«Nicht sicher»: Vielen Seilbähnli droht das Aus
Viele Schweizer Kleinseilbahnen sind bedroht, weil die Behörden Sicherheitsmängel festgestellt haben. Doch die Besitzer wehren sich gegen die teuren Auflagen.
aktualisiert am 3. August 2017 - 10:36 Uhr
Die rote Gondel schaukelt sanft über die Baumwipfel. Der Wanderweg, der sich in engen Kurven den Berg hinaufschlängelt, wird kleiner und kleiner. Die Menschen wirken aus der Luft wie Spielzeugfiguren. Die Seilbahn surrt, sie schwebt in gemächlichem Tempo immer weiter den Berg hinauf.
Vor der Bergstation wartet Sepp Durrer. Er ist Mitte 60, weisses Hemd und feste Schuhe, sonnengebräuntes Gesicht und graue gekrauste Haare. Die Hände hat der Bergbauer rechts und links in die Taille gestemmt, die Ellbogen nach vorn gedrückt. «Unsere Seilbahn soll weg», sagt Durrer und schüttelt nachdenklich den Kopf. «Angeblich entspricht sie nicht mehr den heutigen Anforderungen.»
Seit 1928 verbindet eine Seilbahn Durrers Bergbauernhof mit dem Nidwaldner Dorf Oberrickenbach. Sie wurde seither mehrmals instand gestellt und einmal total erneuert. Doch Ende Jahr soll Schluss sein. Die Prüfstelle des IKSS hat bei der Kontrolle Mängel festgestellt, die die Sicherheit beeinträchtigen. IKSS steht für Interkantonales Konkordat für Seilbahnen und Skilifte. Es prüft im Auftrag von 21 Kantonen jährlich die Kleinseilbahnen. Bei Sepp Durrers Bähnli stellte das IKSS etwa fest, dass eine sogenannte Zugseilüberwachung fehlt. Wenn das Zugseil aus der Führung springe, sei die Sicherheit der Passagiere nicht mehr gewährleistet.
Daraufhin verfügte der Kanton, dass der Mangel bis Dezember 2017 behoben sein müsse. Doch die geforderte Anpassung ist teuer. Durrer spricht von bis zu einer halben Million Franken – zu viel für sein Budget. Er beurteilt den Sachverhalt zudem anders als das IKSS. Für ihn ist klar: «Unsere Seilbahn ist auch ohne Zugseilüberwachung sicher. Es hat noch nie ein Problem gegeben.»
Für Durrer und seine Familie ist die Seilbahn mit der roten Gondel die Nabelschnur ins Tal. Als Kind fuhr er jeden Tag damit zur Schule, wie das später seine zwei Söhne getan haben. Sein Hof ist abgelegen. Ausser ein paar Wanderwegen führt nur eine befahrbare Strasse in die Nähe. Sie ist etwa einen halben Kilometer entfernt. Eine direkte Zufahrt zum Hof gibt es nicht. Und die ungeteerte Strasse mit Steinen und Schlaglöchern ist nur für landwirtschaftliche Fahrzeuge geeignet.
Pro Richtung befördert eine Kleinseilbahn maximal acht Personen. Durrers Bahn bietet Platz für vier Leute, die total nicht mehr als 320 Kilo wiegen dürfen. Für die Familie ist sie das einzige Transportmittel, das ganzjährig verfügbar ist. Es befördert aber nicht nur Familienmitglieder, sondern auch Touristen, Tourenskifahrer und Alpmitarbeiter. Eine zweite Kleinseilbahn führt vom Hof auf die Alp Sinsgäu auf knapp 1700 Meter über Meer.
Am Gurt trägt Durrer immer ein Handy-Etui aus schwarzem Leder. Der Bergbauer ist allzeit bereit. Wer die Seilbahn benutzen will, wählt seine Nummer, sie ist an der Berg- und der Talstation angeschlagen. Kampflos will er sie nicht aufgeben, zu einschneidend wären die Konsequenzen: «Wir müssten den Bauernhof auf Sommerbetrieb umstellen, denn der Bau einer wintersicheren Zufahrt käme uns zu teuer.» Mehrere hunderttausend Franken müsste er dafür hinblättern. Die Schneeräumungskosten nicht inbegriffen.
Schützenhilfe erhält Durrer von Ueli Schmitter. Auch er ist Bergbauer, wohnt mit der Familie an einem Steilhang über Wolfenschiessen NW. Schmitter betreibt selber eine private Kleinseilbahn. Seine Kinder fahren damit täglich zur Schule. Ohne das Bähnchen wären sie jeden Tag drei Stunden zu Fuss unterwegs.
Schmitter hat im Juni zusammen mit Gleichgesinnten den Verein «Freunde der Kleinseilbahnen» ins Leben gerufen. Er findet, das IKSS schiesse mit seinen Prüfungen übers Ziel hinaus. «Sepp Durrer ist kein Einzelfall», sagt Schmitter. Vielen anderen Kleinseilbahn-Betreibern gehe es ähnlich. «Die Sicherheit ihrer Bahnen ist zwar seit Jahrzehnten gewährleistet. Doch nun verlangt das IKSS plötzlich unnötige, sehr teure Anpassungen.»
Im Fall von Durrer hoffen die «Freunde der Kleinseilbahnen» nun auf eine einvernehmliche Lösung. Schmitter will sich mit der Aufsicht auf einfache, günstige Anpassungen einigen. Das könne etwa die Installation einer Videoüberwachung sein. Dank Kameras könnte Durrer das Geschehen auf der Seilbahnstrecke ständig überblicken. Die «Freunde» hoffen, damit eine teure Sanierung abzuwenden. Zumindest vorerst.
Eine wichtige Figur im Kampf für die Kleinseilbahnen ist Reto Canale, von 2003 bis 2012 Direktor des IKSS. Er engagiert sich für die Bähnchen und hat Sepp Durrer seine Unterstützung zugesagt. Er haut in dieselbe Kerbe wie Schmitter: «Das IKSS setzt die Seilbahnbetreiber mit unnötigen Auflagen unter Druck. Aus wirtschaftlichen Gründen sehen sich manche zum Aufgeben gezwungen.»
Reto Canale ist mit Leib und Seele Seilbähnler. «Mich fasziniert in erster Linie die Technik», sagt er und fügt an: «Die sind sehr sicher und erschliessen umweltverträglich und wirtschaftlich Alpen und Naherholungsgebiete in der Schweiz, die sonst nicht zugänglich wären. Dazu kommt: Viele ältere Bahnen sind erhaltenswerte Kulturgüter, die geschützt werden müssen.» Er spricht von rund 200 Kleinseilbahnen in den Schweizer Bergen. «Ich schätze, dass etwa die Hälfte davon durch unsinnige Forderungen des IKSS bedroht ist.»
Canale verweist auf das Seilbahngesetz, das es seit 2007 gibt. Mit ihm habe die Schweiz international harmonisierte technische Normen für neue Seilbahnen eingeführt, sagt Canale. Das Problem sei allerdings, dass das IKSS die neuen Regelwerke oft auf Bahnen anwende, die vor 2007 nach den damaligen Regelungen gebaut wurden. Das sei nicht richtig. «Das Seilbahngesetz sieht ausdrücklich vor, dass man alte Bahnen grundsätzlich so weiterbetreiben darf, wie sie einst gebaut wurden.»
In Canales Worten schwingt auch Bähnchen-Nostalgie mit. Mit seiner Passion ist er nicht allein. Auch bei Touristen sind die Kleinseilbahnen beliebt. Besonders wenn sie über eine originelle Gondel verfügen wie zum Beispiel das Niederberger Schiffli, eine Art seitlich offene Holzkiste mit Metalldach, in die sich maximal drei Personen setzen dürfen.
IKSS-Leiter Ulrich Blessing relativiert die Kritik. Die grosse Mehrheit der Kleinseilbahnen sei nicht gefährdet, deren Betreiber nähmen ihre Sorgfaltspflicht wahr. Die Zahl der Kleinseilbahnen sei in den letzten Jahren kaum zurückgegangen. Für ihn ist klar: Die vom IKSS geforderten Massnahmen sind in allen Fällen rechtens und verhältnismässig. Der vom Gesetz gewährte Spielraum werde bereits heute ausgenutzt. «Manche Kleinseilbahnen, die vor Jahrzehnten zur Erschliessung von Bergliegenschaften erstellt wurden, haben mittlerweile ihre Funktion verloren. Viele Liegenschaften sind heute mit einer Strasse erschlossen», so Blessing.
Sein Vorgänger Reto Canale sieht das anders. Er verweist auf einen seiner Meinung nach exemplarischen Fall, in dem vorerst eine gütliche Einigung erzielt werden konnte. Es geht um Jürg Trionfini, der eine Kleinseilbahn oberhalb von Vitznau LU besitzt.
Die Hiobsbotschaft erreichte den Luzerner im Herbst 2015. Er stand auf der Terrasse seines Gasthauses Wissifluh, ein erhabener Ort mit Blick über den Vierwaldstättersee und die Alpen. «Ich hatte das Gefühl, ich würde den Boden unter den Füssen verlieren. Im Schreiben wurde mir angedroht, die Seilbahn könnte stillgelegt werden.» Absender war das zuständige Amt im Kanton Luzern. Es stützte sich auf einen Bericht des IKSS. «Aufgelistet waren fünf Mängel, die angeblich die Sicherheit der Seilbahn gefährden.»
Wenn Trionfini von dem Brief erzählt, gerät er auch heute noch in Rage. Seit 29 Jahren wirtet er mit seiner Frau Sylvia auf der Wissifluh. Die beiden haben zwei erwachsene Kinder. Neben dem Hotel und dem Restaurant sichert die Landwirtschaft ihre Existenz. Sylvia und Jürg Trionfini halten Rätisches Grauvieh und ein paar Wollschweine, daneben züchten sie Bienen. Die Seilbahn ist der Lebensnerv der Wissifluh. Ausser ihr führt nur ein Wanderweg zum Bergbauernhof. Das Ehepaar ist überzeugt: «Die Schliessung der Seilbahn wäre das Ende gewesen.»
Die rote Gondel überwindet pro Fahrt gut 500 Höhenmeter. Die Bergstation befindet sich auf knapp 1000 Metern über Meer, fünf Minuten Fussweg vom Gasthaus entfernt. Wer mit der Bahn fahren will, muss sich mit dem Telefon in der Berg- oder der Talstation anmelden. Von der Küche aus geben die Wirtsleute dann den Fahrbefehl. Mit Hilfe einer Videoüberwachung kontrollieren sie, wann sie die Bahn losschicken können.
Nach dem ersten Schock über den Brief beschlossen die Trionfinis, sich zu wehren. Sie wandten sich an Reto Canale, der sich schon tags darauf in Vitznau ins Bähnchen setzte und auf die Wissifluh gondelte. Mit Hilfe eines Anwalts verlangten die Trionfinis in der Folge eine erneute Überprüfung ihrer Kleinseilbahn. Der Protest hatte Erfolg: Die Wissifluh-Bahn darf weiterfahren – zumindest vorläufig.