Räuber und Poli im Spital
Die Fallpauschalen zur Berechnung der Spitalkosten haben eine neue Disziplin geschaffen: Kliniken und Versicherer spielen mittels ausgeklügelter Software Katz und Maus. Es geht um Millionen von Franken.
Veröffentlicht am 2. September 2014 - 08:58 Uhr
Sie sind Pflegefachleute oder Physiotherapeuten, aber mit Patienten haben sie nur noch virtuell zu tun. Sie stehen am Pult, Hand auf der Maus, Blick auf den Bildschirm. Manchmal lächeln sie, und ihre Augen leuchten kurz auf. Dann haben sie etwas gefunden. Etwas, was nicht stimmen kann. Manchmal sprechen sie miteinander. Dann sagt die eine zur anderen zum Beispiel: «Du, diese Zehenamputation, da kamen am Ende fast 20 000 Franken raus.» Und die andere freut sich: «Wow, super!»
Wir befinden uns am Hauptsitz der Helsana in Zürich-Stettbach. Tag für Tag kontrollieren für die Krankenversicherung 15 Codierer, die alle einmal einen medizinischen Beruf erlernt haben, Hunderte von Rechnungen von Schweizer Spitälern und Kliniken und suchen nach Fehlern. Genauer: nach Rechnungen, die sie in der vorliegenden Form nicht bezahlen wollen. Das ist nötig, seit man Spitalaufenthalte nicht mehr mit Tagespauschalen abrechnet, sondern nach diagnosebezogenen Fallgruppen. Diese werden in vierstelligen Codes ausgedrückt und bestimmen, wie viel ein Spital für seine Leistungen verlangen darf (siehe «So rechnen die Spitäler»).
Ende September stimmt das Volk über die Einheitskrankenkasse ab, Befürworter erhoffen sich davon Kosteneinsparungen. Dasselbe galt einmal für die Fallpauschalen. Doch billiger geworden ist seit deren Einführung nichts – nur viel komplizierter. Wie Detektive forschen seither bei den Kassen Leute nach Unstimmigkeiten, nach Diagnosen, die nicht plausibel sind, oder nach codierten Behandlungen, die laut den Krankenakten gar nicht durchgeführt wurden. Bei rund 30'000 Codes gibt es viele Fehlerquellen – und auch viele Möglichkeiten zum Schummeln.
Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Gewicht bei Frühgeburten: Neugeborene, die weniger als 1000 Gramm wiegen, kommen in eine teurere Fallgruppe als solche über 1000 Gramm. Die Differenz beträgt etwa 47'000 Franken, auch wenn es nur um ein einziges Gramm geht. Der Grund: Fallpauschalen sind Durchschnittswerte, und Frühchen, die weniger als ein Kilo wiegen, verursachen im Schnitt viel höhere Kosten. Entsprechend gross ist in den Spitälern die Versuchung, Grenzfälle in die höhere Gruppe zu codieren. Dazu reicht mitunter ein simpler Kniff. Man lässt die Kleinen Pipi machen, bevor man sie auf die Waage legt. Oder man kappt die Nabelschnur etwas kürzer. Das schadet dem Baby nicht und sorgt für zusätzliche Einnahmen.
Wird das tatsächlich getan? In Deutschland, wo die Fallpauschale bereits 2003 eingeführt wurde, ist die Zahl der leichten Frühchen jedenfalls sprunghaft angestiegen, die Zahl derjenigen über der Gewichtsgrenze dagegen gesunken. Rund 114 Millionen Euro haben die Kliniken laut einer Studie bisher durch diesen Trick zu viel kassiert. Insgesamt müssten Spitäler den Versicherern in Deutschland wegen Fehlern bei den Pauschalen rund zwei Milliarden Euro pro Jahr zurückzahlen, sagt Peter Rowohlt, der bei der deutschen Krankenkasse DAK-Gesundheit für die Rechnungsabwicklung im Spitalbereich zuständig ist. Die DAK ist mit über sechs Millionen Versicherten eine der grössten deutschen Kassen. «Wir erhalten von den Spitälern jährlich etwa 200 Millionen Euro wegen fehlerhafter Rechnungen zurück.»
Klar, dass auch bei den hiesigen Kassen die Alarmglocken schrillten, als man 2012 die Fallpauschalen flächendeckend einführte. Medien berichteten unlängst, auch in der Schweiz werde mit hohen Folgekosten geschummelt. Handfeste Belege dafür fehlen aber. «Es ist zu früh für Aussagen, es gibt noch keine Zahlen», heisst es beim Krankenkassenverband Santésuisse. Bei den Frühchen deutet die Statistik zwar auf ähnliche Verschiebungen hin. Die Fallzahlen sind aber so tief, dass kein eindeutiger Zusammenhang nachgewiesen werden kann.
Fakt ist: Auch hierzulande loten Spitäler wie Versicherer die Grenzen des Systems aus und nutzen hierfür deutsche Optimierungssoftware wie «Checkpoint DRG», «Kaps» oder «Kodip», die an die Schweizer Verhältnisse angepasst ist. Sie weist den Nutzer entweder auf Diagnosen und Behandlungen hin, die vergessen gingen. Oder aber sie schlägt Alarm: «Unzulässige Kombination von Haupt- und Nebendiagnosen» erscheint dann in einer rot eingefärbten Box auf dem Bildschirm der kontrollierenden Codierer. Oder: «Die Daten deuten auf einen Unfall hin.»
Bei der Helsana gehen jährlich 180'000 Fallpauschalenrechnungen über rund 900 Millionen Franken ein. Alle werden zunächst automatisiert geprüft. Was auffällt, spuckt der Computer wieder aus. Ist auf der Rechnung etwa «Kaliummangel» codiert, landet sie zur näheren Überprüfung beim nächsten Codierer. «Kaliummangel, der mehrere tausend Franken kostet, wird auch gern verrechnet, wenn gar keine Tabletten verabreicht wurden», erklärt Doris Nievergelt, Leiterin des Fachbereichs Spital am Helsana-Hauptsitz.
Auch wenn ein Patient 96 Stunden lang beatmet wurde, schlägt die Software Alarm. Grund: Ab einer Beatmungszeit von 95 Stunden gibt es eine wesentlich höhere Fallpauschale. Gegen 400 Prüfregeln habe man für die automatische Vorselektion bereits programmiert, sagt Nievergelt. Im Durchschnitt holt man pro Fall etwa 3500 Franken heraus, rund 300'000 Franken im Monat. «Es ist ein wenig wie ein Räuber-und-Poli-Spiel», sagt Nievergelt. Doch oft stecke auch gar keine böse Absicht hinter Fehlern. «Sie passieren einfach in einem solch komplexen System.»
Genau dies versucht man auf der anderen Seite, in den Spitälern, zu verhindern. Zum Beispiel Annalise Liechti. Die Codiererin mit eidgenössischem Fachausweis leitet die siebenköpfige Codierabteilung des Zürcher Triemli-Spitals und ist dafür verantwortlich, dass keine Fehler passieren. Das bedeutet hier in erster Linie, dass nichts vergessen geht. Aber eben auch, dass nichts codiert wird, was effektiv keinen Behandlungsaufwand verursacht hat.
Auch im Triemli ist dafür Software im Einsatz. Das Plausibilisierungsprogramm «MedPlaus» zeige jedoch nur an, ob Unmögliches oder sehr Seltenes codiert wurde, etwa ein Mann mit Brustkrebs, erklärt Liechti. «Wir haben den Ehrgeiz, ohne technische Optimierung richtig zu codieren.» Auf ihrem Pult stapeln sich Regelwerke und Handbücher. Darin steht, welche Codes es gibt, welche Diagnosen kombiniert werden können und wann sie überhaupt codiert werden dürfen. Doch vieles ist auch Interpretation. Vor allem bei Patienten mit mehreren Erkrankungen ist es oft schwierig zu entscheiden, welches die Hauptdiagnose ist, die kostenmässig am stärksten ins Gewicht fällt. Im Zweifel urteilt im Zürcher Grossspital der Arzt.
Mit kritischen Nachfragen von Krankenkassen geht Annalise Liechti gelassen um: «Es ist wichtig, dass sie kontrollieren, es ist ein Lernprozess für beide Seiten.» Im Triemli werde jede beanstandete Rechnung von zwei Codierern nochmals recodiert. Im vergangenen Jahr habe man von den rund 22'000 Rechnungen bloss 30 korrigieren müssen.
Lohnt sich der ganze Aufwand für dieses Katz-und-Maus-Spiel? Ja, finden beide Seiten. Weder die Krankenkassen noch die Spitäler möchten wieder weg von den Fallpauschalen. Die Codierung und deren Überprüfung würden das Budget kaum belasten. Sowohl Santésuisse als auch der Spitalverband H+ betonen den Nutzen des Systems: Die Transparenz sei viel grösser, und die Leistungen der Spitäler könne man besser vergleichen.
Fallpauschalen: So rechnen die Spitäler
Die Fallpauschale wurde 2012 schweizweit eingeführt. Stationäre Patienten werden beim Spitalaustritt nach festen Regeln einer Fallgruppe zugeteilt. Diese entspricht einem Kostengewicht, einem «Basisfallwert», und drückt aus, wie viel ein Patient mit entsprechender Diagnose und Behandlung im Durchschnitt kostet. Dieses Kostengewicht wird mit den Basiskosten («Baserate») für die Grundbehandlung im jeweiligen Spital multipliziert.
Beispiel: Für die Blinddarmentzündung gibt es sechs Varianten. Die einfachste entspricht einem Kostengewicht von 0,637, die komplizierteste einem von 1,283. Bei Basiskosten von 9500 Franken (Kanton Zürich, ohne Uni- und Kinderspital) kostet der «Blinddarm» also zwischen 6051 und 12 188 Franken. Ob die Fallpauschalen die effektiven Kosten decken, wird laufend durch die dafür zuständige Organisation Swiss DRG überprüft. Wenn Spitäler bestimmte Fallgruppen plötzlich viel häufiger codieren, ohne dass der effektive Aufwand mit ansteigt, wird das Kostengewicht nach unten korrigiert. Deshalb haben Spitäler eigentlich kein Interesse daran, leichtere Fälle zu schweren «hochzucodieren».