«Niemand wird freiwillig obdachlos»
Auch in der reichen Schweiz leben Menschen auf der Strasse. Wie sind sie in diese Situation gekommen? Drei Betroffene erzählen.
Veröffentlicht am 22. November 2019 - 11:54 Uhr
Ein halb voller Rucksack und ein Schlafsack. Das war alles, was Pierre Huber* mitnahm, als er im Sommer 2015 seine Wohnung fluchtartig verliess. «Ich musste mich entscheiden: Entweder ich breche aus allem aus oder ich werfe mich vor den nächsten Zug», sagt der 60-Jährige.
Zunächst lebte er in Zürich auf der Gasse, sammelte nachts Pfandflaschen und schlief tagsüber. «Seit ich draussen lebe, habe ich nie mehr Schnupfen. Die Kälte hat einen grossen Vorteil: Sie konserviert.» Tatsächlich, man sieht dem unscheinbaren Mann sein Alter nicht an. Ebenso wenig, dass er draussen übernachtet. Die Kleidung ist sauber, der Bart gepflegt. Das Einzige, was er vermisse, seien seine zweieinhalbtausend Geschichts- und Fachbücher.
Huber studierte Geisteswissenschaften, war Gastreferent an einer Hochschule, publizierte Artikel. Lange diente er freiwillig in der Armee. Er arbeitete 23 Jahre bei einer Sicherheitsfirma – bis die Führung wechselte. «Dem jungen Chef waren die alten Kämpfer nicht mehr genehm.» Huber erhielt immer weniger Aufträge. Bald war das Vermögen weg, er verschuldete sich immer mehr.
Dann wurde ihm per Telefon gekündigt – von einem Disponenten. Das war im Mai 2015. Arbeitslosengeld hätte es nur wenig gegeben. Der Gang zum Sozialamt war eine Enttäuschung. «Man hat mich wie einen Hund behandelt.»
«Ich kann mich als unabhängiger Mensch bezeichnen. Es ist befreiend, nichts zu besitzen.»
Zahlen und Fakten zu den Obdachlosen in der Schweiz gibt es kaum. Eine Studie über die Situation in der Stadt Basel vom April 2019 zeigt: Obdach- und Wohnungslosigkeit sowie prekäre Wohnsituationen sind Folgen von Verarmung. Die sichtbare Obdachlosigkeit ist nur die letzte Station. Die Hälfte der Betroffenen verliert ihre Wohnung wegen finanzieller Probleme. Männer sind stärker gefährdet, wenn ihnen der Job gekündigt wird .
Pierre Huber hatte sechs Monate auf der Strasse gelebt, als ihn ein Mitarbeiter des Sozialwerks Pfarrer Sieber ansprach. Es war an einem kalten Dezembernachmittag, er wollte sich gerade hinter dem Hauptbahnhof unter eine Brücke legen. Nach dem Gespräch ging er in den Pfuusbus mit, die Notschlafstelle des Sozialwerks – und wurde dann für die Saison als Platzwart engagiert. Er blieb beim Sozialwerk, ist heute die rechte Hand des Hauswirtschafters, verteilt Lebensmittel. Stets holen sie Huber, wenn ein Obdachloser die Betreuer nicht an sich heranlässt. Ihm vertrauen sie, weil er einer von ihnen ist.
Im Pfuusbus hat Pierre Huber danach nie mehr übernachtet. Er schläft lieber unter freiem Himmel, praktisch das ganze Jahr über. «Meine Tätigkeit ist sozial fordernd, nachts brauche ich meine Ruhe.» Huber hat zwei Schlafplätze auf dem Gelände einer Zürcher Kirche. «Mit guter Isolierung, Matte und Schlafsack könnten alle wie ein Baby schlafen, selbst bei Minustemperaturen.» Nur wenn es extrem kalt wird, suche er Unterschlupf bei einer Kollegin.
Wie viele Leute draussen schlafen, weiss niemand genau. In Basel sind es rund hundert. Die Hälfte übernachtet zwischendurch in temporären Unterkünften – Notschlafstellen, soziale Einrichtungen – oder bei Bekannten. Rund zweihundert weitere leben vorübergehend in Notwohnungen.
Mit seinem kleinen Verdienst bezahlt Pierre Huber Tram-Abo, Tabak und die Gummibärchen für die Kinder seiner Kollegin. Kleider und Verpflegung bekommt er vom Sozialwerk. Staatliche Unterstützung will er nicht. «Mit dem System habe ich so weit als möglich abgeschlossen.» Er vermeide jegliche Abhängigkeiten, darum wolle er auch keine Wohnung mehr. «Ich kann mich als unabhängiger Mensch bezeichnen», sagt er. «Es ist befreiend, nichts zu besitzen.» Fast nichts: Huber hat Porzellangeschirr und Silberbesteck – für zwei Personen. «Man weiss nie, wer zu Besuch kommt. Wenn schon Penner, dann mit Klasse.»
«Viele obdach- oder wohnungslose Menschen stammen aus bürgerlichen Verhältnissen», sagt Christoph Zingg, Gesamtleiter beim Sozialwerk Pfarrer Sieber. Sie geraten in eine Lebenskrise und fallen durch alle Auffangnetze. «Diese Menschen nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand, einige machen diese Entscheidung nie mehr rückgängig, wie Pierre Huber.» Zingg hat in seiner Karriere nur eine einzige Person erlebt, die wirklich aus freien Stücken auf der Gasse lebte. Niemand gebe freiwillig seinen Wohnungsschlüssel ab, sondern nur, wenn man keinen anderen Ausweg mehr sieht. Zingg spricht deshalb von «erzwungener Freiwilligkeit».
Auch Lilian Senn führte ein ganz gewöhnliches Leben, bevor sie auf der Gasse landete. Die 62-Jährige war verheiratet, zog zwei Söhne gross und schloss mehrere Ausbildungen ab. Unter anderem war sie als Personalchefin tätig. Einem Burn-out folgte die Scheidung. Sie versuchte, sich selbständig zu machen , wurde dann Buschauffeuse. «Aber ich sehnte mich nach einem beruflichen Neuanfang.» Aus Leichtsinn habe sie dann ihre Stelle gekündigt. Sie fand nur noch Gelegenheitsjobs, verdiente wenig, verlor die Wohnung. «Damit begannen die Probleme: ohne Wohnung kein Job, ohne Job keine Wohnung.»
Als Frau auf der Strasse zu leben, sei noch härter. «Viele meinen, eine obdachlose Frau sei automatisch eine Prostituierte – das kann sehr unangenehm und gefährlich werden», sagt Lilian Senn. «Darum achtete ich darauf, dass man mir meine Obdachlosigkeit nicht ansieht.» Auch ihre Schlafplätze hielt sie geheim.
Die Basler Studie zeigt: Nur ein Fünftel der Obdachlosen sind Frauen. Sie nehmen oft aus Gründen der Sicherheit lieber in Kauf, abhängig von Freundinnen oder Bekannten zu werden.
«Ich achtete darauf, dass man mir meine Obdachlosigkeit nicht ansieht.»
Nach über vier Jahren auf der Gasse hat Lilian Senn seit Kurzem wieder ein Dach über dem Kopf, zusammen mit ihrem neuen Lebenspartner. Die Wohnung bekamen sie dank einer Reportage über ihre Liebesgeschichte im Strassenmagazin «Surprise». «Mit den vielen Betreibungen hätte uns sonst kein Vermieter eine Chance gegeben.» Wieder eine Wohnung zu haben, sei gewöhnungsbedürftig, fühle sich bisweilen beengend an. «Es ist wunderbar, eine Tür zumachen zu können. Aber der Mietzins belastet unser schmales Budget und hat unsere Armut noch verschärft.»
Lilian Senn ist überzeugt, dass der Schweizer Sozialstaat «faul» ist. «Als ich noch jeden Morgen gemütlich Kaffee getrunken habe, bevor ich zur Arbeit ging, fand ich die Schweiz das beste Land der Welt. Dabei ist unser System hartherzig und asozial.» Sozialhilfe sei auch keine Lösung – dann gehe es erst richtig bergab. «Unsere Gesetze sind lückenhaft wie Emmentalerkäse! Vielleicht mache ich eines Tages ein Feuer mit all dem Papier, dann kann ich wenigstens einen Cervelat braten.»
Es braucht wenig, um Obdachlose zu unterstützen, sagt Lilian Senn. «Geld oder Essen, wenn sie danach fragen. Und vielleicht ein bisschen plaudern.» Früher, noch auf der anderen Seite, habe sie sich hintergangen gefühlt, wenn jemand mit von ihr erbetteltem Geld Alkohol kaufte. «Jetzt sehe ich es anders. Ich will nicht mehr urteilen. Wenn jemand etwas braucht, braucht er es – das können auch mal Drogen sein.» Sie gebe immer Geld, wenn sie etwas habe – ausser bandenmässigen Bettlern.
«Wer meint, jemand sei freiwillig obdachlos, ist dümmer als ein Velo.»
«Obdachlose Menschen leiden oft unter Einsamkeit », sagt Christoph Zingg vom Sozialwerk Pfarrer Sieber. «Wenn sich ein paar nette Worte oder ein kurzes Gespräch ergeben, ist das auch etwas wert.»
Mit Franco lässt es sich gut reden. Der 50-Jährige konsumierte fast sein halbes Leben lang Heroin und dealte. Vor neun Jahren kam er von der Droge los, war aber immer wieder obdachlos, auch letzten Winter. Jetzt wohnt er in einer Notwohnung, sucht eine Bleibe. «Heute ist Alkohol mein Problem. Ich will weg von diesem Blödsinn. Mit einer Bierfahne finde ich schliesslich nie eine Frau.» Und die wünscht sich Franco – und einen Job als Handwerker.
Der drahtige Mann trägt die Haare lang, ein Heavy-Metal -Shirt und einen Hut wie Crocodile Dundee. Franco besteht darauf, geduzt zu werden, sein Nachname soll nicht publiziert werden. Er duzt höflich alle Leute auf der Strasse, auch ältere Damen.
Gern lässt er seine Bassstimme in schallendem Lachen ertönen. Wenn er von seinen Jahren auf der Gasse erzählt, wird er aber ernst. «Wer meint, jemand sei freiwillig obdachlos, ist dümmer als ein Velo. Man kämpft dauernd ums Überleben, kann nie richtig schlafen – und trägt rund um die Uhr Schuhe.» Franco geniesst es darum, möglichst oft barfuss zu gehen. «Obdachlose sind Multitasker – und die besseren Manager als alle, die auf ihrem breiten Hintern im schönen Büro sitzen und fette Boni kassieren .»
*Name geändert
3 Kommentare
die'schöne Freiheit': Ich kenne Leute, die schlafen mit dem grossen Säbel. Viele haben Hunde, Wachhunde. Und wenn es ganz kalt ist, schläft kaum jemand von den Obdachlosen draussen. Es gibt Heilsarmee, Lager, wo man für 5 Fr. übernachten kann, Kleider waschen. Als Obdachloser bekommst du neue Jeans. Vielen Orten können sie unter tags Essen oder sich drinnen aufwärmen. Wer sich dafür interessiert. Surprise macht in jeder Stadt solche Führungen.
Oder man macht die Augen auf. Ich habe Jahre gebraucht, alles zu sehen, die Realität.
Es empfiehlt sich, surprise-Händlern die Hefte abzukaufen!
Ganz ehrlich gesagt, hätte ich meinem Leben schon lange ein Ende gesetzt, denn der einzige Grund warum ich es nicht gemacht habe, ist mein Sohn da er nur mich hat. Im Moment würde ich mich wohler, sicherer, glücklicher fühlen unter der Brücke zu schlafen als in permanenten Angst zu leben ob die Polizisten wieder einmal eine Busse von meinem Ex Mann ausgraben und mich in Gefängnis bringen wollen Wegen CHF 60-240. Letzte Woche wurde ich vom Sofa auf dem Boden geworfen, herumgezerrt, gewürgt, habe blau Flecken überall aber mein Wort als Ausländerin gegen 4 Polizisten!
Als alleinerziehende Mutter mit über 14 Diagnosen die zum Teil von einem Autounfall durch fremden Verschuldung entstand sind, dann die anderen durch Geldgier der Ärzte und die Behörden! Mein Sohn besucht eine Sonderschule, dann sind wir wegen seinen über 3 Stunden täglichen Schulweges umgezogen und ich dachte damals, dass es nicht schlimmer kommen kann als es schon in der Gemeinde davor war aber ich habe mich sehr getäuscht. Nach dem ich mich an die KESB gewendet habe und mir freiwillig eine Vertretungsbeistandschaft einrichten ließ, war er ich positiv und dachte, dass ich mich mehr auf die Gesundheit fokussieren kann. Doch diese hat unsere Lebenssituation zusätzlich
verschlechtert noch und ist Ihren Auflagen überhaupt nicht nachgegangen. Wie leben unter der Armutsgrenze und es wird mir alles verweigert, denn ich habe seit 3 Jahren kein Bett trotz Zeugnisse für Rückenschonende Matratze, mir werden die Brillen nicht bezahlt und der Zahnarzt sollte mir die Zähne ziehen, denn ich kann mit Zahnlücken herumlaufen. Doch das Problem ist, dass mir niemand helfen kann, denn alle verweisen mich auf die Beiständin aber psychisch bin ich zu nicht in der Lage etwaige selbst zu machen, denn ich habe Angst nach draußen zu gehen und meine Termine die wichtig wären kann ich nicht einhalten! Wenn wir nur von hier wegzuziehen könnten wäre alles zu 70% mindestens wieder besser!
Ich möchte und wünsche es mir, dass mein Sohn nach 6 Jahren mal wieder schöne Weihnachten verbringen kann und eventuell dort längere Zeit bleiben könnte, denn ich kann ihm diese nicht bieten und leider schon genug lange!
Als Kind erinnert man sich nur an Sachen, wo man zusammen was gemacht hat, z.B. draussen Schneeballschlacht. Ich kann mich kaum an teure Ausflüge erinnern, obwohl es diese sicher gegeben hat. Ich möchte Sie ermutigen. Wenn Sie Zeit zusammen verbringen, ein Brettspiel (ich habe das geliebt) oder draussen die Tiere besuchen im Tierpark, der gratis ist oder die Tiere beim Bauern nebenan?