Draussen ist alles wie immer. Pünktlich um 8 Uhr fährt die alte Frau auf dem Velo vorbei. Um 17 Uhr übt der Nachbar eine halbe Stunde lang mit der Handorgel.

Nur drinnen ist nichts mehr, wie es war. Seit Carlos gestorben ist, gerät die Welt von Andrea Huber und ihrer Tochter Malena immer mehr aus dem Gleichgewicht. Wie bei einem Mobile, dem ein Teilchen fehlt.

Im Hafen von Buenos Aires, auf der Puente de la Mujer, der Brücke der Frau, haben sie das erste Mal gemeinsam musiziert. Morgens um drei, unter einem dunkelgelben Mond. Carlos sagte zu Andrea: «Sing doch was!» Sie stimmte «Little Wing» von Jimi Hendrix an. Er kannte die Griffe auf der Gitarre, es passte.

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Ein paar Tage zuvor war Andrea in Argentinien angekommen. Mit nichts im Gepäck ausser dem Plan, unter ihrem Künstlernamen Andra Borlo eine weitere Solo-CD einzuspielen. Die Vermieterin nahm sie mit zu einem Frühstück in der Nachbarschaft. Dort sah sie ihren künftigen Mann zum ersten Mal. Er schenkte den Gästen Matetee ein. Mit seiner Mütze und den dunklen Augen sah er ein bisschen aus wie Che Guevara. Andrea erzählte ihm, dass sie ein Album aufnehmen wolle und dafür Musiker und ein Studio suche. Carlos war als Gitarrist gut vernetzt in der Musikszene von Buenos Aires. Er versprach, ihr zu helfen.

«Wärst du eine Schwedin, käme ich nicht mit»

Sie verliebten sich, aber Andrea hatte keine Lust auf eine Fernbeziehung. Vor der Abreise fragte sie ihn, ob er mitkomme. «Soy un pibe del barrio», sagte Carlos. Er sei ein Junge aus dem Viertel. Seine Liebe galt dem Gypsy-Swing und dem Tango, seinem Freundeskreis und dem Fussball. Sein Lieblingsclub River Plate trägt die Farben Rot-Weiss, Stadtrivale Boca Juniors Blau-Gelb. Er sagte: «Wärst du eine Schwedin, käme ich nicht mit.»

Als Schülerin hatte Andrea Huber eine Weltkarte als Schreibunterlage auf dem Pult. Mit dem Filzstift kreiste sie über den entlegensten Orten, träumte von Abenteuern in Alaska und Feuerland. Sie wurde Primarlehrerin, unterrichtete zwei Jahre, kündigte und flog davon. Nach einer langen Reise studierte sie in Bern Politik, Recht und Medien.

Zu Beginn der Nullerjahre zog es sie nach New York, wo sie ihre erste Platte aufnahm. In der Schweiz machte sie sich selbständig als Fachperson für Menschenrechtsbildung und Kommunikation. Als die SVP ankündigte, die Europäische Menschenrechtskonvention aushebeln zu wollen, war das für Huber ein Weckruf. Sie gründete mit «Schutzfaktor M» die Kampagne gegen die Selbstbestimmungsinitiative, arbeitete fünf Jahre lang Tag und Nacht, bildete Allianzen, sprach zu den Medien und feierte im November 2018 an der Urne einen Sieg.

Als Andrea Huber 40 wurde, heiratete sie den fünf Jahre jüngeren Carlos Ramirez in Luzern. Drei Jahre später kam Tochter Malena zur Welt. Carlos fühlte sich wohl in seinem neuen «Barrio». Er unterrichtete Gitarre und etablierte sich als Musiker. Er hielt Andrea den Rücken frei, sorgte für den Haushalt und war immer da, wenn Malena von der Schule nach Hause kam.

2019, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere im Politkarussell, zog Andrea Huber den Stecker. Die Leute sagten, es sei doch unvernünftig, jetzt einfach zu pausieren. Sie fand es unvernünftiger, so zu arbeiten, als würde man ewig leben. Die dreiköpfige Familie reiste musizierend von Kalifornien nach Argentinien.

Im März 2020 fand die Auszeit ein jähes Ende, kurz vor Buenos Aires schnappte die Lockdownfalle zu. Sie schafften es auf einen Rückholflug und erlebten, zurück in der Schweiz, das Grounding. Auftritte als Künstler waren nicht mehr möglich. Andrea Huber gründete eine Firma für Politik- und Strategieberatungen.

Lungenembolie, Covid-19, Leukämie, Fibrose

Im vergangenen Sommer sind die Corona-Zahlen im Kanton Luzern so tief wie nie, als sich die Familie beim Besuch einer Freundin mit dem Virus ansteckt. Der Impftermin war für die Sommerferien geplant. Andrea und Malena plagen nur milde Symptome, Carlos erwischt es voll. Richtig Sorgen macht sich zu dem Zeitpunkt niemand. Carlos hat keine Vorerkrankungen, in seiner Alterskategorie ist das Risiko, an Covid zu sterben, verschwindend klein.

«Ich war immer ein Glückspilz», sagt Andrea Huber, «doch plötzlich brach alles über uns zusammen.» Ihre beste Freundin stirbt an einer Lungenembolie, Carlos’ Vater an Covid, ihre Mutter erkrankt an Leukämie. Und ihr Mann liegt in Luzern auf der Intensivstation. Carlos benötigt immer mehr Sauerstoff, kann nicht mehr aus eigener Kraft aufsitzen. Er leidet an einer Fibrose, seine Lunge ist vernarbt. Ende August reden die Ärzte von einer Transplantation. Er muss Tests absolvieren, die ihn als Empfänger qualifizieren. Carlos und Andrea versichern sich: «Es kommt schon gut, es kommt schon gut.»

An einem Montagmorgen wird Carlos Ramirez nach Zürich verlegt. Sein Zustand hatte sich massiv verschlechtert, für den Transport muss er intubiert werden. Andrea holt Tochter Malena von der Schule ab, damit sie sich vom Vater verabschieden kann. Als Carlos in Zürich erwacht, kann er nicht mehr sprechen. Er zeichnet mit dem Finger eine Figur in die Luft, zwei Kreise, die wie die Ziffer Acht aussehen. Erst zwei Tage später erfährt Andrea, was er damit gemeint hat: einen Notenschlüssel. «La música es la salvadora del mundo», diesen Satz hörte Carlos, während er stark sediert war, immer wieder. Die Musik ist die Retterin der Welt.

Carlos wird ins künstliche Koma versetzt. Mit dem Band über der Stirn sieht er aus wie ein schlafender Krieger. Er befindet sich jetzt auf der «urgent list» für Organempfänger, benötigt dringend eine neue Lunge. Fünf Wochen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Die erlösende Meldung, sie kommt nicht. Die Ärzte sagen, es gebe in der Schweiz zu wenig Organspenden. An einem Nachmittag im Oktober hört Andrea den Ärzten zu, die hinter einem Vorhang über ihren Mann sprechen. Um 15 Uhr finde ein Roundtable statt. Sie realisiert sofort, dass er von der Liste genommen wird. Andrea Huber bricht zusammen. Als es um die Festlegung des Tages geht, an dem Carlos sterben soll, hält eine Freundin Andreas Hand.

Am Donnerstag, dem 7. Oktober, stirbt Carlos Ramirez. Zum Abschied spielen Andrea und ein paar von Carlos’ Musikerfreunden im Spital Songs für ihn. Malena bringt die Katze mit. In den letzten Tagen vor seinem Tod ist er ansprechbar, kann sich aber weder bewegen noch sprechen. Andrea sagt ihm, dass er sterben muss. Als sich Malena für einen Moment zum Vater ins Bett legt, sieht sie ihn das erste Mal weinen.

«Ein Organ rettet nicht einfach nur ein Leben»

Seit Carlos tot ist, steht die Welt von Andrea und Malena still. Vor ein paar Wochen ist Andrea mit Carlos' Urne nach Argentinien geflogen. Die eine Hälfte der Asche verstreute sie von der Puente de la Mujer in den Rio de la Plata, die andere im Vierwaldstättersee.

Momentan könne sie keine Musik mehr hören, sagt Andrea Huber. Sie ist sich aber sicher, dass die Musik auch sie retten wird. In einem Song, den sie nach dem Tod von Carlos geschrieben hat, heisst es auf Spanisch: «No aguanto más abrazos, de mí quedan solo pedazos.» Ich ertrage keine Umarmungen mehr, weil nur noch Stücke von mir übrig sind.

Im Jahr 2021 sind in der Schweiz 72 Menschen auf der Warteliste für eine Organtransplantation verstorben. Carlos war die Nummer 52. «Ein Organ rettet nicht einfach nur ein Leben», sagt Andrea Huber, «es rettet auch eine unversehrte Seele eines Kindes, ein ganzes Familiensystem.» Am 15. Mai wird sie bei der Abstimmung zur Änderung des Transplantationsgesetzes ein Ja in die Urne legen. «Wenn wir in Frankreich oder Spanien leben würden, hätte Malena wahrscheinlich noch einen Vater.» Am Sterbebett versprach Andrea, Carlos' Geschichte zu erzählen. «Wenn auch nur einer Familie dieses Schicksal erspart werden kann, hat es sich gelohnt, sie wieder und wieder zu erzählen.»

Organspende auf Widerruf?

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Wer sich zu Lebzeiten nicht dagegen ausspricht, soll künftig als Organspender gelten. Ist das die beste Lösung?
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Peter Aeschlimann, Redaktor
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