Mein Rasenmäher heisst Dudu», sagt Peter Stamm. 
«Dudu?»
«Dudu.»
Ich bin enttäuscht. Von einem Schriftsteller hätte ich mehr erwartet.
«Es gibt diesen Film über Dudu, einen gelben VW Käfer. Es war der erste Film, den meine Freundin im Kino gesehen hat.» 
Na gut. 
Wir stehen in unseren Socken vor einem Fleck Kunstrasen. Ein Roboter dreht seine Runden, Stamm macht sein Gesicht. Grüblerisch, zwei senkrechte Falten zwischen den Brauen. 
«Ich glaube, Dudu ist in den Rasenmäher der Nachbarn verliebt. Die sind einander immer so zugewandt.» 
Die geheime Liebe der Robomäher. Von einem Schriftsteller hätte ich nichts anderes erwartet.

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Was machen die da?, fragen Sie sich vielleicht. 

Nun: Wir besuchen «Natur. Und wir?», die aktuelle Ausstellung im Stapferhaus Lenzburg AG. Die Schuhe hat man uns am Eingang abgenommen – wir sollen die Räume mit allen Sinnen erkunden. Für nackte Füsse kennen wir uns aber zu wenig.

Er mag Spinnen

Bald schlüpfen wir durch schwarze Stoffnudeln in einen grösseren Raum. Ins dunkelblaue Licht, das mal Wellen und mal Wolken wirft. Zwischen Vorhänge, auf die erst Pinguine, dann Spinnen projiziert werden. 

«Ich mag Spinnen», sagt Stamm. 
«So richtig?»
«Ich trage sie zumindest nicht aus der Wohnung.»
«Ich hasse Schnecken.»
«Nacktschnecken mag ich auch nicht.»
Wir flüstern. Das tut man so, wenn es dunkel ist. 

Was zum Teufel machen die da?, wundern Sie sich vielleicht noch immer. 

Als ich das erste Mal in der Ausstellung stand, dachte ich an Peter Stamm. Sie widmet sich der Beziehung von Mensch und Natur. Es ist eine voller Spannungen: Wir erholen uns im Grünen und fürchten uns vor der Wildnis. Wir wollen das Unberührte bewahren, aber keine individuellen Abstriche machen. Wir sind Naturgewalten ausgesetzt, die Umwelt unseren Maschinen. 

Einer wie Stamm passt doch hier rein, fand ich. Als Schriftsteller, der seit einem Vierteljahrhundert über Suchende schreibt. Über Figuren, die durch Wälder irren, auf Flüssen paddeln, im Schnee spazieren. Die sich verlieren, hinterfragen und verschwinden. Welcher Platz steht uns zu? Wer wollen wir sein? Was bleibt, wenn wir nicht mehr sind? Einer wie Stamm, der weiss das vielleicht. Als Mitglied der Grünen, das sich seit vier Jahrzehnten für die Umwelt einsetzt. 

Nicht zuletzt ist da ein Roman, der uns beide und die Ausstellung verbindet: «Die Wand» von Marlen Haushofer, 1963 erschienen. Vor zwei Jahren bat ich Peter Stamm um einen Buchtipp für den Beobachter. Für den Text hatte er keine Zeit, den Tipp gab er mir trotzdem. 

Im Roman reist eine Frau für ein paar Tage in die Berge. Als sie am ersten Morgen erwacht, sind ihre Begleiter verschwunden. Auf der Suche stösst sie an eine unsichtbare Wand, hinter der sie tote Menschen und Tiere sieht. Die Frau bleibt verschont, ist aber gefangen. Bald lebt sie von Früchten und Tieren, die Distanz zu ihrem früheren Leben wächst. Der Roman wird häufig als Zivilisationskritik gelesen: Der Mensch im Überfluss wird in seinen natürlichen Zustand zurückversetzt. Mal sehen, wie er sich schlägt. Das passt, dachte ich mir: Natur und Literatur, «Die Wand» und der Stamm.«Sie und ich, wir sollten gemeinsam ins Stapferhaus», schrieb ich ihm deshalb. «Das können wir gern probieren», antwortete er.

Peter Stamm im Stapferhaus

«Nein, ernsthaft: Ich bin Schriftsteller. Natürlich könnte ich aktivistisch schreiben, aber für mich passen Literatur und Politik nicht zusammen.»

Quelle: Hanna Jaray

Lieber draussen als drinnen

Wir probieren es an einem Mittwoch im Januar. Es ist ein kalter, hässlicher Tag. Trotzdem stehen wir oft draussen, weil Stamm raucht. Vor dem Cappuccino, der Ausstellung, dem Essen – eigentlich vor allem, was er tut. Von Natur ist hier nicht viel zu sehen: eine Bank, der Bahnhof, ein Parkplatz. Drunter, drüber, dazwischen: grau. Schon fast wünscht man sich in Haushofers grünes Gefängnis. 

«‹Die Wand› ist ein grandioses Buch», findet Stamm noch immer. «Mich fasziniert das Kippen der Natur, der schnelle Wechsel von Idylle zu Gefahr.» In seiner eigenen Erzählung «Jedermannsrecht» geraten zwei Kanufahrer in ein gefährliches Gewitter. Auch in anderen Geschichten kommt das Wetter oft vor. «Meine Figuren sind eben lieber draussen als drinnen», sagt Stamm. Im Nebel, Schnee und Regen. Dort schwimmen, spazieren und rauchen sie. Dort suchen sie nach Antworten. Und doch drängt sich die Umwelt nie in den Vordergrund. 

Aktivismus oder politische Parolen sucht man in seinen Erzählungen vergebens. Dabei kämpfte er schon mit 20 gegen eine Umfahrungsstrasse in seiner Heimat Weinfelden TG. Nach dem Erfolg schloss er sich den Grünen an und blieb der Partei bis heute treu. Auf der Liste für den Zürcher Kantonsrat fand man Peter Stamm auch schon. «Nur zur Unterstützung», wie er betont, Politiker wolle er nicht sein. Weshalb? «Zu viele Sitzungen!» Ein bübisches Schmunzeln. «Nein, ernsthaft: Ich bin Schriftsteller. Natürlich könnte ich aktivistisch schreiben, aber für mich passen Literatur und Politik nicht zusammen.» Er selbst nehme Bücher nicht ernst, die mit politischen Botschaften überfrachtet sind. 

Es gebe ja auch andere Themen, die in seinen Geschichten nicht vorkommen. Essen zum Beispiel. «Ich weiss gar nicht, warum, ich koche extrem gern! Meine Figuren trinken und rauchen, aber essen müssen sie nicht.» 

Zwei schlechte Menschen

Rauchpause. Dann geht es von der grauen in die blaue Natur; vom garstigen Draussen ins gemütliche Drinnen. Über Sand und Kieselsteine, hin zu einem moralischen Dilemma: «In welcher Reihenfolge soll die Feuerwehr im Ernstfall Leben retten?», steht auf einer Wand. Im brennenden Gebäude befinden sich Haustiere, Menschen und Nutztiere.

Peter Stamm trifft seine Wahl: erst Menschen, dann Haustiere und Nutztiere zusammen.
«Bin ich jetzt ein schlechter Mensch?»
«Ein bisschen vielleicht.»
«Und Sie?»
«Ich auch.»
«Dann ist ja gut.»

Weiter geht es mit den Zwickmühlen: Sind Robomäher praktisch für den Menschen oder tödlich für Insekten? Ersetzen sie uns eines Tages? Wie oft kaufen wir neue Handys? Flögen wir öfter, wenn für den Treibstoff Pilze sterben müssten? 

Wir flüchten vor der Moral in eine kleine Kammer. Auf einem Tisch steht ein verkabeltes Basilikum, das seine besten Tage hinter sich hat. Darüber: ein Bildschirm wie ein Herzmonitor. Beim kleinsten Luftstoss schlägt eine Linie aus – die Pflanze nimmt ihre Umwelt wahr. Als Stamm die runzligen Blätter kitzelt, dreht das Basilikum durch. «Ich hätte erst fragen sollen», murmelt er entschuldigend. 

Nie ohne Schalk

Beim Kaffee muss die Pflanze dann auch noch als Metapher herhalten. Ich will wissen, wie Stamms Bücher entstehen. Et voilà: «Als Schriftsteller schreibe ich keine Pflanze. Ich bereite den Boden, aus dem eine Geschichte wächst.» Wenn er ein Buch beginne, wisse er nicht, wohin es führt und wo es endet. «Manchmal wird eine Nebenfigur ganz unerwartet wichtig. Das sind die schönsten Momente.» 

So war das auch beim neuen Roman, «In einer dunkelblauen Stunde». Er erschien am 18. Januar, pünktlich zu Stamms 60. Geburtstag, und enthält alle Zutaten eines typischen Stamm-Buchs. Da ist ein Paar, das sich entfremdet. Ein verschlossener Schriftsteller, eine unvergessene Jugendliebe. Eine verpasste Chance, das leise Bedauern. Da sind Liebe und Freundschaft, der Lauf der Zeit. Und wieder vermischen sich Fantasie und Realität – wie schon im Debütroman «Agnes» (1998). Da ist aber auch eine Geheimzutat: Schalk. 

Das Buch entstand aus einer verrückten Idee: Vor zwei Jahren erhielt Stamm eine Anfrage von zwei Regisseuren. Sie wollten einen Film darüber drehen, wie ein Schriftsteller ein Buch schreibt. «Ich zögerte», erinnert sich Stamm. «Viel zu sehen gibt es ja gewöhnlich nicht.» Trotzdem sagte er zu – und entschied, dass er parallel einen neuen Roman schreiben würde. Über zwei Regisseure, die einen Schriftsteller filmen.

Und als wäre das nicht wirr genug: Auf dem Buchcover ist Stamm zu sehen. «Autoren werden immer mit ihren Figuren gleichgesetzt. Das ist Berufsrisiko. Ich dachte mir: Wieso nicht damit spielen?» Mit seiner Figur teilt er die Liebe zu Spaziergängen und Zigaretten. Den Hang zur Melancholie, die Wohnorte und Romane. Die Motive, die stets wiederkehren: «Provinznester, Agglomeration, Industrielandschaften und Gewässer. Und ganz oft diese Frau, diese Jugendliebe, von der er besessen zu sein scheint. Eigentlich ist es erstaunlich, dass das überhaupt jemand liest.» So steht es im Roman. 

Man spürt, wie sich Stamm beim Schreiben ins Fäustchen lacht. Weil ich auch ein bisschen Spass haben will, stelle ich Fragen, die der Schriftsteller im Buch beantwortet. «Was haben Sie zum Frühstück gegessen?» – «Nichts.» – «Darf man kondolieren, wenn jemandem der Hund stirbt?» – «Nett ist das schon. Aber wo hört es auf? Wenn ein Auto kaputtgeht? Die Waschmaschine?» – «Hätten Sie anders gelebt, wenn Sie nicht geschrieben hätten?» – «Bestimmt.» Bis hierhin antwortet Stamm wie sein Protagonist. «Wären Sie noch Buchhalter?» – «Ich glaube, ich war kein wahnsinnig guter Buchhalter. Aber mein Vater war es auch nicht und ist trotzdem sein Leben lang einer geblieben. Rauchen würde ich vermutlich in jedem Leben. Apropos …?» Na gut. 

Wer wagt den Sprung?

Ein letztes Mal stehen wir draussen. Welcher Platz steht uns zu? Wer wollen wir sein? Was bleibt, wenn wir nicht mehr sind? Viel schlauer sind wir nicht geworden. Vielleicht wollen wirs auch gar nicht sein, also landen wir bei anderen Themen. Bei japanischen Büchern, frittiertem Blumenkohl und Zehnmetertürmen.Im neuen Roman wird beschrieben, wie Menschen zum ersten Mal da runterspringen.

«Würden Sie?», fragt Stamm.
«Nein! Vielleicht. Und Sie?»
«Vielleicht.»
Und wieder macht er sein Gesicht. Grüblerisch, zwei senkrechte Falten zwischen den Brauen. 
«Einmal bin ich aus sieben Metern gesprungen.»
«Von da aus ist es nicht mehr weit», sage ich.
«Wer weiss.»
Der Sommer wird kommen, noch regnet es.

«Wir sind zurückgekehrt in unsere Leben», heisst es in «In einer dunkelblauen Stunde». 

Im Zug nach Zürich schlage ich eine Stelle im neuen Buch nach. «Er hat sich ja selbst nicht ganz ernst genommen, hat immer geschwankt zwischen Lebensfreude und Vergänglichkeitspathos. In seinen Büchern kam eher die dunkle Seite zum Vorschein, wenn man mit ihm zusammen war, eher die helle.» Zu Hause wartet eine E-Mail auf mich. Darin: eine Liste aller Zehnmetertürme in der Schweiz

Peter Stamm im Stapferhaus
Quelle: Hanna Jaray
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Jasmine Helbling, Redaktorin
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