Julijana Funk streicht sich eine Strähne ihres rostroten Haars aus dem Gesicht, legt sorgfältig die Hände auf den Tisch und sagt: «Ich erinnere mich nicht. Nur vor den Unfall, ich hatte einen Termin wegen meines Sohns. Es ist, wie sagt man … ein Blackout. Vielleicht ist das besser für mich…»

Julijanas Schwester Ivana Andjelkovic sagt: «Ich hatte um etwa 16.30 Uhr versucht, Julijana anzurufen. Aber ihr Telefon war aus. Das war eigenartig.» Ivana Andjelkovic hat kräftige Hände, sie betreibt in Dietikon eine Physiotherapiepraxis.

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Sie hat nur nach links geschaut

Zu diesem Zeitpunkt liegt die 51-jährige Ärztin schwerstverletzt und ohne Bewusstsein auf dem Asphalt der Bremgartnerstrasse in Dietikon. Es ist der 13. November 2012. Sie hat das Rotlicht übersehen und beim Überqueren der Strasse nur nach links geschaut. Und ist vom 193 Tonnen schweren Triebwagen der Bremgarten–Dietikon-Bahn erfasst worden. Er kam von rechts.

«In der Rehaklinik Bellikon sind sie einmal gekommen … die Case-Managerin und die Polizei mit dem Video aus dem Zug», sagt Julijana. «Nein, nein», widerspricht Ivana. «Meine Schwester erzählt alles ein bisschen durcheinander. Es waren Leute von der Bahn. Sie brachten einen Laptop mit dem Video vom Unfall mit. Ich habe Julijana gesagt, sie soll es sich nicht anschauen.»

Die kurze Videosequenz aus der Cockpitkamera zeigt in wenigen Einzelbildern eine Fussgängerin. Diese geht die Bremgartnerstrasse entlang. Der Zug nähert sich. Unvermittelt tritt die Frau vor der Lokomotive auf die Strasse. In der nächsten Einstellung ist sie verschwunden. Man sieht nur noch, dass der Zug nach einigen Dutzend Metern zum Stillstand kommt.

«Warum ist das passiert?»

«Ich habe geschaut, aber nichts erkannt. Ich fühlte mich einfach … sehr traurig. Ich habe keine Antworten. Nur Fragen, Fragen … Warum ist das passiert?», sagt Julijana.

Bei der Einvernahme durch die Polizei erklärte die Wagenführerin: «Auf dem linken Trottoir ging eine Frau in Richtung Bremgarten. Mir fiel auf, dass sie immer mehr Richtung Strasse zog. Ich gab ein Signal, das heisst, ich pfiff. Kurz darauf ‹klöpfte› es.» Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen die Wagenführerin eingestellt.

«Als mich die Wagenführerin in Bellikon besuchte, war ich gar nicht wütend auf sie. Im Gegenteil, ich war glücklich», sagt Julijana. 

«Manchmal gehts gut, manchmal nicht so. Dann denke ich, morgen kommt ein neuer Tag. Im Moment bin ich sehr traurig.»

Julijana Funk, Ärztin und Unfallopfer

«Ja, aber damals war sie verwirrt. Sie wusste gar nicht, wer das ist», erklärt Ivana. «Du warst depressiv. Ich habe gesagt ‹schau, diese Frau hat den Zug gefahren›, und du hast nachher gesagt, ‹ich weiss nicht, warum sie da war›.» Julijana hört zu, doch ihr Blick geht ins Leere.

Sie hat in Nis bei Belgrad ein Labor für Mikrobiologie geleitet, bevor sie 2010 in die Schweiz kam. Hier wollte sie sich eine neue Zukunft aufbauen. Sie lernte jeden Tag vier Stunden Deutsch, verschickte Bewerbungen. Als der Unfall geschah, hatte sie eine Stelle in einer Klinik in Aussicht.

Beim Aufprall erlitt Julijana Funk mehrere Brüche des Schädelknochens, eine Gehirnblutung und Verletzungen an Schulter und Knie. Sie verbrachte fünf Monate in der Rehaklinik Bellikon. Bei ihrem Austritt diagnostizierte ein Psychiater eine durch den Unfall verursachte Persönlichkeits- und Verhaltensstörung.

Als weine sie, ohne es zu wissen

«Sie ist nicht mehr die Frau, die sie war. Sie merkt das wahrscheinlich gar nicht so richtig», sagt Ivana. «Doch, ich merke das schon», sagt Julijana. Ihr Dasein scheint ihr wie ein Rätsel vorzukommen, es ist ein ständiges Staunen und Wundern über sich und die Welt. «Sie sagt manchmal, heute sei ihr, wie wenn jemand anderes aus ihrem Kopf schaue. Dann muss sie viel schlafen, hat starke Kopfschmerzen», erzählt Ivana.

Nach dem Aufenthalt in Bellikon vermittelte ihr die Suva ein Praktikum im Zürcher Tierspital. Zum ersten Mal während des Gesprächs huscht ein Lächeln über Julijana Funks Gesicht. «Ich war erstaunt, dass ich einen Parasiten durch das Mikroskop erkannt habe. Manche Bakterien erkenne ich am Geruch, den sie in der Petrischale haben. Die Arbeit mit Bakterien und Mikroben ist sehr spannend.» Dann verstummt sie wieder. «Aber das war halt nur ein Praktikum … vielleicht wegen meiner geringen Belastbarkeit …»

«Ich liebe den Arztberuf. Die Suva hat gesagt, ich müsse etwas anderes machen. Ich möchte aber nicht.»

Juljana Funk, Ärztin und Unfallopfer

In der Sprache der Neurologie lautet Julijana Funks Zustand: neuropsychologische Störung nach traumatischer Hirnverletzung mit rechtsbetonter Läsion des zentralen Balkens und axonalen Scherverletzungen hoch frontal und okzipital links. Eine Rückkehr in den Beruf als Ärztin ist nicht mehr möglich, heisst es im versicherungsmedizinischen Bericht der Suva.

«Ich liebe den Arztberuf und habe ihn gut gemacht. Die Suva hat gesagt, ich müsse etwas anderes machen. Ich möchte aber nicht … Es fällt mir schwer, Neues zu lernen. Was schon da war, das geht noch.» «Sie vergisst alles, was sie lernt», erläutert ihre Schwester.

«Ja, das … wie heisst es …», Julijana Funk zeigt auf ihre Schläfe, «… das Kurzzeitgedächtnis. Ich muss immer Zettel schreiben für den nächsten Tag. Es ist schwierig, wenn ich einen Termin habe.» Sie wischt sich mit dem zerknüllten Taschentuch eine Träne aus den Augen. Es ist, als weine sie, ohne es zu wissen.

Die Bahn lehnt die Haftung ab

«Für mich ist es sehr schwer, Julijana so zu sehen», sagt Ivana. «Sie hat Stimmungsschwankungen. Dann ruft sie an und sagt, ich solle zu ihr kommen. Ich sehe, wie sie nicht richtig denkt, wie sie vergesslich ist. Sie verpasst Termine, verirrt sich.»

Julijana schaut ihrer Schwester konzentriert ins Gesicht. «Manchmal gehts gut, manchmal nicht so. Dann denke ich, morgen kommt ein neuer Tag. Im Moment bin ich sehr traurig. Und denke an Euthanasie und, ja …, dass das für mich am besten wäre. Ivana wird dann ein bisschen ärgerlich und sagt, ich sei ja nicht normal.» Ihre Schwester schweigt.

Funks Anwalt Frank Goecke hat gegen die Bremgarten–Dietikon-Bahn (BDWM) eine zivilrechtliche Haftungsklage eingereicht. Er möchte, dass die BDWM Julijana Funk mit 90000 Franken entschädigt. Am Unfallort fahre die Bahn direkt auf der Strasse. Der Fussgängerübergang sei mit einer Signalanlage nur unzureichend gesichert. Zudem habe die Wagenführerin zu spät gewarnt und gebremst. «Das Mitverschulden von Frau Funk ist absolut unbestritten. Gleichwohl wäre es in meinen Augen äusserst stossend, wenn die Bahn nicht einmal zu einer finanziellen Leistung verurteilt würde», sagt Goecke.

Die BDWM lehnt die Haftung ab. Der Übergang sei vom Bundesamt für Verkehr als sicher eingestuft worden. «Für uns ist Sicherheit oberstes Ziel, und wir bedauern jeden Unfall. In diesem Fall wurde er aufgrund der Missachtung der Verkehrsregeln durch die Fussgängerin hervorgerufen», sagt Bahn-Chef Severin Rangosch.

Freude an den kleinen Dingen

«Julijana ist sehr gläubig», erklärt Ivana Andjelkovic. «Sie fragt mich, ob Gott sie bestraft hat. Ob sie etwas falsch gemacht hat. Meine Schwester ist auch sehr empfindlich geworden. Wenn sie glaubt, sie habe jemanden geärgert, nimmt sie sich das sehr zu Herzen.»

Julijana Funk lauscht ihrer Schwester. «Heute bin ich sehr enttäuscht. Mein Coiffeur hat mich wegen der Haarfarbe nicht richtig verstanden. Ich wollte sie nicht wie Kartoffeln …» – «… du meinst Karotten», unterbricht Ivana und lacht.

Auch in Julijanas Stimme kommt jetzt Leben. Sie legt sich ihre Haare zurecht. «Das ist meine kleine Sache, die mich glücklich macht … Ich versuche, mich an kleinen Dingen zu erfreuen. Ein bisschen schönes Make-up … Und manchmal küsse ich meine Schulter, dass die immer noch da ist.» Sie beugt unvermittelt ihren Kopf zur Schulter. Und während sie diese küsst, huscht ganz kurz ein mädchenhaftes Lächeln über ihr Gesicht.

So hilft SOS Beobachter

Die Stiftung SOS Beobachter leistete in diesem Fall Rechtshilfe.

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