Dem Gauner hilflos ausgeliefert
Ein Betrüger bestellt im Namen einer Nachbarin Waren für Tausende von Franken. Jetzt ist ihre Kreditwürdigkeit dahin. Aber rechtlich gilt sie nicht als geschädigt.
Veröffentlicht am 16. Februar 2018 - 16:38 Uhr,
aktualisiert am 16. Februar 2018 - 12:05 Uhr
Lange merkte sie nichts. Bis die erste Betreibung ins Haus flatterte. «Ich war baff. Ich hatte bei der Firma nie etwas bestellt. Und auch keine Rechnungen erhalten, geschweige denn Mahnungen», sagt Astrid Rappel aus Neuenhof AG. Zudem lautete die Betreibung gar nicht auf ihren korrekten Namen, sondern auf Anna Rappel.
Astrid Rappel ging von einem Irrtum aus, den sie ohne Weiteres ausräumen könne. Falsch gedacht. Eines Tages stand der Betreibungsbeamte vor der Tür. Rappel legte Rechtsvorschlag ein, um die Betreibung abzuwenden.
Es sollte die erste Betreibungsandrohung von vielen sein. Denn ein Nachbarssohn hatte Namen und Adresse der 50-Jährigen über Monate hinweg missbraucht, um bei verschiedenen Internetshops Waren zu ergaunern. Dabei verwendete er nie ihren korrekten Namen, sondern Abwandlungen davon.
Der damalige Lehrling fing nicht nur die Pakete ab, sondern auch die Rechnungen und Mahnungen – deshalb fiel Rappel vorerst nichts auf. Er verursachte in ihrem Namen einen Schaden von mindestens 5'700 Franken. Den gleichen Trick zog er auch bei anderen ab. Insgesamt beläuft sich die Schadenssumme auf 15'378 Franken.
Nach und nach trudelten weitere Betreibungen mehrerer Inkassobüros bei Astrid Rappel ein, immer mit anderen, ähnlichen Vornamen. Sie bat das Postamt, ihr fortan Briefe und Pakete nicht ins Haus zu liefern, sondern aufzubewahren, bis sie sie abholt. Sie meldete den geschädigten Firmen, dass sie die Sachen nicht bestellt hat, und bat sie, die Waren abzuholen. Ihre Massnahmen hatten mässigen Erfolg. Der Betrüger nahm teils sogar die Abholscheine an sich.
«Ich soll keine Geschädigte sein? Zum Glück suche ich im Moment keine Wohnung. Ich hätte keine Chance.»
Astrid Rappel, Opfer
Da gegen den Mann wegen anderer Vorwürfe ein Strafverfahren lief, führte die Polizei zwei Razzien bei ihm durch – er flog auf. Rappel bat die Kantonspolizei um eine entsprechende Bestätigung für das Betreibungsamt, die geschädigten Firmen, die Inkassobüros. Dafür müsse sie sich an die Staatsanwaltschaft wenden, hiess es.
Doch die Staatsanwältin sagte, sie könne ihr keine Auskünfte geben, da sie keine Geschädigte sei. Um Akteneinsicht zu erhalten, müsste sie eine Strafanzeige machen. Bloss gebe es keinen entsprechenden Straftatbestand. Sie könne höchstens eine Zivilklage einreichen, trage dann aber das ganze Prozessrisiko. Möglich wäre auch eine Feststellungsklage beim Gericht. Aber auch hier müsste Rappel die Kosten selber tragen. Beim Bezirksgericht Baden sagte man ihr nicht einmal, wann der Prozess stattfinden würde.
«Ich soll keine Geschädigte sein?», ärgert sich Rappel. «Meine Bonität ist wegen der Betreibungseinträge schwer beschädigt. Zum Glück muss ich mich im Moment nicht für eine Wohnung bewerben oder ein Handyabo abschliessen. Ich hätte wohl keine Chance.»
Martin Boess kennt solche Fälle, er ist Geschäftsführer der Schweizerischen Kriminalprävention (SKP). «Betroffene befinden sich quasi im toten Winkel des Rechtsstaats. Umso mehr kann ich nicht verstehen, dass die Staatsanwaltschaft und das Gericht nicht bereit waren, mit Frau Rappel eine Lösung zu finden.»
Der Prozess habe mittlerweile stattgefunden, beschied das Bezirksgericht Baden dem Beobachter. Das anonymisierte Urteil liegt der Redaktion vor. Der junge Mann wurde wegen gewerbsmässigen Betrugs und weiterer Delikte zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig.
Ob die Inkassobüros nun ein Einsehen haben und Rappels ungerechtfertigte Einträge löschen, ist offen. Sie hat sich mittlerweile um Einsicht in die über sie gesammelten Daten bemüht, um überhaupt eine Löschung beantragen zu können.
Nach acht Monaten und langen Schriftwechseln hat Astrid Rappel ihr Ziel erreicht: Ihre Einträge bei den verschiedenen Inkassobüros sind endlich wieder so rein, wie sie immer hätten sein müssen. «Wenn keine weiteren Betreibungen gegen mich eintreffen, dann darf ich diesen Fall mit gestrigem Datum nun zu den Akten legen», schrieb sie dem Beobachter am 17. Oktober 2018.