Herrschaft des halben Volkes
Erstmals seit der Einführung des Frauenstimmrechts ist in vielen Gemeinden nur eine Minderheit stimmberechtigt. Ist das noch demokratisch?
Veröffentlicht am 3. Februar 2020 - 17:23 Uhr
Rebekka Bürgele* lebt seit 2006 in der Schweiz. Ihr alemannischer Dialekt unterscheidet sich nur wenig vom Baseldeutsch. 19 Jahre lang hat sie in Basel als Pflegefachfrau gearbeitet, 6 Jahre davon als Grenzgängerin.
Sie hat krebskranke und hochbetagte Menschen gepflegt, Nierentransplantierte, Magen-Darm-Kranke. Dies auf der am stärksten belegten Abteilung des Unispitals, 8,5 Stunden am Tag, bis zur Erschöpfung. Bürgele war in der Forschung tätig, hatte eine Leitungsfunktion bei der Spitex inne, ist eine begehrte Fachkraft. Sie hat Steuern bezahlt. Die meisten ihrer Freunde sind Schweizer, sie ist bestens integriert.
Rebekka Bürgeles politische Meinung aber – sie gilt an der Urne nichts. Als Deutsche hat sie in der Schweiz kein Stimmrecht. Sie gehört nicht zum «Volk». So wie weitere 2,2 Millionen Ausländerinnen und Ausländer.
Demokratie, das bedeutet laut Abraham Lincoln «die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk». Aber wer ist eigentlich das Volk? Diese Frage muss sich eine Demokratie immer wieder stellen. Nur die Männer? Nur die über 18-Jährigen? Schweizerinnen, die seit Jahrzehnten im Ausland leben? Ausländer, die seit Jahrzehnten in der Schweiz leben? Bevölkerung ist nicht gleich Volk . Jeder Staat muss erst definieren, wer dazugehört – und damit abstimmen oder wählen darf.
Als die Demokratie auf die Welt kam, im antiken Athen vor 2500 Jahren, durften nur etwa 10 Prozent der Bevölkerung abstimmen, nämlich die besitzenden, freien, männlichen und über 30-jährigen Bürger der Stadt. Keine politischen Rechte hatten Besitzlose, Sklaven, Frauen und Junge . Es war eine elitäre Minderheitsdemokratie. Höchst undemokratisch, würden wir sagen.
Bis 1971 durfte in der Schweiz die Mehrheit nicht abstimmen, die Frauen hatten politisch nichts zu melden. Sie wurden für unmündig gehalten, unfähig der politischen Meinungsbildung. Zutiefst undemokratisch und diskriminierend, finden wir heute.
Nun, knapp ein halbes Jahrhundert nach Einführung des Frauenstimmrechts , ist es wieder so weit: In vielen Gemeinden darf nur die Hälfte der Einwohnerschaft abstimmen. Die andere Hälfte hat keinen Schweizer Pass, ist noch nicht volljährig oder unmündig mit Beistandschaft.
In einer Demokratie entscheidet normalerweise die Mehrheit über eine Minderheit. Was aber, wenn die Minderheit über die Mehrheit herrscht? Ist das noch demokratisch?
Bei den letzten Nationalratswahlen haben in Spreitenbach AG bloss 10 Prozent der Bevölkerung ihre Stimme abgegeben. Die restlichen 90 Prozent blieben stumm. 61 Prozent, weil sie nicht wählen durften. Von den 39 Prozent, die durften, haben drei Viertel verzichtet. Wenig besser sah es in Opfikon ZH aus: Nur 11,7 Prozent der gut 21'000 Einwohnerinnen und Einwohner gingen an die Urne.
In Dutzenden Schweizer Gemeinden sind die Stimmberechtigten in der Minderheit. Im ersten Kanton, in Basel-Stadt, könnte es in 10 Jahren kippen, hat das Amt für Statistik errechnet.
Wenn 90 Prozent der Bevölkerung stumm bleiben
Betroffen sind auch andere grosse Städte. In Genf haben bei nationalen Urnengängen nur 86'000 von über 203'000 Einwohnern das Stimmrecht. Bei Abstimmungen auf Gemeindeebene erhöht sich der Anteil allerdings markant und steigt von 42,2 auf 58,8 Prozent. Denn der Kanton Genf erlaubt – wie die anderen Westschweizer Kantone Waadt, Jura, Neuenburg und Freiburg – das Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene. Und hat damit die Basis der Mitbestimmung verbreitert.
Insgesamt 605 Schweizer Gemeinden kennen das Ausländerstimmrecht, davon nur rund 30 in der Deutschschweiz: gut zwei Dutzend Gemeinden in Graubünden und 4 in Appenzell-Ausserrhoden. (siehe auch Infografik am Artikelende) Doch auch auf dieser Seite des Röstigrabens gibt es Bewegung. Zu Jahresbeginn hat der Zürcher Kantonsrat eine Behördeninitiative vorläufig unterstützt, die das kommunale Ausländerstimm- und Wahlrecht im bevölkerungsreichsten Kanton der Schweiz vorantreiben soll.
Einige Schweizer Gemeinden haben bereits heute einen Ausländeranteil von über 50 Prozent; in mehreren Dutzend liegt er bei über 40 Prozent. Die Zahl steigt seit dem Zweiten Weltkrieg fast stetig, der Anteil Stimmberechtigter nimmt ab. Und gleichzeitig sinkt auch die Stimmbeteiligung deutlich. Wenn es so weitergeht, wird es mehr und mehr Gemeinden geben, bei denen eine kleine Minderheit über die Mehrheit herrscht.
In Kreuzlingen TG ist man über diese Entwicklung besorgt. Nur gut ein Drittel ist in der Stadt am Bodensee stimmberechtigt. «Wenn so viele Einwohner politisch nicht teilnehmen können, entsteht auch keine Identifikation mit der Stadt», sagt Stadtpräsident Thomas Niederberger. Im Wahlkampf hätten ihm viele Bewohnerinnen und Bewohner frustriert gesagt: «Sie, ich lebe seit 30 Jahren hier in Kreuzlingen, ich zahle Steuern, aber ich darf nicht mitbestimmen.» Das sei für die Stadt ein grosses Manko.
«Ich bin ganz klar ein Befürworter des Ausländerstimmrechts auf kommunaler Ebene», sagt Niederberger, ein Freisinniger. Der bürgerlich geprägte Stadtrat unterstütze das Anliegen einstimmig. «Dafür brauchten wir aber die Erlaubnis des Kantons Thurgau. Wir als Kreuzlinger dürfen das nicht allein entscheiden.» Die Kantonsverfassung müsste geändert werden. Nun arbeitet eine parteiübergreifende Gruppe an einer Initiative, die es den Thurgauer Gemeinden freistellen soll, ob sie ihre ausländische Bevölkerung an kommunalen Entscheidungen beteiligen will.
«Es sind einige interessierte und motivierte Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dazugekommen, die substanzielle Beiträge leisten.»
Lorenzo Schmid, Gemeindepräsident von Arosa GR
«Es ist ein Problem für eine Demokratie, wenn der Anteil der Stimmberechtigten immer weiter sinkt», sagt Thomas Milic vom Zentrum für Demokratie in Aarau. Im Prinzip sei jeder, der sich in der Gebietskörperschaft aufhalte, von politischen Entscheiden betroffen und könnte damit zum Volk gehören, so der Politologe. «Wir haben aber qualitative Ansprüche an die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger: dass sie unabhängig entscheiden können und genügend informiert sind. Wir sind uns relativ einig, dass ein elfjähriges Kind nicht die nötige Reife hat. Aber was ist mit den Ausländerinnen und Ausländern?»
In den Bündner Berggemeinden Arosa und Scuol dürfen Ausländer in Gemeindebelangen an die Urne. Die Erfahrungen sind durchwegs positiv. «Wir haben mit dem Stimmrecht für Ausländer nur gute Erfahrungen gemacht», sagt Arosas Gemeindepräsident Lorenzo Schmid. «Es sind einige interessierte und motivierte Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dazugekommen, die substanzielle Beiträge leisten.» Das Ausländerstimmrecht sei in der Dorfbevölkerung voll akzeptiert. Ähnlich klingt es in Scuol. «Wir haben ausschliesslich gute Erfahrungen gemacht», sagt Gemeindeschreiber Andri Florineth. «Es gibt und gab keinen Widerstand dagegen.»
«Das Ausländerstimmrecht löst aber nur einen Teil des Problems», sagt Demokratieexperte Milic. Mindestens genauso bedenklich sei die tiefe Stimmbeteiligung bei denen, die abstimmen dürfen. Kommt hinzu: «Stimmregisterdaten der Stadt St. Gallen offenbaren, dass sich eingebürgerte noch deutlich weniger beteiligen als gebürtige Schweizer.» Folge: Das Ausländerstimmrecht könnte die Stimmbeteiligung weiter senken.
Allerdings zeigen neue Zahlen der Stadt Zürich, dass sich hier die Wahlbeteiligung bei den Eingebürgerten in 12 Jahren mehr als verdoppelt hat. Der Grund: 2007 wurden vor allem Migranten aus den Balkanstaaten eingebürgert, denen politische Mitwirkung traditionell eher fremd ist. Heute sind es vor allem deutsche Einwanderer, die viel stärker politisch sozialisiert sind.
Rebekka Bürgele könnte sich heute einbürgern lassen . Aber das kann sie sich nicht leisten, das Geld ist knapp. Nach einem Burn-out hat sie ihren Job aufgegeben und plant eine Umschulung.
«Es fühlt sich schon seltsam an, in der Schweiz zu leben und mitzubekommen, wie viel man hier mitbestimmen kann, aber selbst überhaupt keinen Einfluss nehmen zu können.» Sie fühle sich ausgeschlossen, wenn über etwas abgestimmt wird, das sie betrifft oder besonders interessiert: das Gesundheitswesen, Umweltpolitik, soziale Themen. Eine Meinung bildet sie sich trotzdem. Und diskutiert sie mit ihren Schweizer Freunden beim Znacht.
* Name geändert
Das sind die 20 Gemeinden mit den meisten Einwohnerinnen und Einwohnern ohne roten Pass und Stimmrecht. (2018/*2019)
1 | Täsch VS | 58% |
2 | Paradiso TI | 58% |
3 | Leysin VD | 55% |
4 | Kreuzlingen TG | *55% |
5 | Pregny-Chambésy GE | 52% |
6 | Renens VD | *50% |
7 | Spreitenbach AG | 50% |
8 | Chavannes-près-Renens VD | 50% |
9 | Neuenhof AG | 49% |
10 | Bodio TI | 49% |
11 | Rorschach SG | 49% |
12 | St. Margrethen SG | 48% |
13 | Genf GE | 48% |
14 | Saint-Sulpice VD | 47% |
15 | Ecublens VD | 47% |
16 | Moudon VD | 46% |
17 | Vico Morcote TI | 46% |
18 | Dietikon ZH | 46% |
19 | Schlieren ZH | *45% |
20 | Opfikon ZH | 45% |
8 Kommentare
Wenn jemand schon über 10Jahre in der Schweiz wohnt, dann hat er / sie die Option das Schweizer Bürgerrecht zu erlangen. Das kostet zwar Zeit und Geld, aber wenn einem dies nicht Wert ist, dann soll man sich auch nicht beklagen wegen fehlendem Stimmrecht, Mitspracherecht etc.
Diese lang in der Schweiz ansässigen Ausländer könnten sich ja einbürgern lassen. Aber wenn es dies ihnen nicht wert ist, warum das grosse Jammern? - Sälber schuld
@Yaelle Debelle: Gibt es im bei der Einbürgerung anwendbaren Verfahrensrecht bzw. Gebührenrecht oder direkt gestützt auf Artikel 29 Absatz 3 der Bundesverfassung keine Möglichkeit einen Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege, auf Ermässigung der Kosten oder auf Verzicht auf die Erhebung von Kosten zu stellen? Hat der Beobachter Rebekka Bürgele das recherchiert und Frau Bürgele rechtlich beraten?
Ach herrje, Rebekka Bürgele, die "begehrte Fachkraft", hat kein Geld, um sich einbürgern zu lassen. Da ist man ja beim Lesen den Tränen nahe. Vor lauter Lachen darüber, wie klischeehaft und wenig subtil hier versucht wird, Leser zu manipulieren. Einbürgerungen in der Schweiz gehen relativ schnell, viel zu schnell, und sind recht günstig, viel zu günstig. Wem es ein Anliegen ist, politisch teilzunehmen - und auch alle anderen Rechte und Pflichten in Kauf zu nehmen - kann das problemlos tun, auch Rebekka Bürgele.
Ein Fehler wird nicht korrigiert, indem man einen zweiten Fehler macht! Es sind schlicht zu viele Leute zugewandert (in einzelnen Gemeinden sind die Ausländer bereits in der Mehrheit) und jetzt will man die politischen Rechte auf sie ausdehnen. Sorry, aber die politischen Rechte in der Schweiz sind einzigartig. Kein anderes Land in der Welt lässt seine Bürgerinnen und Bürger derart tiefgreifend mitentscheiden. Demzufolge ist das Schweizer Bürgerrecht nicht einfach mit dem eines anderen Landes gleichzusetzen - und darf weder verscherbelt noch unterminiert werden.
Eine echte Knacknuss sind die sogenannten Auslandschweizer. Leute (meist Eingebürgerte oder Nachfahren Eingebürgerter), die häufig noch nie einen Fuss in unser Land gesetzt haben, aber voll mitbestimmen können, einzig informiert durch Medien, fernab von der objektiven Realität. Es wäre zu überlegen, ob Schweizer, die über 10 Jahre nicht mehr in der Schweiz waren, das Wahl- und Stimmrecht verlieren sollten. Schlussendlich müssen sie ja mit den Konsequenzen ihres Entscheids nicht leben.
Übrigens: Jeder Ausländer hat die politischen Rechte seines eigenen Landes. Das muss genügen.