Rebekka Bürgele* lebt seit 2006 in der Schweiz. Ihr alemannischer Dialekt unterscheidet sich nur wenig vom Baseldeutsch. 19 Jahre lang hat sie in Basel als Pflegefachfrau gearbeitet, 6 Jahre davon als Grenzgängerin.

Sie hat krebskranke und hochbetagte Menschen gepflegt, Nierentransplantierte, Magen-Darm-Kranke. Dies auf der am stärksten belegten Abteilung des Unispitals, 8,5 Stunden am Tag, bis zur Erschöpfung. Bürgele war in der Forschung tätig, hatte eine Leitungsfunktion bei der Spitex inne, ist eine begehrte Fachkraft. Sie hat Steuern bezahlt. Die meisten ihrer Freunde sind Schweizer, sie ist bestens integriert.

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Rebekka Bürgeles politische Meinung aber – sie gilt an der Urne nichts. Als Deutsche hat sie in der Schweiz kein Stimmrecht. Sie gehört nicht zum «Volk». So wie weitere 2,2 Millionen Ausländerinnen und Ausländer.

Wer gehört zum Volk in einer Demokratie?

Demokratie, das bedeutet laut Abraham Lincoln «die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk». Aber wer ist eigentlich das Volk? Diese Frage muss sich eine Demokratie immer wieder stellen. Nur die Männer? Nur die über 18-Jährigen? Schweizerinnen, die seit Jahrzehnten im Ausland leben? Ausländer, die seit Jahrzehnten in der Schweiz leben? Bevölkerung ist nicht gleich Volk Fakten zum Parlament Wie gut das Volk im Bundeshaus wirklich vertreten ist . Jeder Staat muss erst definieren, wer dazugehört – und damit abstimmen oder wählen darf.

Als die Demokratie auf die Welt kam, im antiken Athen vor 2500 Jahren, durften nur etwa 10 Prozent der Bevölkerung abstimmen, nämlich die besitzenden, freien, männlichen und über 30-jährigen Bürger der Stadt. Keine politischen Rechte hatten Besitzlose, Sklaven, Frauen und Junge Junge verpassen Anschluss Nach der Schule in die Leere . Es war eine elitäre Minderheitsdemokratie. Höchst undemokratisch, würden wir sagen.

Bis 1971 durfte in der Schweiz die Mehrheit nicht abstimmen, die Frauen hatten politisch nichts zu melden. Sie wurden für unmündig gehalten, unfähig der politischen Meinungsbildung. Zutiefst undemokratisch und diskriminierend, finden wir heute.

Nun, knapp ein halbes Jahrhundert nach Einführung des Frauenstimmrechts Frauenstimmrecht «Mit Mann und Kind hätte ich es nie geschafft» , ist es wieder so weit: In vielen Gemeinden darf nur die Hälfte der Einwohnerschaft abstimmen. Die andere Hälfte hat keinen Schweizer Pass, ist noch nicht volljährig oder unmündig mit Beistandschaft.

In einer Demokratie Immer mehr Protestwahlen Wie ist die Demokratie noch zu retten? entscheidet normalerweise die Mehrheit über eine Minderheit. Was aber, wenn die Minderheit über die Mehrheit herrscht? Ist das noch demokratisch?

In der Westschweiz bestimmen Ausländer mit

Bei den letzten Nationalratswahlen haben in Spreitenbach AG bloss 10 Prozent der Bevölkerung ihre Stimme abgegeben. Die restlichen 90 Prozent blieben stumm. 61 Prozent, weil sie nicht wählen durften. Von den 39 Prozent, die durften, haben drei Viertel verzichtet. Wenig besser sah es in Opfikon ZH aus: Nur 11,7 Prozent der gut 21'000 Einwohnerinnen und Einwohner gingen an die Urne.

In Dutzenden Schweizer Gemeinden sind die Stimmberechtigten in der Minderheit. Im ersten Kanton, in Basel-Stadt, könnte es in 10 Jahren kippen, hat das Amt für Statistik errechnet.

Wenn 90 Prozent der Bevölkerung stumm bleiben

Stimmberechtigte in den Gemeinden Spreitenbach AG, Kreuzlingen TG und Schlieren ZH

In drei grossen Deutschschweizer Gemeinden mit hohem Ausländeranteil wählte letzten Herbst nur eine kleine Minderheit das neue Parlament.

Quelle: Angefragte Gemeinden/BFS – Infografik: Anne Seeger

Betroffen sind auch andere grosse Städte. In Genf haben bei nationalen Urnengängen nur 86'000 von über 203'000 Einwohnern das Stimmrecht. Bei Abstimmungen auf Gemeindeebene erhöht sich der Anteil allerdings markant und steigt von 42,2 auf 58,8 Prozent. Denn der Kanton Genf erlaubt – wie die anderen Westschweizer Kantone Waadt, Jura, Neuenburg und Freiburg – das Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene. Und hat damit die Basis der Mitbestimmung verbreitert.

Insgesamt 605 Schweizer Gemeinden kennen das Ausländerstimmrecht, davon nur rund 30 in der Deutschschweiz: gut zwei Dutzend Gemeinden in Graubünden und 4 in Appenzell-Ausserrhoden. (siehe auch Infografik am Artikelende) Doch auch auf dieser Seite des Röstigrabens gibt es Bewegung. Zu Jahresbeginn hat der Zürcher Kantonsrat eine Behördeninitiative vorläufig unterstützt, die das kommunale Ausländerstimm- und Wahlrecht im bevölkerungsreichsten Kanton der Schweiz vorantreiben soll.

Einige Schweizer Gemeinden haben bereits heute einen Ausländeranteil von über 50 Prozent; in mehreren Dutzend liegt er bei über 40 Prozent. Die Zahl steigt seit dem Zweiten Weltkrieg fast stetig, der Anteil Stimmberechtigter nimmt ab. Und gleichzeitig sinkt auch die Stimmbeteiligung Wahlen 2019 «Wir wählen nicht!» deutlich. Wenn es so weitergeht, wird es mehr und mehr Gemeinden geben, bei denen eine kleine Minderheit über die Mehrheit herrscht.

Fehlende Identifikation frustrierter Einwohner

In Kreuzlingen TG ist man über diese Entwicklung besorgt. Nur gut ein Drittel ist in der Stadt am Bodensee stimmberechtigt. «Wenn so viele Einwohner politisch nicht teilnehmen können, entsteht auch keine Identifikation mit der Stadt», sagt Stadtpräsident Thomas Niederberger. Im Wahlkampf hätten ihm viele Bewohnerinnen und Bewohner frustriert gesagt: «Sie, ich lebe seit 30 Jahren hier in Kreuzlingen, ich zahle Steuern, aber ich darf nicht mitbestimmen.» Das sei für die Stadt ein grosses Manko.

«Ich bin ganz klar ein Befürworter des Ausländerstimmrechts auf kommunaler Ebene», sagt Niederberger, ein Freisinniger. Der bürgerlich geprägte Stadtrat unterstütze das Anliegen einstimmig. «Dafür brauchten wir aber die Erlaubnis des Kantons Thurgau. Wir als Kreuzlinger dürfen das nicht allein entscheiden.» Die Kantonsverfassung müsste geändert werden. Nun arbeitet eine parteiübergreifende Gruppe an einer Initiative, die es den Thurgauer Gemeinden freistellen soll, ob sie ihre ausländische Bevölkerung an kommunalen Entscheidungen beteiligen will.
 

«Es sind einige interessierte und motivierte Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dazugekommen, die substanzielle Beiträge leisten.»

Lorenzo Schmid, Gemeindepräsident von Arosa GR


«Es ist ein Problem für eine Demokratie, wenn der Anteil der Stimmberechtigten immer weiter sinkt», sagt Thomas Milic vom Zentrum für Demokratie in Aarau. Im Prinzip sei jeder, der sich in der Gebietskörperschaft aufhalte, von politischen Entscheiden betroffen und könnte damit zum Volk gehören, so der Politologe. «Wir haben aber qualitative Ansprüche an die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger: dass sie unabhängig entscheiden können und genügend informiert sind. Wir sind uns relativ einig, dass ein elfjähriges Kind nicht die nötige Reife hat. Aber was ist mit den Ausländerinnen und Ausländern?»

In den Bündner Berggemeinden Arosa und Scuol dürfen Ausländer in Gemeindebelangen an die Urne. Die Erfahrungen sind durchwegs positiv. «Wir haben mit dem Stimmrecht für Ausländer nur gute Erfahrungen gemacht», sagt Arosas Gemeindepräsident Lorenzo Schmid. «Es sind einige interessierte und motivierte Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dazugekommen, die substanzielle Beiträge leisten.» Das Ausländerstimmrecht sei in der Dorfbevölkerung voll akzeptiert. Ähnlich klingt es in Scuol. «Wir haben ausschliesslich gute Erfahrungen gemacht», sagt Gemeindeschreiber Andri Florineth. «Es gibt und gab keinen Widerstand dagegen.»

Mangelnde Stimmbeteiligung

«Das Ausländerstimmrecht löst aber nur einen Teil des Problems», sagt Demokratieexperte Milic. Mindestens genauso bedenklich sei die tiefe Stimmbeteiligung bei denen, die abstimmen dürfen. Kommt hinzu: «Stimmregisterdaten der Stadt St. Gallen offenbaren, dass sich eingebürgerte Doppelbürger Zwei Pässe – viele Pflichten noch deutlich weniger beteiligen als gebürtige Schweizer.» Folge: Das Ausländerstimmrecht könnte die Stimmbeteiligung weiter senken.

Allerdings zeigen neue Zahlen der Stadt Zürich, dass sich hier die Wahlbeteiligung bei den Eingebürgerten in 12 Jahren mehr als verdoppelt hat. Der Grund: 2007 wurden vor allem Migranten aus den Balkanstaaten eingebürgert, denen politische Mitwirkung traditionell eher fremd ist. Heute sind es vor allem deutsche Einwanderer, die viel stärker politisch sozialisiert sind.

Rebekka Bürgele könnte sich heute einbürgern lassen . Aber das kann sie sich nicht leisten, das Geld ist knapp. Nach einem Burn-out hat sie ihren Job aufgegeben und plant eine Umschulung.

«Es fühlt sich schon seltsam an, in der Schweiz zu leben und mitzubekommen, wie viel man hier mitbestimmen kann, aber selbst überhaupt keinen Einfluss nehmen zu können.» Sie fühle sich ausgeschlossen, wenn über etwas abgestimmt wird, das sie betrifft oder besonders interessiert: das Gesundheitswesen, Umweltpolitik, soziale Themen. Eine Meinung bildet sie sich trotzdem. Und diskutiert sie mit ihren Schweizer Freunden beim Znacht.


* Name geändert

Hier bestimmen Ausländer mit
Infografik: In diesen Schweizer Gemeinden können Ausländer unter Umständen abstimmen und wählen
Quelle: Angefragte Gemeinden/BFS/SRF – Infografik: Anne Seeger

Das sind die 20 Gemeinden mit den meisten Einwohnerinnen und Einwohnern ohne roten Pass und Stimmrecht. (2018/*2019)

1 Täsch VS 58%
2 Paradiso TI 58%
3 Leysin VD 55%
4 Kreuzlingen TG *55%
5 Pregny-Chambésy GE 52%
6 Renens VD *50%
7 Spreitenbach AG 50%
8 Chavannes-près-Renens VD 50%
9 Neuenhof AG 49%
10 Bodio TI 49%
11 Rorschach SG 49%
12 St. Margrethen SG 48%
13 Genf GE 48%
14 Saint-Sulpice VD 47%
15 Ecublens VD 47%
16 Moudon VD 46%
17 Vico Morcote TI 46%
18 Dietikon ZH 46%
19 Schlieren ZH *45%
20 Opfikon ZH 45%

Mehr politisches Potenzial

Anteil Stimmberechtigte in den Gemeinden Renens VD, Leysin VD und Genf

Renens VD, Leysin VD und Genf unterscheiden sich stark in der Grösse, kennen aber alle das Stimmrecht für Ausländer.

Quelle: Angefragte Gemeinden/BFS – Infografik: Anne Seeger
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