108’000 Unterschriften für Selbstbestimmung
Zur Einreichung bei der Bundeskanzlei reisten viele nach Bern. Menschen mit Behinderung fordern mehr Eigenständigkeit beim Wohnen – und eine bessere Teilhabe in der Gesellschaft.
Menschen mit Behinderungen wollen mit Nichtbehinderten auf Augenhöhe sein – und gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilhaben: Das ist im Kern die Forderung der Inklusionsinitiative.
«Nichts über uns ohne uns.»
Islam Alijaj, Nationalrat und Mitglied Initiativkomitee
Nationalrat Islam Alijaj (SP) bringt es auf den Punkt: «Nichts über uns ohne uns.» Er sitzt mit Cerebralparese im Rollstuhl, hat eine Sprechbehinderung – und ist der Kopf hinter der Initiative.
Übergabe von 108’000 Unterschriften: Rampe inklusive
Das Anliegen der Gleichstellung wurde bei der Einreichung der Initiative am 5. September 2024 in Bern symbolisch untermauert. Vor dem Bundeshaus wurde eigens eine Rampe gebaut. So konnten auch Leute, die mit Rollstuhl unterwegs sind, am Anlass mitwirken.
Laut den Initiantinnen wurde damit erstmals in der Schweiz eine Volksinitiative vollständig barrierefrei eingereicht.
Die Übergabe der Unterschriftenbögen an die Bundeskanzlei fand am späteren Nachmittag statt. Für das Volksbegehren sind seit der Lancierung im Frühling 2023 rund 108’000 Unterschriften zusammengekommen.
Betrifft hierzulande 1,8 Millionen Personen
Die von verschiedenen Organisationen getragene Inklusionsinitiative will mit einem neuen Verfassungsartikel die «rechtliche und tatsächliche Gleichstellung» der rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Behinderung in der Schweiz erreichen.
Dafür sollen sie unter anderem Anspruch auf Assistenz- und Unterstützungsleistungen erhalten. Explizit ermöglicht werden soll künftig auch die freie Wahl von Wohnform und Wohnort.
Schweiz hinkt der Uno-Konvention hinterher – seit zehn Jahren
Die Wahlfreiheit beim Wohnen ist eine zentrale Forderung der Behindertenrechtskonvention (BRK) der Uno. Die Schweiz hat dieses Abkommen 2014 ratifiziert, aber in zahlreichen Punkten noch nicht umgesetzt.
«Nicht an den Betroffenen schräubeln, sondern an der Umwelt.»
Markus Schefer, Staatsrechtsprofessor
Über diese Mängel beim Vollzug hat der Beobachter in den letzten Jahren immer wieder berichtet. Zum Beispiel in einem Interview mit Staatsrechtsprofessor Markus Schefer, der sich schwerpunktmässig mit den Grund- und Menschenrechten von Menschen mit Behinderungen auseinandersetzt.
«Man sollte nicht länger versuchen, an den Betroffenen zu ‹schräubeln›, sondern an der Umwelt», sagte er dem Beobachter. «Diese gesellschaftliche Denkweise muss sich noch stärker etablieren.»
Für Schefer ist klar, dass grosser Handlungsbedarf besteht. «Die meisten von uns werden einmal in irgendeiner Weise behindert sein», so der Staatsrechtler. Er ist im Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Und hat am Initiativtext mitgearbeitet.
«Es braucht einen Big Bang, um den Knoten zu lösen.»
Islam Alijaj
Nationalrat Islam Alijaj sagt, Schefer habe ihn inspiriert, dass es «einen Big Bang» brauche, um den Knoten zu lösen – und die Inklusion ins Bewusstsein der breiten Bevölkerung zu bringen.
Der erste «Big Bang» wurde mit dem Zustandekommen der Inklusionsinitiative geschaffen – ein Meilenstein. «Wir wollen die Revolution im Behindertenwesen!», so Alijaj zum Beobachter.
An der Kundgebung hielt auch die Zürcherin Suad Dahir eine Rede. Dahir hat eine psychische Behinderung und Lernschwäche. Sie arbeitet eng mit Islam Alijaj zusammen und ist stolz darauf, was sie erreicht haben. «Und das ist erst der Anfang», sagt sie.
1 Kommentar
Es ist für die Regierung einfacher, diese Leute einfach in ein Heim stecken und vergessen. Das ist unmenschlich, denn die Behinderten sind auch Teil unserer Gesellschaft. Zahlen auch Steuern wie andere Bürger auch. Die Schweizer Politik muss endlich Ihre Arbeit machen, als wieder Lohnerhöhung für die Parlamentarier zu gestatten !