«Auch du wirst mal ein Chrugelchopf», verfolgt mich die Stimme meiner Mutter. Falten fallen nicht weit vom Stamm. Lachfalten, Denkfalten, Sorgenfalten, Zornesfalten. Truthahnhälse, Krähenfüsse, «Bunny Lines» (Falten auf dem Nasenrücken; und nein, das muss man nicht wissen).

Wir alle kriegen «chruglige» Gesichter. Selbst mein einjähriger Gottibueb trägt die Skepsis schon auf der Stirn. «Jänu», sagt meine Mutter, «gschääch nüt Schlimmers!»

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In meinen Zwanzigern waren mir Falten wurst. Wie Knieschmerzen oder Krampfadern gehörten sie in eine ferne Zukunft, höchstens als «Schlirgg» am Horizont zu erahnen. Irgendwann einmal, dachte ich. Und schwupps, ging es dann doch ganz schnell: Meine Dreissiger klopften an die Tür. Mit im Gepäck: eine Pandemie.

Corona und das eigene Ich

In Zoom-Calls starrte ich so oft in mein eigenes Gesicht, wie ich es zuletzt als Teenager getan hatte. Uff, war ich fasziniert! Klar, auch im Spiegel sehe ich mich ab und an. Da bleibt mein Gesicht aber statisch – auf dem Bildschirm sprach, lachte, gähnte es. Es freute, nervte, langweilte sich. Und plötzlich tauchten sie auf: fragende Wellen auf der Stirn, genervte Gräben zwischen den Brauen, asymmetrische Halbmonde um den Mund. Oha?

Schneller Einschub: «Jaja, Blabla», denken Sie vielleicht. Ein «junger Schnuufer», der sich über das kalte Wasser beschwert, obwohl gerade erst ein Zeh drinsteckt. Aber bleiben Sie bei mir, denn – steile These – wir altern alle. Ich mit 33, Sie mit 46, 62 oder 91. Und egal, wie jung wir uns drinnen fühlen; draussen zeichnet sich die Veränderung ab. Durch Falten, Haarausfall, Silbersträhnen, Pigmentflecken, Tränensäcke oder Cellulite. Einigen ist das schnurzpiepegal. Den meisten aber nicht.

Das hat mit Selbstbewusstsein zu tun. Und mit abgenutzten Schlagworten: Kapitalismus, Patriarchat, Altersdiskriminierung. Aber von vorne.

«Halo-Effekt» in der Welt der Schönen

Attraktive Menschen haben es leichter im Leben, das ist bekannt. Sie angeln sich Jobs, Wohnungen, Beziehungen. In der Wissenschaft nennt sich das «Halo-Effekt»: Eine Eigenschaft überstrahlt alle anderen wie ein Heiligenschein (englisch: halo). Wer gut aussieht, gilt als vertrauenswürdig, sympathisch und kompetent. Nur: Schönheit ist nicht objektiv. Was gefällt, definiert ein ominöser Zeitgeist. Mal waren es geschminkte Männer mit gelockten Perücken, dann füllige Frauen mit Porzellanteint, später Wespentaillen und Solariumbräune.

Kurze Übung: Schliessen Sie die Augen und stellen Sie sich einen betörend schönen Menschen vor. Mit grosser Wahrscheinlichkeit sehen Sie eine Frau. Hochgewachsen, schlank, weiss. Wallendes Haar, grosse Augen, volle Lippen. Ein Klischee? Natürlich. Aber eines, das fest in den Köpfen ankert. Das in der Werbung, auf sozialen Medien und im Fernsehen reproduziert wird. Das vorherrschend bleibt, obwohl sich einzelne Unternehmen um Diversität bemühen.

Im Vergleich ist unser Haar fettig, das Gesicht picklig, die Brüste hängen, der Po schwabbelt. Wir sind zu haarig, zu füllig, zu burschikos, zu klein, zu wenig muskulös, zu viel von allem. Je älter, desto schlimmer. Einst pralle Pfirsiche, gleichen wir bald runzligen Früchten auf barocken Gemälden. Vanitas winkt – hallo, Vergänglichkeit!

Ein Retter naht! «Das muss nicht sein», verspricht der Markt. Alle dürfen, können, sollen sich optimieren. Niemand muss mehr hässlich sein, denn für jedes Problem gibt es ein Produkt: Jade-Roller für straffe Haut, Detox-Säfte zur Entgiftung, Kältekammern gegen Krampfadern. Willkommen im Kapitalismus! Hier werden Bedürfnisse nicht nur befriedigt, sie werden auch gleich geschaffen. Wer nicht mitmacht, ist selbst schuld.

Die Attraktivität der Frau als soziales Kapital

Meine Freundinnen färben Haare, bleachen Zähne, cremen Bräune auf die Beine. Sie rasieren, lasern oder waxen. Tragen Make-up, Kontaktlinsen, Acrylnägel, Extensions und unsichtbare Zahnspangen. Fast jede hat schon eine Diät gemacht. Manche experimentieren mit Botox, andere träumen von Eingriffen. Männer stemmen Gewichte, zählen Kalorien, hamstern Proteine. Ein Freund reiste für eine Haartransplantation in die Türkei, ein anderer will seine Locken mit einer Eigenbluttherapie retten.

Und doch trifft der Schönheitswahn Frauen stärker. Sie bleiben die primäre Zielgruppe einer wachsenden Beauty-Industrie. Die Gründe wurzeln unter anderem in patriarchalen Strukturen. Lange Zeit bestimmten Männer den öffentlichen Raum – als Politiker, CEOs, Staatsoberhäupter. Sie waren erfolgreich, verdienten Geld, umsorgten Familien. Auch Frauen arbeiteten hart, mussten daneben aber präsentierbar sein. Je besser das klappte, desto eher wurde man zur Geliebten, Ehefrau und Mutter, so das Narrativ.

Obwohl sich vieles geändert hat, wird auch heute noch zwischen dem starken und dem schönen Geschlecht unterschieden. Lässt die Attraktivität einer Frau nach, geht ein Teil ihres sozialen Kapitals verloren. Ein weiteres Problem: Schönheit wird oft mit Jugend gleichgesetzt.

Besonders deutlich zeigt sich das in Film und Fernsehen. Da gibt es Frauen in drei Ausführungen: sehr jung, jung und richtig alt. Taucht das mittlere Alter mal auf, dann häufig realitätsfremd: jugendlich, faltenfrei, durchtrainiert. In den 100 erfolgreichsten Hollywood-Filmen waren laut einer Studie zwar 41 Prozent der Rollen weiblich, aber nur 7 Prozent älter als 45 Jahre. Bei den Männern waren es immerhin 27 Prozent. Eine andere Untersuchung zeigt: Zwischen 2010 und 2020 war weniger als ein Viertel aller Rollenbesetzungen in Filmen und Serien älter als 50, nur eine von fünf weiblich.

Kein Wahn um Alterung

Hollywood ist zwar weit von unserem Alltag entfernt – Popkultur prägt allerdings, woran wir uns orientieren. Wie hat frau mit 50 auszusehen? Wo ist ihr Platz in der Gesellschaft? Die gute Nachricht: Immer mehr Promis wehren sich gegen den Jugendwahn. Auch in der Arbeitswelt und den Medien wird Altersdiskriminierung häufiger thematisiert. Das löst Probleme zwar nicht von heute auf morgen, normalisiert aber zumindest einen Prozess, der uns alle betrifft.

Wie wird es mir ergehen, wenn ich mal 46, 62 oder 91 bin? Werde ich gestresst, gelassen oder gleichgültig sein? Vielleicht lese ich irgendwann diesen Text nochmals und rege mich über die Naivität eines jungen Schnuufers auf; creme Cellulite weg, jaderolle Runzeln und jäte graue Haare vom Kopf. Oder ich freue mich – über Lachfalten, «First World Problems», den Lauf der Zeit.

«Auch du wirst mal ein Chrugelchopf», das kriegt mein Gottibueb bestimmt eines Tages zu hören. Wie der Urgrossvater, die Nonna, der Papa, das Gotti. «Jänu», werde ich ihm dann sagen. «Gschääch nüt Schlimmers!»