Die Zuckerlobby hat gewonnen
Schweizer Hersteller dürfen geheimhalten, wie viel Zucker in einem Lebensmittel steckt. Der Bundesrat hat eine geplante Deklarationspflicht beerdigt.
Veröffentlicht am 25. April 2017 - 09:39 Uhr
In der «Erklärung von Mailand» hatten Bundesrat Alain Berset, Schweizer Lebensmittelproduzenten und Vertreter des Detailhandels am 4. August 2015 Ziele zur Reduktion von Zucker vereinbart. Eine erste Bilanz kann nun gezogen werden: Der zugesetzte Zucker in Joghurts ist nach zwei Jahren um 3 Prozent gesunken, derjenige in Cerealien um 5 Prozent. Umgerechnet sind das bei einem Becher Joghurt (180 Gramm) durchschnittlich 0,5 Gramm Zucker, in Cerealien 1 Gramm auf 100 Gramm. Bis Ende 2018 strebt der Bund eine weitere Reduktion um 2,5 Prozent bei Joghurts und um 5 Prozent bei Cerealien an.
Die Stiftung für Konsumentenschutz begrüsst die Reduktionsvereinbarung als Schritt in die richtige Richtung, kritisiert allerdings die stiefmütterliche Behandlung des gesundheitsrelevanten Themas. Es sei stossend, dass man den Herstellern überlasse, ob sie den Zuckergehalt in der Nährwerttabelle deklarieren wollen. «In der EU ist diese wichtige Angabe längst Pflicht», so die SKS.
Schon zum Zmorge konsumieren viele mehr als die empfohlene Tagesdosis Zucker. Und wissen nichts davon: Mit einem Bananenjoghurt von Denner löffeln sich Konsumenten 24 Gramm zugesetzten Kristallzucker auf die Zunge, eine Drei-Deziliter-Flasche Orangensaft von Coop spült 27 Gramm Fruchtzucker in den Magen. In den aufgedruckten Nährwerttabellen fehlen diese Zuckerangaben aber. Sie sind in der Schweiz nicht vorgeschrieben.
Der Körper liebt die weissen Kristalle. Doch sie steigern das Risiko für Übergewicht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt vor übermässigem Konsum von Zucker, der Lebensmitteln zugesetzt wurde oder natürlicherweise in Honig, Sirup, Fruchtsäften und Fruchtsaftkonzentraten vorkommt. Ausgenommen ist jener Zucker, der von Natur aus in frischem Obst, Gemüse und Milch steckt. Hier haben die Forscher keine Hinweise auf gesundheitliche Nachteile gefunden.
Kinder und Erwachsene sollten laut WHO weniger als zehn Prozent ihres täglichen Kalorienbedarfs durch Zucker decken. Bei 2000 Kalorien sind das maximal 50 Gramm. Noch besser seien bloss 25 Gramm. Doch die Schweizer nehmen täglich ein Mehrfaches davon zu sich – im Schnitt 127 Gramm Zucker.
Wer sich zuckerarm ernähren will, muss «regelrecht detektivisch vorgehen», kritisiert die Stiftung für Konsumentenschutz. Denn viele Schweizer Hersteller weisen Zucker in der obligatorischen Zutatenliste zwar aus, nennen die Menge in der Nährwerttabelle aber nicht. So etwa bei den Apfelsäften von Ramseier und Möhl, der Pestosauce Verde von Coop oder dem Thomy-Senf von Nestlé. Bei den Nährwerten werden zwar die Kohlenhydrate ausgewiesen – doch die Kategorie «davon Zucker» fehlt.
Coop und Nestlé argumentieren mit Platzmangel auf der Etikette und verweisen darauf, dass auf grösseren Verpackungen der Zuckergehalt deklariert werde. Denner weist bei den Joghurts seiner Eigenmarke immerhin den Prozentsatz an Zucker aus. So lässt sich die zugesetzte Menge pro Becher errechnen.
«Die Schweizer Konsumenten werden schlechter informiert als diejenigen in der EU.»
Sara Stalder, Stiftung für Konsumentenschutz
Hinter dem Versteckspiel verbirgt sich erfolgreiches Lobbying. Der Bundesrat setzt auf den 1. Mai ein neues Lebensmittelrecht mit 27 Verordnungen in Kraft. Ursprünglich wollte er dabei eine Zuckerangabe für obligatorisch erklären. Nur Kleinproduzenten, die ihre Produkte selbst verkaufen oder an lokale Detailhändler abgeben, wären davon ausgenommen gewesen. Eine Koalition aus Detailhändlern, Verbänden und Kantonen machte aber gegen die Deklarationspflicht mobil.
Einer der wenigen Befürworter einer umfassenden Nährwerttabelle ist die Föderation der Schweizerischen Nahrungsmittel-Industrien (Fial), die Grossproduzenten wie Emmi oder Coca-Cola vertritt. «Dieser Artikel erstellt Kompatibilität zur EU», schrieb der einflussreiche Verband in der Vernehmlassung. Vergeblich.
Sara Stalder von der Stiftung für Konsumentenschutz hat für den Rückzieher des Bundesrats kein Verständnis. «Man will den Zuckerkonsum reduzieren, darf aber den Zuckergehalt auf der Verpackung nach wie vor verschweigen. Das ist unbegreiflich und inakzeptabel», kritisiert sie. «Die Schweizer Konsumenten werden trotz Gesetzesrevision schlechter informiert als die Konsumenten in der EU.» Produzenten, die den Zucker nicht deklarieren wollten, erhielten ein Schlupfloch.
Migros und Coop lehnten die Deklaration in der Vernehmlassung mit dem Argument ab, bei einigen Produkten reiche eine verkürzte Nährwertdeklaration ohne Zucker. Es brauche Flexibilität. Der Wirteverband Gastrosuisse argumentierte, dass sich «erfahrungsgemäss die wenigsten Konsumenten» für die Nährwerttabelle interessierten. Der Bauernverband führte «Kostengründe» dagegen an. Und der Schweizerische Bäcker-Confiseurmeister-Verband meinte, die Nährwertangaben könnten ohnehin «oft gar nicht verstanden werden». Für Sara Stalder ist das Humbug.
So versteckt die Industrie den Zucker
Der Lebensmittelindustrie stehen viele legale Wege offen, den Zuckergehalt eines Produkts zu verschleiern. Hersteller verwenden gern Honig, Sirup oder Fruchtdicksaft und bewerben das als «natürlich». Diese Zutaten sind aber nicht «gesünder» oder empfehlenswerter als Kristallzucker, schreibt die Stiftung für Konsumentenschutz in ihrem neuen Zuckerratgeber.
Im Kleingedruckten lässt sich einiges über den Zuckergehalt herauslesen. Auf jeder Verpackung muss eine Zutatenliste die Inhaltsstoffe auflisten – in mengenmässig absteigender Reihenfolge. Je weiter vorne Begriffe stehen wie Saccharose (weisser Zucker), Glukose (Traubenzucker, Dextrose), Fruktose (Fruchtzucker) oder Maltose (Malzzucker), desto mehr Zucker ist drin. Dieser versteckt sich auch hinter Wörtern wie Oligofructose, Maltodextrin oder Dextrinmaltose (Mehrfachzucker).
Die Thurgauer Regierung erkennt in einer obligatorischen Zuckerdeklaration dagegen keinen «bemerkenswerten Mehrwert». «Ein Apfelsaft zum Beispiel ist immer etwa gleich zusammengesetzt und enthält vor allem Zucker», begründete der Thurgauer Kantonschemiker. Dass die Apfelsaftwerbung oft etwa anderes vorgaukelt, scheint im Thurgau nicht zu stören. Die Mosterei Möhl aus Arbon TG preist ihre Apfelschorle Shorley etwa als «leichte, natürliche Erfrischung» an und vermeidet das Wort Zucker gänzlich. In Zukunft will Betriebsleiter Georges Möhl das allerdings freiwillig ändern und den Zuckergehalt auf alle Etiketten drucken.
Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit sieht bei der Gesetzesrevision dennoch klare Verbesserungen für die Konsumenten. Im Mai werde eine verkürzte Nährwerttabelle ohne Zucker obligatorisch. Die Mengenangabe von Energiewert, Fettgehalt, Kohlenhydraten, Eiweiss und Salz sei nach einer Übergangsfrist von vier Jahren zwingend erforderlich. Man habe «als Kompromiss» auf die «kontrovers diskutierte» Zuckerangabe verzichtet, um die Machbarkeit und die Umsetzungskosten für die betroffenen Lebensmittelbetriebe in Grenzen zu halten.
Die Schweiz bleibt somit beim Zucker eine Deklarationsinsel innerhalb Europas, WHO-Empfehlung hin oder her. Auf einer Flasche Orangensaft darf weiterhin der Hinweis «Essen Sie 5 Portionen Früchte und Gemüse am Tag» prangen – ohne dass Zucker auch nur erwähnt wird.
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