Kommentar
Der Bundesrat kapituliert vor Uber & Co.
Die Regierung will die Ärmsten der Arbeitenden nicht besser schützen. Die Kosten dafür werden wir alle bezahlen müssen.
Veröffentlicht am 29. Oktober 2021 - 16:32 Uhr
Sie bringen uns das Essen mit dem Velo oder Töffli, fahren uns zum Billigsttarif aus dem Ausgang nach Hause: Menschen, die ohne Vertrag hart arbeiten, wenig verdienen und sich selber um ihre Altersvorsorge kümmern sollen. Die sogenannten Plattformbeschäftigten erhalten ihren nächsten Auftrag mit klaren Weisungen über eine App, aus Sicht von Uber & Co. sind sie aber Freischaffende und keine Angestellten.
Vier Jahre brüteten Bundesrat und Verwaltung, prüften rechtliche Verbesserungen für die neue Schicht der Billigarbeiter. Eine neue Form von Angestelltenverhältnis zum Beispiel, das flexible Einsätze und ein einfaches Auflösen des Arbeitsvertrags erlaubt, aber dank Sozialabgaben ein Minimum an Absicherung garantiert. So was hätte Weitsicht und Gestaltungswillen verlangt.
Nach vielen Meetings und Befragungen – auch von Uber & Co. – hat der Bundesrat eine Maus geboren. Er tut gar nichts. Und begründet das in einem hundertseitigen Bericht. Plattformarbeit sei erst eine Randerscheinung, und das geltende Sozialversicherungsrecht mit seiner Unterscheidung zwischen Angestellten und Freischaffenden sei schon flexibel, der Status müsse bloss schneller bestimmt werden. Eine neue Kategorie von Angestellten würde nur für Rechtsunsicherheit sorgen.
Viele Freischaffende betroffen
Es geht längst nicht mehr nur um Uber, sondern um die wachsende Zahl von Jobs, bei denen der Status der Arbeitenden unklar ist: Auch Gestalter, Beraterinnen und Software-Entwickler lassen sich ihren nächsten Auftrag vermehrt über digitale Plattformen vermitteln. Gut ist das geltende Recht nur für jene, die den Status als Angestellte erhalten und nicht als Freischaffende gelten. Und schnell wird darüber nicht entschieden, weil letztlich Gerichte darüber befinden. Die Aufforderung des Bundesrats, den Status schneller zu bestimmen, stösst darum ins Leere.
So streiten Uber, Sozialversicherungen und Gewerkschaften seit Jahren über genau diese Frage. Und die Kalifornier sind clever: Als das Waadtländer Kantonsgericht klar ein Angestelltenverhältnis erkannte, zog Uber das Urteil nicht an das Bundesgericht weiter, damit es nicht zum Massstab für die ganze Schweiz wird. Und in einem Zürcher Fall argumentierte Uber vor Bundesgericht erfolgreich, für die «Anstellungen» sei gar nicht die Schweizer Filiale zuständig, sondern die Uber-Zentrale in Amsterdam. Das Verfahren musste neu aufgerollt werden.
Uber & Co. profitieren von jedem verstrichenen Jahr
So vergehen Jahre mit Rechtsunsicherheit und ohne soziale Absicherung. Ein Spiel auf Zeit, das sich für die Plattformbetreiber rechnet. Sie bezahlen keine Sozialabgaben, und falls die Beschäftigten letztlich doch Angestellte sein sollten, müssen sie höchstens die Beiträge der letzten fünf Jahre nachschiessen. Uber ist aber schon seit 2013 im Schweizer Geschäft. Jedes hinausgezögerte Jahr bedeutet eingesparte Sozialabgaben .
Mit seinem Laissez-faire-Entscheid kapituliert der Bundesrat vor der grössten Herausforderung des entfesselten Plattformkapitalismus: Arbeitsverhältnisse zu flexibilisieren, ohne ein neues Prekariat zu schaffen, das ohne Kündigungsschutz, Ferienansprüche und Altersvorsorge durchs Leben gehen muss. Die Kosten dafür werden wir alle bezahlen müssen: über mehr Sozialhilfe und höhere Ergänzungsleistungen.