8 Behauptungen zu Organspenden im Check
Ab wann gilt ein Mensch als tot? Was passiert, wenn ich im Ausland sterbe? Im Vorfeld der Abstimmung zur Widerspruchslösung nehmen zwei Fachleute zu verbreiteten Behauptungen Stellung.
Veröffentlicht am 29. April 2022 - 14:01 Uhr
Die Antworten stammen von:
- Mathias Nebiker, Chefarzt und Klinikleiter am Kantonsspital Aarau.
- Birgit Christensen, freiberufliche Philosophin und Juristin. Sie forscht im Bereich Biomedizin und Recht.
Um diese Behauptungen geht es:
- «Wenn eine Organentnahme entschieden wird, muss alles sehr schnell gehen.»
- «Den Angehörigen bleibt keine Zeit, sich zu verabschieden.»
- «Bei der Entnahme leben Spenderinnen und Spender oft noch.»
- «Ärzteteams lassen mögliche Organspender eher sterben.»
- «Die verstorbene Person sieht nach der Organentnahme entstellt aus.»
- «Hinter der Transplantation stecken vor allem wirtschaftliche Interessen.»
- «Wenn Spenderinnen im Ausland versterben, werden ihre Organe im jeweiligen Land verwendet.»
- «Dank der erweiterten Widerspruchslösung würden in der Schweiz mehr Organe zur Verfügung stehen», sagt die Stiftung Swisstransplant.
Weitere Inhalte in diesem Artikel:
Mathias Nebiker: Tatsächlich haben viele Leute diesen Eindruck. Doch das stimmt nicht, bei einer Transplantation haben wir keinen Zeitdruck. Es braucht Zeit, einen Hirntod festzustellen; ebenso für die nötigen Abklärungen, ob eine Organspende überhaupt in Frage kommt. Von der Diagnose Hirntod bis zur Entnahme von Organen im Operationssaal vergehen 12 bis 24 Stunden.
Mathias Nebiker: Ich mache andere Erfahrungen. Es ist wichtig, dass den Familien vor und nach der Organentnahme genügend Zeit bleibt, um sich zu verabschieden. Oft wollen Angehörige aber in der verbleibenden Zeit vor der Transplantation nicht mehr dabeibleiben. Sie wird manchmal sogar als Belastung wahrgenommen. Die Bedürfnisse sind da sehr unterschiedlich.
Birgit Christensen: Je nach Perspektive fällt die Antwort anders aus. Weil man Menschen seit den 1960er-Jahren durch neue intensivmedizinische Massnahmen am Leben erhalten kann, stellte sich die Frage, ob und wann Ärzte dieses beenden durften. Damals wurde das Hirntod-Kriterium festgelegt: Die Massnahmen darf man beenden, wenn alle Hirnfunktionen unumkehrbar ausgefallen sind. Eine andere Perspektive nahm die Transplantationsmedizin ein: Sie setzte den Hirntod mit dem Tod der Person gleich.
Im ersten Fall werden die lebenserhaltenden Massnahmen beendet, um den Sterbeprozess einzuleiten. Im Rahmen der passiven Sterbehilfe lässt man dabei eine Person sterben, weil sie mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht mehr aus dem Koma erwachen wird. Im zweiten Fall hingegen gilt die Person bereits als tot, und die intensivmedizinischen Massnahmen dienen der Organerhaltung. Der Hirntod gilt in der Schweiz seit 2007 als juristisches Todeskriterium. Damals trat das Transplantationsgesetz in Kraft.
Doch das Hirntod-Konzept als Voraussetzung der Transplantationsmedizin war und ist umstritten. Insbesondere neurologische Forschungen führten 2008 in den USA zu einer Debatte und einer veränderten Todesdefinition. Die Fähigkeit zur Interaktion mit der Umwelt wird dabei stärker gewichtet, als es die bisherigen neurologischen Kriterien vorgeben. Im Jahr 2015 hat das auch in Deutschland der Ethikrat intensiv diskutiert. In der Schweiz fand bislang keine vergleichbare Diskussion statt. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften scheint die Problematik auszublenden.
Mathias Nebiker: Eine Organspende ist nur dann möglich und zulässig, wenn eine Person bereits verstorben ist. Juristisch gesehen, gilt ein Mensch in der Schweiz als tot, wenn der Hirntod festgestellt wurde oder ein Herz-Kreislauf-Stillstand
eingetreten ist. Es gibt klare und strikte Richtlinien, ab wann das der Fall ist. Der Tod wird nach dem Vieraugenprinzip festgestellt. Ein Intensivmediziner und eine Neurologin gehen dabei alle Punkte durch, die dazu erfüllt sein müssen. Beide sind unabhängig vom Transplantationsteam. Wenn eine hirntote Person Organspenderin ist, werden die Organe durch Medikamente und Maschinen künstlich am Funktionieren gehalten. Die Person gilt zu diesem Zeitpunkt als verstorben.
Mathias Nebiker: Das darf natürlich nicht sein. Fallführend bei der Entscheidung, ob eine weitere Behandlung noch möglich ist, sind Neurologinnen und Neurochirurgen. Sie sind unabhängig von der Transplantation, die Interessen sind getrennt voneinander. Darum ist aus meiner Sicht dieses Szenario gar nicht möglich. Zudem ist diese Behauptung sehr theoretisch. In der Praxis ist es meist sehr eindeutig, ob noch etwas zu machen ist oder die Person bereits hirntot ist.
Mathias Nebiker: Das stimmt nicht. Die Organentnahme wird wie eine normale Operation durchgeführt. Der Körper wird wieder verschlossen. Was bleibt, sind eine Narbe und ein Verband. Sonst ändert sich nichts am Aussehen der Verstorbenen. Es ist sehr wichtig, dass die Würde der Organspenderinnen und -spender erhalten bleibt. Nach einer Entnahme wird der Körper den Angehörigen je nach Wunsch übergeben, damit sie sich in Ruhe verabschieden können.
Mathias Nebiker: Meiner Meinung nach ist das nicht wahr. Es wird zum Allgemeintarif transplantiert. Das Fachpersonal auf den Notfall- und Intensivstationen verdient also nichts dazu; sie machen lediglich ihren Job. Eine Transplantation ist eher noch ein zusätzlicher Aufwand, der durch eine Aufwandsentschädigung entgolten wird. Die zahlt die Krankenkasse des Empfängers. Das ist aber kein gewinnbringendes Geschäft. Für das Gesundheitswesen können Transplantationen allerdings günstiger kommen. Zum Beispiel weiss man, dass eine Nierentransplantation wirtschaftlich lohnenswerter ist, als wenn der Patient noch länger an der Dialyse gewesen wäre.
Birgit Christensen: Ich glaube nicht, dass in der Schweiz bei der Transplantationsmedizin wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen. Anders sieht es hingegen beim illegalen, globalen Organhandel aus – einem Nebeneffekt der Transplantationsmedizin. Der Europarat will mit einem Übereinkommen gegen den Handel mit menschlichen Organen vorgehen; das ist 2021 auch für die Schweiz in Kraft getreten.
Mathias Nebiker: Richtig. Es gilt die Regelung des jeweiligen Landes. Die Organe bleiben dort, sie werden also nicht zurück ins Heimatland transportiert. Falls zum Beispiel eine Schweizerin in Österreich stirbt: Dort gilt die Widerspruchslösung. Wenn nicht anders festgehalten, gälte sie dort als Organspenderin. Zumindest theoretisch, denn die Angehörigen werden in jedem Fall einbezogen und haben ein Mitspracherecht. Das Gleiche gilt auch umgekehrt für Touristen, die in der Schweiz versterben.
Mathias Nebiker: Das ist schwer zu beurteilen. Man kann aber davon ausgehen, dass bei einer Annahme der erweiterten Widerspruchslösung der Druck grösser wäre, sich überhaupt mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Die Erhöhung der Spenderate ist aber ein zweitrangiges Ziel. In erster Linie geht es darum, dass mehr Leute ihren Willen festhalten, damit er im Todesfall auch wirklich berücksichtigt werden kann.
Birgit Christensen: Ich bezweifle, dass mit der erweiterten Widerspruchslösung mehr Organe verfügbar wären. Allerdings leitet sie einen Wechsel der Denkmuster ein. Wenn jemand keinen Widerspruch einlegt, wird der menschliche Körper zu einer Sache, über die der Staat und die Transplantationsmedizin verfügen dürfen. Das ist mehr als problematisch. Bei der Debatte rund um einen Covid-19-Impfzwang war stets das Argument der Selbstbestimmung über den eigenen Körper zentral. Eine Organentnahme soll dagegen ohne ausdrückliche Zustimmung möglich sein.
Die Anzahl Spenderorgane in der Schweiz liegt im Vergleich zu anderen Ländern eher tief, auch wenn die Mehrheit die Organspende befürwortet. 2021 warteten 1434 Personen auf ein Organ, 587 Transplantationen konnten durchgeführt werden.
Die erweiterte Widerspruchslösung kommt im Mai zur Abstimmung. Sie würde festlegen:
- Wer nach dem Tod keine Organe spenden will, soll das neu in einem Register festhalten müssen.
- Wenn kein dokumentierter Wille der sterbenden Person gefunden wird, müssen die Angehörigen befragt werden. Sie können eine Entnahme ablehnen, indem sie geltend machen, die betroffene Person hätte sich gegen eine Spende entschieden.
- Wenn trotz Nachforschungen keine Angehörigen erreichbar sind, ist eine Entnahme von Organen verboten.
Heute gilt die erweiterte Zustimmungslösung: Eine Spende ist nur möglich, wenn eine Zustimmung vorliegt, etwa in einem Organspenderausweis oder einer Patientenverfügung. Wenn es sie nicht gibt, können die Angehörigen einer Entnahme zustimmen, falls sie wissen oder vermuten, dass es dem Willen der verstorbenen Person entsprochen hätte.
Organspende auf Widerruf?
Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.
Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.
5 Kommentare
Die Widerspruchslösung ist keine Lösung, sondern eine "Organentnahme im Regelfall" und Nötigung, sich rechtzeitig und am richtigen Ort gegen die Organentnahme zu erklären. Die Organentnahme gegen den Willen des Verstorbenen gilt bisher als Störung des Totenfriedens und Straftatbestand. Die Organentnahme im Regelfall ist ein Zwang zur Solidarität bzw. sich dagegen auszusprechen. Diese Regelung widerpricht dem Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit und der Gewissensfreiheit. Die Widerspruchslösung ist eine Art Beweisumkehr und m.E. wider jedes Grundverständnis von Rechtsstaat und Selbstbestimmung.
Das wohl am meisten beschneidende Leid in der Gesellschaft sind die Existenznöte einer wachsenden Anzahl von Leuten. Im Sinne der "Widerspruchslösung" müsste also die Regel lauten: Wer sich nicht zu Lebzeiten dagegen erklärt, dessen Erbmasse wird nicht an die üblichen Erben, sondern an die Bedürftigen verteilt.
Allein die mangelnde Gewähr, dass der Widerspruch des Verstorbenen rechtzeitig bekannt ist, reicht zur Ablehnung der Widerspruchslösung. Ein Organspender wider Willen kann sich nicht wehren.
Wie ich gehört habe, werden bei der Organentnahme Schmerzmittel eingesetzt. Wenn man tot ist hat man doch keine Schmerzen mehr. Für mich geht das nicht auf darum Nein!