Auch wenn eine Person nicht tut, was das Sozialamt verlangt, dürfen die Behörden die Sozialhilfe nicht streichen. Das hat das Bundesgericht im Fall eines heute 49-jährigen Mannes aus dem Kanton Tessin entschieden. Das Urteil wurde am Dienstag veröffentlicht.

Der Mann war seit 2004 immer wieder von der Sozialhilfe Existenzsicherung Sozialhilfe von A bis Z abhängig und erhielt insgesamt 307’000 Franken Unterstützung. Vor zwei Jahren weigerte sich das kantonale Sozialhilfeamt jedoch, ihm weiterzuhelfen. Als Grund gab es an, dass sich der Mann mehrmals geweigert habe, sich einer psychiatrischen Abklärung der IV zu unterziehen. Damit wollte die Versicherung abklären, ob ein Anspruch auf eine Invalidenrente besteht. In diesem Fall müssten Kanton und Gemeinde keine Sozialhilfe mehr bezahlen.

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Bundesverfassung garantiert Hilfe

Der Mann wehrte sich gegen den Entscheid – und das Bundesgericht gibt ihm nun teilweise recht. Es stützt sich auf Artikel 12 der Bundesverfassung: Wenn eine Person nicht selber die Mittel aufbringen kann, um ein menschenwürdiges Dasein zu führen, hat sie Anspruch auf Hilfe. Was wir Armen zugestehen – und was nicht Wo fängt Luxus an?

Zwar habe der Mann selbst dazu beigetragen, dass sein IV-Anspruch nicht geprüft werden konnte. Trotzdem dürfe ihm die Tessiner Sozialbehörde nicht jegliche Unterstützung streichen, solange er keine andere Einkommensquelle habe, urteilte das Bundesgericht. Zumindest die Nothilfe für Nahrung, Unterkunft, Kleidung und notwendige Medikamente müsse sie ihm auf jeden Fall bereitstellen. 

Um den Mann für sein unkooperatives Verhalten zu bestrafen, stünden den Behörden andere Möglichkeiten zur Verfügung. Zum Beispiel Bussen. Das Bundesgericht weist den Fall deshalb ans Tessiner Sozialamt zurück, das ihn nun neu beurteilen muss.

Sozialhilfe darf gekürzt, aber nicht gestrichen werden

«Das Bundesgericht bestätigt damit seine bisherige Rechtsauslegung», sagt Sozialversicherungsexpertin Sabine Neuhaus vom Beobachter Beratungszentrum. Bereits 2012 hatte das höchste Schweizer Gericht klargemacht: Auch wenn eine Person sich verweigert, zum Beispiel nicht an einem Arbeitsintegrationsprogramm teilnimmt, darf man ihr die Sozialhilfe nicht komplett streichen, sondern nur kürzen. «Eine minimale Unterstützung ist in einem solchen Fall sozusagen bedingungslos», sagt Neuhaus.

Eine Ausnahme könnte sein, wenn jemand Recht verletzt oder Straftaten begeht, zum Beispiel Einkünfte aus Schwarzarbeit nicht angibt oder die Behörden bewusst täuscht. Ob Nothilfe dann verweigert werden darf, hat das Bundesgericht bisher offengelassen. Renitentes Verhalten allein rechtfertigt einen Sozialhilfestopp aber nicht.