«Observationen werden Tür und Tor geöffnet»
Schon bald können IV-Rentner durch Privatdetektive mit verschärften Mitteln wieder überwacht werden. Betroffen sind aber auch viele andere Versicherte.
Veröffentlicht am 9. Mai 2018 - 11:57 Uhr,
aktualisiert am 8. Juni 2018 - 11:17 Uhr
Nur ein Referendum kann den parlamentarischen Entscheid rückgängig machen – die 50'000 benötigten Stimmen wurden nun gesammelt. Im Herbst wird es also zu einer Volksabstimmung kommen. Wird das Referendum dann abgelehnt, dürfte die neue Bestimmung voraussichtlich am 1. Januar 2019 rechtswirksam werden.
Im Oktober 2016 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Schluss, dass bei einer Observation durch die Unfallversicherung die gesetzliche Grundlage nicht gegeben war. Nachdem auch das Bundesgericht in einem konkreten Fall eines IV-Rentners die fehlende Gesetzesgrundlage für eine Überwachung kritisierte, ordnete das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) an, vorläufig keine Observationen mehr durchzuführen. Neben der IV verzichtete auch die Suva auf eine Überwachung. Mitte März 2018 einigten sich National- und Ständerat über ein neues Gesetz, das weitaus grössere Folgen für viele Versicherte haben wird, als man zunächst denkt.
Denn das neue Gesetz soll im Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) ergänzt werden, wodurch Observationen bei Unfall- und Krankenversicherten sowie bei Arbeitslosen rechtlich wieder zulässig sein werden. Nur ein Referendum könnte den parlamentarischen Entscheid rückgängig machen. Doch dafür müssten bis zum 5. Juli mindestens 50'000 Unterschriften gesammelt werden, damit im Herbst das Volk darüber abstimmen kann. Wird das Referendum dann abgelehnt, dürfte die neue Bestimmung voraussichtlich zum 1. Januar 2019 rechtswirksam werden.
Diese besagt, dass Versicherungen Observationen selber veranlassen und dabei Bild- und Tonaufzeichnungen machen können, wenn «aufgrund konkreter Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass die versicherte Person unrechtmässig Leistungen bezieht». Eine richterliche Beurteilung braucht es dafür nicht. Nur wenn technische Geräte zur Standortbestimmung eingesetzt werden, muss das zuständige Versicherungsgericht des Wohnkantons innerhalb von fünf Arbeitstagen einen Antrag der Versicherung bearbeiten. Beispielsweise wenn GPS-Tracker oder gar Drohnen zum Einsatz kommen sollen. Falls die Versicherung jedoch eine Drohne nicht dazu einsetzt, den Aufenthalt der überwachten Person zu bestimmen, braucht es auch dafür keinen richterlichen Beschluss.
Wie dürfen Behörden der Sozialversicherungen zum Beispiel IV-Rentner überwachen? Was rechtlich erlaubt ist und was nicht, erfahren Sie als Beobachter-Mitglied in der Checkliste «So darf Sie die Versicherung überwachen».
Versicherte Personen dürfen nur dann beobachtet werden, wenn sie sich an einem allgemein zugänglichen Ort aufhalten. Ebenso muss sich der Detektiv daran halten, die Zielperson nur von einem Ort zu observieren, der für eine Überwachung frei zugänglich ist, beispielsweise von einem öffentlichen Parkplatz mit Einblick auf eine Veranda oder in einen Garten. Auch Abhöraktionen sind theoretisch möglich und müssen von keinem Richter genehmigt werden.
Ebenfalls umstritten war im Parlament die Frage, ob Privatdetektive Versicherte in ihrer Wohnung auch dann von einer Strasse aus filmen dürfen, wenn diese relativ leicht einsehbar liegt. Der Bundesrat hielt nun kürzlich in einer Fragestunde des Nationalrats fest, dass dies nicht erlaubt sein soll.
Weiter offen bleibt jedoch die Möglichkeit, dass ein Privatdetektiv von einer Seitenstrasse ein Gespräch mithören kann, das ein Versicherter in seinem Garten oder in der Wohnung führt. Auch wenn für diesen Einsatz technische Hilfsgeräte nötig sind, muss die Versicherung die Abhöraktion nicht richterlich genehmigen lassen. Nur wenn es darum geht, den Standort einer Person zu ermitteln, wird ein Richter benötigt. Laut Gesetz kann «eine Person mit Direktionsfunktion» bei der Versicherung die Observation anordnen und beispielsweise an ein externes Detektivbüro vergeben.
Für Martin Boltshauser, Leiter Rechtsdienst bei der Behindertenorganisation Procap, ist ebenfalls die Frage umstritten, ab wann für die Versicherungen ein hinreichender Verdacht eines Missbrauchs gegeben ist. «Tür und Tor werden für Observationen geöffnet, wenn man davon ausgeht, dass die Versicherungen relativ schnell überwachen werden», sagt Boltshauser.
«Wer aufgrund einer Krankheit einmal länger ausfallen sollte, kann von der Taggeldversicherung theoretisch observiert werden.»
Anita Hubert, Sozialversicherungsfachfrau und Beraterin beim Beobachter
Er gibt ein Beispiel: Die Patientin, bei der eine inkomplette Tetraplegie diagnostiziert wurde und deshalb eine IV-Rente bezieht, ist nicht immer auf einen Rollstuhl angewiesen. Je nachdem kann eine weniger auffällige Gehhilfe wie eine Orthese, welche die Beine und den Bewegungsapparat stützt, den Alltag der versicherten Person ebenso erleichtern. Ein Nachbar könnte sich nun darüber wundern, warum die IV-Rentnerin keinen Rollstuhl mehr braucht und macht eine Meldung. Die IV wiederum, die ein berechtigtes Interesse daran hat, den Invaliditätsgrad periodisch zu beurteilen, wird nach dem Hinweis die Rentnerin über einen längeren Zeitraum hinweg observieren lassen.
Von gut 432'000 Leistungsbezügern im Jahr 2017 hat die Invalidenversicherung bei 2130 Fällen wegen Missbrauchsverdacht ermittelt. Bei 210 wurden Observationen angeordnet. Aufgrund diesen konnte in 170 Fällen ein unrechtmässiger Bezug von IV-Leistungen erwiesen werden. Gemäss einem Bericht des Bundesamts für Sozialversicherungen konnten dank der aufgedeckten Missbrauchsfälle hochgerechnet rund 60 Millionen Franken an Rentenleistungen eingespart werden (berechnet auf Basis eines durchschnittlichen Betrages einer IV-Rente und einer Bezugsdauer bis zum ordentlichen AHV-Rentenalter). Im Vergleich dazu hat das BSV 1,3 Millionen Franken für Observationsmassnahmen im Jahr 2017 ausgegeben.
Über alle Parteigrenzen hinweg dürfte es unbestritten sein, dass Versicherungsmissbrauch bekämpft werden muss. Das neue Gesetz ermöglicht Observationen nicht nur bei IV-Bezügern, sondern auch bei Unfall- und Krankenversicherten sowie bei Arbeitslosen. Weil die Überwachungsklausel den Versicherungen praktisch freie Hand bietet, kann jeder Versicherte unter Generalverdacht stehen. «Wer aufgrund einer Krankheit einmal länger ausfallen sollte, kann von der Taggeldversicherung theoretisch observiert werden», gibt Anita Hubert, Sozialversicherungsfachfrau und Beraterin beim Beobachter, zu bedenken.
Ob das auch den 7255 befragten Personen einer Tamedia-Umfrage bewusst ist, lässt sich nicht sagen. 62 Prozent der Teilnehmenden befürworten die Überwachung durch Sozialdetektive. Im Nationalrat waren sogar 72 Prozent dafür. Bundesrat Alain Berset sprach sich dagegen aus und betonte den Schutz der Privatsphäre sowie den Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Der Sozialminister mahnte vor Überwachungsexzessen und kritisierte, dass «Versicherungen nicht mehr Mittel zur Überwachung erhalten sollten als die Strafverfolgungsbehörden». Befürworter des Gesetzes begründen die verstärkten Kompetenzen damit, dass die Versicherungen staatliche Leistungen erbringen und sie auch selber Abklärungen treffen können sollen. Versicherungsbetrug zählt jedoch schon länger als Straftat. Diese aufzuklären, ist Sache der Staatsanwaltschaft und der Polizei, so die Argumente der Gegner.
«Mit diesem Gesetz wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen.»
Martin Boltshauser, Leiter Rechtsdienst Procap
Martin Boltshauser von Procap hält es für rechtsstaatlich bedenklich, dass allgemeine Betrugsvorwürfe nur durch richterliche Anordnung überprüft werden dürfen, die hier zur Diskussion stehenden Observationen aber fast ausschliesslich durch die Versicherung selber veranlasst werden können. Ob das erhaltene Überwachungsmaterial von den Versicherungen auch richtig ausgelegt wird, ist eine andere Frage. Bei versicherten Personen mit einer psychischen Erkrankung seien direkte Rückschlüsse schwer. Ein Detektivfoto, das einen manisch-depressiven Mann beim Einkaufen lächelnd zeigt, könne aus dem Zusammenhang gerissen sein und stelle lediglich eine Momentaufnahme dar. Oder die chronisch Depressive, die auf dem Balkon ein Sonnenbad nimmt und dabei ausgelassen telefoniert, kann nach einer Meldung durch einen Nachbarn bereits unter Verdacht stehen.
Für Boltshauser ist klar: Es gibt banale Anlässe, die eine Observation provozieren können, weil das Gesetz so niederschwellig ist und die Versicherungen meist keinen Richter brauchen. Wenn «solche Beispiele für die Versicherungen bereits einen konkreten Anhaltspunkt ausmachen, dann wird man die gesetzliche Grundlage zur Observation auch ausnutzen», befürchtet der Rechtsanwalt. Er könne sich gut vorstellen, dass Hinweise von Dritten auch je nach Region unterschiedlich schnell als «Anfangsverdacht» gelten könnten. Die Gerichte werden wahrscheinlich die Frage klären müssen, ob ein konkreter Anhaltspunkt für eine Überwachung vorhanden war oder nicht. Und vielleicht werde am Ende auch wieder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein wegweisendes Urteil fällen.
Gesamthaft hält Boltshauser fest: «Mit diesem Gesetz wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen.»
Eine Versicherung hat ein Interesse, einen Leistungsanspruch abklären zu lassen und kann dazu auch eine Observation anordnen. Diese muss verdeckt ablaufen, sodass der Versicherte nicht von ihr beeinträchtigt wird. Die IV beispielsweise überprüft anhand verschiedener Massnahmen routinemässig alle zwei bis fünf Jahre die zugesprochene Rente.
Gegen eine Überwachung kann man sich erst dann wehren, wenn das Resultat der Untersuchung als Verfügung dem Versicherten mitgeteilt wurde. Besteht der Verdacht, dass das Beweismaterial unrechtmässig eingeholt wurde (z. B. Bildaufnahmen über einen nicht zugänglichen Ort), können diese Belege mit dem zur Verfügung stehenden Rechtsmittel bestritten werden.
Wer observiert wurde, muss unabhängig vom Ausgang über den Grund, die Art und die Dauer der erfolgten Observation informiert werden. Auch das gesammelte Bildmaterial muss auf Verlangen des Versicherten ausgehändigt werden. Das genaue Verfahren muss noch durch den Bundesrat geregelt werden. Hat sich der Anfangsverdacht für die Observation nicht bestätigt, ist der Versicherungsträger gesetzlich verpflichtet, das Observationsmaterial zu vernichten. Die versicherte Person sollte aber in einem solchen Fall besser beantragen, dass dieses Material in den Akten verbleibt, was für spätere Abklärungsinteressen dienlich sein könnte.
Beobachter-Mitglieder sehen in einer Auflistung von realen Fällen, wie das Bundesgericht bei strittigen Abklärungsverfahren der Invalidenversicherung über einen Leistungszuspruch entschieden hat.
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