens 70 Prozent als invalid eingeschätzt werden. Auch sie dürfen entsprechend ihrer Arbeitsfähigkeit noch dazuverdienen.

Betrug oder Missbrauch liegt unter anderem vor, wenn jemand Gesundheitsschäden simuliert, um ein Arztzeugnis zu erhalten, wenn die Person falsche Angaben macht (etwa zum Arbeitspensum) oder eine neue Beschäftigung verschweigt. Unrechtmässig erhaltene Beiträge können für fünf Jahre rückwirkend zurückgefordert werden.