Der kreative Kampf gegen Wildpinkler
Mit kreativen Ideen und viel Geld sagen Schweizer Städte Wildpinklern den Kampf an. Doch die Expertin zweifelt, dass man ihnen damit beikommt.
Veröffentlicht am 5. Juli 2019 - 15:16 Uhr
Im Hamburger Ausgehviertel St. Pauli wird Gleiches mit Gleichem vergolten: Wer rund um die Reeperbahn an eine Mauer pinkelt, dem gibt die Mauer zurück. Anwohner haben vor vier Jahren zahlreiche Wände mit einem wasserabweisenden Spezial-Lack versehen. Wie die Mauern begossen werden, so spritzen sie zurück – am besten auf Schuhe oder Hose des Verursachers. Öffentlich uriniert werde immer noch, die Situation habe sich aber verbessert, sagen die Initiatoren der Aktion «St. Pauli pinkelt zurück».
Der Wildpinkler ist auch den Bewohnern von Schweizer (Innen-)Städten bekannt. In der Regel männlich, alkoholisiert und eher nachtaktiv, verrichtet er seine Tätigkeit bevorzugt an Hausfassaden von Nebengassen, in abseits gelegenen Hauseingängen oder – wenn vorhanden – in Blumenrabatte oder an Bäume. Seine liebste Jahreszeit ist der Sommer, besonders verbreitet ist er während grosser Stadtfeste. Dann zeigt er sich auch tagsüber oft ungeniert.
Generell kommt der heutige Lebensstil und die Ausgehkultur der Spezies Wildpinkler zugute. «Mit der zunehmenden Mediterranisierung und der Entwicklung hin zu einer 24-Stunden-Gesellschaft wird das Verrichten eines Geschäfts im öffentlichen Raum immer mehr zu einer Problematik», schreibt die Stadt Luzern in trockenem Beamtendeutsch über das immer umgehemmtere Wasserlassen.
Die Schäden, die der Wildpinkler verursacht, sind in erster Linie olfaktorischer Art. Nach der Fasnacht oder dem Zürifäscht versprühen die Putzequipen hektoliterweise Anti-Urin-Mittel, um den Gestank zu tilgen. Im Alltag obliegt es hingegen den Anwohnern und Ladenbetreibern, die Spuren der Nacht zu beseitigen. Aber nicht nur der Geruch ist beissend: «Der Urin greift die Sandsteinfassaden der Altstadt-Häuser an», sagt Norbert Esseiva, Leiter der Stadtberner Orts- und Gewerbepolizei. Im deutschen Ulm hat das weltberühmte Münster derart unter der stetigen Harndusche gelitten, dass es von unten her zu zerbröseln droht.
Anders als Hamburg setzt die Schweiz bei der Bekämpfung des Wildpinklers weniger auf Vergeltung, sondern auf Anreize. Die Hoffnung ist: Wenn mehr Toiletten zur Verfügung stehen, sinkt die Notwendigkeit , sich «wild» zu erleichtern. Und vielleicht steigt die Scham.
Diese Politik kostet. Luzern hat in den vergangenen Jahren 3,5 Millionen Franken in den Ausbau der öffentlichen Toiletten investiert, St. Gallen über 4 Millionen. Zürich zahlt allein für die Reinigung und Instandhaltung der 107 Stadtzürcher WC-Anlagen jährlich 6 Millionen Franken. In der Kleinstadt Schaffhausen sind es über 100'000 Franken pro Jahr.
«Man muss den Wildpinkler studieren, um auf ihn reagieren zu können.»
Natalie Essig, Professorin für Baukonstruktion und Bauklimatik
Früher holten die Städte einen Teil dieser Ausgaben wieder mit Gebühren ein, heute ist der Gang auf öffentliche Toiletten meist umsonst. Für Menschen, die müssen, soll es keine Schranken geben. «Seitdem wir auch unsere selbstreinigenden Anlagen gratis anbieten, werden diese deutlich öfters genutzt», sagt Daniel Hofer vom Bau- und Verkehrsdepartement Stadt Basel. Vorher kosteten sie 50 Rappen.
Wie viel Wildpinkler damit verhindert werden, ist schwer zu sagen. «Wenn man sieht, wie viel Hinterlassenschaften in den öffentlichen WC-Anlagen zusammenkommen, entsprechen sie sicher einem Bedürfnis », sagt Hofer. Im Sommer stellt Basel zusätzlich vier mobile Edelstahlpissoirs und Containeranlagen am Rheinufer auf. Allein darin flossen 2015 über 45'000 Liter Urin.
Wild gepinkelt aber wird weiterhin. Daran ändern auch Bussen nichts. In Schaffhausen zahlt 200 Franken, wer beim Geschäft in der Öffentlichkeit erwischt wird. In Baden sind es 100, in Bern 90, in Luzern und Zürich 80, in St. Gallen 60 und in Basel 50 Franken.
Die Basler Polizei hat letztes Jahr knapp 200 Strafen ausgesprochen, bei den Badenern waren es dieses Jahr drei. In den anderen Städten wird öffentliches Urinieren nicht separat erfasst. «Es ist zu erwähnen, dass eine Ordnungsbusse nur dann ausgestellt werden kann, wenn die Widerhandlung von der Polizei beobachtet wurde. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Personen mit derartigen Übertretungen eher zurückhalten, wenn die Polizei vor Ort präsent ist», schreibt die Luzerner Stadtpolizei.
Gibt es gar keine Lösung? «Man muss den Wildpinkler studieren, um auf ihn reagieren zu können», sagt Natalie Essig von der Universität München. Die Professorin für Baukonstruktion und Bauklimatik ist wohl die erste Expertin für öffentliches Urinieren. Mit ihren Studenten hat sie rund um die Heimspiele des FC Bayern das Verhalten von Wildpinklern untersucht und sie nach ihrer Motivation befragt. «Meist gibt es einen Initianten der das freie Wasserlassen eröffnet. Ein Alpha-Männchen, das sein Revier markiert.» Ihm würden andere folgen. «Ziel muss es sein, diese Anführer auf die Toilette zu bringen.»
Keine Lösung sind für Essig mobile Toiletten aus Plastik, wie sie Festveranstalter gerne einsetzen. Viele empfänden sie als hässlich, stinkig und fühlten sich darauf nicht wohl. «Wer Wildpinkler zähmen will, kommt um ästhetisch ansprechende Installationen nicht herum.»
Die Stadt Zürich hat sich diesen Ratschlag zu Herzen genommen. Diesen Frühling stellte sie an 17 Orten mobile Komposttoiletten aus Holz auf. In den heimelig gestalteten Häuschen gibt es ein Pissoir, eine Sitztoilette, WC-Papier und Desinfektionsgel, aber keine Spülung. Die Ausscheidungen und das Papier deckt man mit Holzspänen zu, die man mit einer kleinen Schaufel aus einem Behälter entnimmt. Dadurch stinken die Toiletten nicht und der Inhalt kann später kompostiert werden. Monatlich zahlt die Stadt pro Häuschen 800 Franken für Miete und Reinigung. Die Rückmeldungen auf den Versuch seien äusserst positiv, schreibt sie. «Die Nutzerinnen und Nutzer schätzen das Angebot.»
Auch St. Gallen glänzt mit kreativen Ansätzen. Bereits vor zehn Jahren hat die Stadt in der Umgebung des Fussballstadions in Winkeln zwei sogenannte Urilifte installiert: Pissoir-Kombinationen in der Form eines Zylinders, die direkt an die Kanalisation angeschlossen sind und die bei Nicht-Gebrauch in den Boden versenkt werden können. Drei Männer auf einmal können sich so auf dem Weg zum Stadion erleichtern. «Die Massnahme hat die Situation für die Anwohner bezüglich Wildpinklerei verbessert», heisst es bei der Stadt.
Keine Verwendung gefunden hat in der Schweiz hingegen der Pariser Uri-Blumentopf, ein in Blumenkisten eingebautes Pissoir. Da er kaum als Urinal erkennbar ist, kann er an jedem Strassenrand aufgestellt werden. Berühmt war etwa der Topf auf der Seine-Insel Saint-Louis. Die Stadt Bern hat sich vor Jahren überlegt das System zu testen, die Idee aber wieder verworfen. Männer, die in aller Öffentlichkeit Wasser lassen, fand man in der Bundesstadt nicht opportun. Auch in der französischen Hauptstadt sind die Blumentöpfe mit Spezialfunktion wieder aus dem Stadtbild verschwunden.
«Die eine Patentlösung gibt es nicht», sagt Professorin Essig. Helfen könne nur ein Mix aus Prävention und Sensibilisierung. Der Wildpinkler sei eine vorwiegend nord- und mitteleuropäische Spezies. In Japan zum Beispiel käme öffentliches Urinieren so gut wie gar nicht vor. «Solange Wildpinkeln bei uns gesellschaftlich einigermassen akzeptiert ist, wird es den Wildpinkler geben.»