Dieser Beitrag ist Teil unserer Artikelserie «Was 2020 sonst noch geschah – 12 Geschichten über erfreuliche Entwicklungen». Alle Artikel der Serie finden Sie am Ende dieses Artikels oder hier.

In meiner Heimat Student zu sein, ist politisch.» Reza Ahmadi* (Name geändert) spricht leise. «Seit drei Jahrzehnten kämpfen Studierende im Iran für Freiheit. Auch ich habe gekämpft, dann wurde ich verhaftet. Ich wollte Arzt werden.» Die Worte in fremder Sprache brauchen Zeit. «Ich bin geflüchtet und habe alles zurückgelassen. Auch mein Recht auf Bildung.» Ahmadi ist 43, Arzt ist er nicht geworden. Seit neun Jahren lebt er in der Schweiz, seit zwei Jahren ist er Teilnehmer des Vereins Offener Hörsaal. Deshalb sitzt er heute hier.

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Hier, das ist der Hörsaal 118 der Uni Basel. Neben Ahmadi sitzen Dilan Evindar* und Rahim Mohammadzadeh, 26 und 38 Jahre alt. Ahmadis Geschichte kennen sie nur zu gut, sie gleicht ihrer eigenen. Dilan Evindar hat lange, dunkle Haare und einen Bachelor in Betriebswirtschaft. Sie träumt von einem Job bei einer Schweizer Bank und manchmal auch von der Flucht aus der Türkei. Evindar ist Kurdin. Sie und ihre Schwester sind vor drei Jahren der Gewalt der türkischen Regierung entkommen und haben in der Schweiz auf einen Neuanfang gehofft.

Eine neue Existenz aufzubauen, ist nicht einfach. Und für Geflüchtete ist das dreimal schwieriger. Sie sprechen die Sprache nicht, haben kaum Geld, und ihre Zeugnisse oder Studienabschlüsse werden selten anerkannt.

Uni für alle

Der Basler Verein Offener Hörsaal setzt da an. Seit vier Jahren ermöglicht er asylsuchenden Studierenden den Zugang zur Universität Basel. Zwei Semester lang können Flüchtlinge mit akademischem Hintergrund drei Vorlesungen pro Woche besuchen. Die Gebühren übernimmt der Verein, finanziert wird er von Stiftungen und Gönnerbeiträgen. Die Mitglieder arbeiten ehrenamtlich. Im Sommer hat der Verein mit einem Crowdfunding Geld gesammelt, um auch im Corona-Jahr alle Teilnehmerinnen durch zwei Semester bringen zu können.

Evindar ist eine der diesjährigen Teilnehmerinnen. «Im Asylzentrum haben wir keine Möglichkeiten. Nur endloses Warten auf Entscheide.» Das erste Jahr in der Schweiz sei schwer gewesen. Auf ihrem Zimmer büffelten die Schwestern Deutsch und suchten im Internet nach einer Beschäftigung. So sind sie auf den Offenen Hörsaal gestossen.

Evindar bewarb sich und fuhr dann dreimal pro Woche für Vorlesungen und Deutschkurse vom Aargau nach Basel. Das Zugticket sponserte der Verein. Nach zwei Semestern im Schnupperprogramm konnte sie sich diesen Herbst für ein Masterstudium in Wirtschaftswissenschaften anmelden – Anfang Dezember bekam sie die Zusage.

110 Teilnehmer holte der Verein in den letzten vier Jahren an die Uni. Alle hätten in der Schweiz studieren wollen. Dilan Evindar mitgezählt, haben aber nur zehn einen Studienplatz erhalten.

«Es ergibt keinen Sinn, Menschen jahrelang untätig herumsitzen zu ­lassen. Moralisch und gesellschaftlich nicht. Und wirtschaftlich schon gar nicht.»

Annalena Durrer, Verein Offener Hörsaal

Rahim Mohammadzadeh dagegen musste den Traum vom Studium aufgeben. Weil er einer ethnischen Minderheit angehört, wurde ihm in seiner Heimat Iran eine höhere Bildung verweigert. «Ich bin keiner, der aufgibt», erzählt der 38-Jährige in sauberem Deutsch. Stillsitzen und Stillstand lägen ihm nicht.

Verwehrtes Diplom

«Ich konnte im Iran nicht studieren, also ging ich für meinen Bachelor nach Indien.» Danach versuchte er, sich im Iran eine Existenz aufzubauen, doch aus Angst vor Verfolgung und Haft bat er die Schweiz um Asyl. Seit vier Jahren lebt er im Aargau und wollte seinen Master in Computertechnik abschliessen. Der Offene Hörsaal stand ihm zur Seite, doch seine Maturitätsreife wurde nicht anerkannt, und sein Bachelor-Diplom liegt in einem Archiv der indischen Universität. Für eine Kopie müsste er hinreisen, als Asylsuchender darf er das nicht. Aber Mohammadzadeh gibt nicht auf.

Der Entscheid über seine Aufenthaltsbewilligung steht noch aus, aber er wollte seine neue Heimat mitgestalten. Im Frühling schliesst er die Prüfung zur Fachperson Migration ab.

«Es ergibt keinen Sinn, Menschen jahrelang untätig herumsitzen zu lassen, sagt Annalena Durrer, 25, vom Offenen Hörsaal. «Moralisch und gesellschaftlich nicht. Und wirtschaftlich schon gar nicht.» Die Geschichtsstudentin engagiert sich seit Beginn ihres Studiums für den Verein. Ihre Studenten stammen aus Kuba, Sri Lanka, Syrien, Weissrussland, dem Iran oder der Türkei. Flucht, Verfolgung und zerplatzte Träume verbinden sie.

«Ich bin 43. Das Studium ist meine letzte Chance. Ich will in meinem Leben ­etwas machen, was Sinn gibt.»

Reza Ahmadi, Geflüchteter

Auch Simone Keller, 23, ist beim Offenen Hörsaal dabei. Sie macht ihren Bachelor in Nahoststudien und übersetzt mit Kommilitonen arabische oder türkische Diplome, Briefe und Zeugnisse. «Die Hürden für die Zulassung an Schweizer Unis sind extrem hoch. Schweizer Studentinnen können sich innerhalb von zwei Stunden anmelden, Dilan Evindar brauchte ein halbes Jahr dafür.»

Evindar hatte Erfolg – dank des Einsatzes der Studentinnen des Offenen Hörsaals. Den meisten Teilnehmern fehlen aber entscheidende Papiere, oder ihre Studienleistungen werden in der Schweiz nicht anerkannt.

Reza Ahmadi hatte in seiner Heimat bereits elf Semester Medizinstudium hinter sich, dann wurde ihm sein politischer Aktivismus zum Verhängnis.

In der Schweiz wird ihm kein einziges Semester anerkannt. Die Uni Basel hat aber bei der Maturitätsreife ein Auge zugedrückt. Ahmadi hat einen B-Ausweis und wurde deshalb ohne offizielle Dokumente an die Ergänzungsprüfung der schweizerischen Hochschulen zugelassen. Er hat bestanden.

Ahmadi gehört zu denen, die für ein reguläres Studium zugelassen wurden. Heute studiert er Mathematik. «Ich bin 43. Das Studium ist meine letzte Chance. Ich will in meinem Leben etwas machen, was Sinn gibt.»

Artikelserie: «Was 2020 sonst noch geschah»
Beobachter-Titelgeschichte: Was 2020 sonst noch geschah
Quelle: Beobachter

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