Sherian (17) nimmt sich das Leben
Ohne Verurteilung landet ein 17-Jähriger in der Gefängniszelle des Jugendheims Prêles. Und erhängt sich an der Zellentür.
aktualisiert am 25. August 2016 - 10:07 Uhr
Sherian war 17, als er starb. Vier Jahre später sitzt seine Mutter Alime K. auf dem Sofa, öffnet die Kartonbox auf ihren Knien, kaum grösser als eine Schuhschachtel. Darin ist alles, was von ihrem Sohn geblieben ist: eine Handvoll Fotos, sein Handy, sein Ohrstecker, die Schulmappe mit seinen Zeugnissen, sein Portemonnaie. «Warum», fragt sie, «musste Sherian in diese Zelle?»
Am 23. August 2012 um 17.15 Uhr findet ein Betreuer des Jugendheims Prêles den Jugendlichen, erhängt an der Zellentür. «Die Füsse hatten Bodenkontakt. Der Strick war aus dem Matratzenüberzug gedreht worden», schreibt der diensthabende Arzt vier Stunden später in seinen Bericht. «Hinweise auf Fremdeinwirkung sind nicht feststellbar. Suizid durch inkomplettes Erhängen.»
Eine gute Stunde vor seinem Tod sind der stellvertretende Direktor L. F. und der Betreuer P. S. bei Sherian in der Zelle. Sie erklären, dass er drei bis fünf Tage drinbleiben müsse, die endgültige Strafe werde ihm am nächsten Morgen mitgeteilt. Sherian bettelt: «Geben Sie mir bitte nicht fünf Tage, sonst bringe ich mich um.»
L. F. gibt später zu Protokoll, beim Besuch in der Zelle sei alles «wie immer» gewesen: «Die Jugendlichen geben oft solche Drohungen von sich, aber diese lösen sich immer in Luft auf.» In diesem Fall war es keine leere Drohung.
Einen Tag zuvor, am 22. August, wird im Jugendheim ein Schraubenzieher vermisst. Der Sicherheitsdienst durchkämmt die Zimmer der Jugendlichen und findet das Werkzeug unter Sherians Matratze. Weil Schraubenzieher auf der internen Liste der gefährlichen, verbotenen Gegenstände stehen, macht Betreuer P. S. kurzen Prozess. Sherian landet in der Gefängniszelle. Betonwände, Betonbett, Betontisch, kein Fenster, keine Kamera. Nur Bleistift und Notizblock.
Am nächsten Morgen informiert P. S. seinen Vorgesetzten, den stellvertretenden Direktor L. F., über den Vorfall. Nach dem Frühstück darf Sherian auf einen kurzen Rundgang und kann eine Zigarette rauchen. Der stellvertretende Direktor stellt ihn zur Rede. Sherian gibt an, den Schraubenzieher für einen Kollegen versteckt zu haben. Er muss zurück in die Zelle. Am Nachmittag stellt sich der andere Jugendliche.
Vier bis sechs Tage scharfer Arrest sei die normale Sanktion bei Verstössen gegen das Besitzverbot von gefährlichen Gegenständen, sagten die Betreuer bei den Einvernahmen.
Etwas anderes sagt das bernische Gesetz über freiheitsbeschränkende Massnahmen im Vollzug von Jugendstrafen und Jugendmassnahmen. Der sogenannt strenge Einschluss über mehrere Tage ist demnach die schärfste aller Strafen. Man hätte Sherian auch das Handy wegnehmen oder ihn im Zimmer einschliessen können.
Die Gebäude auf dem Tessenberg, am Fuss des Chasserals, erinnern an eine Kaserne der Fünfzigerjahre, eben erst grosszügig ausgebaut mit einem modernen Stahl-Beton-Trakt. Den Politikern des Kantonsparlaments hatten die Verantwortlichen zuvor versprochen, die 38-Millionen-Franken-Investition werde sich auszahlen, jugendliche Straftäter aus der ganzen Schweiz würden dereinst ihre Strafe in Prêles verbüssen und Geld in die Kasse spülen.
Es kam anders. Zeitweise blieben zwei Drittel der Plätze im Jugendheim leer, für den Kanton ein finanzielles Desaster. Noch dieses Jahr wird das Heim in ein Ausschaffungsgefängnis umgewandelt. Sherian war erst der vierte Bewohner im neuen Trakt.
Das Jugendheim sei «innovativ, sicher, funktional», frohlockte die Heimleitung bei der Inbetriebnahme des Neubaus. «Geregelte Tagesabläufe, psychiatrische Gutachten, Schule, Arbeitsatelier, medizinische Versorgung, Seelsorge.» Jugendliche würden «stabilisiert», es gebe «Sicherheit für alle».
Die Realität sah anders aus. Mit einem Psychologen hatte Sherian auch sieben Tage nach seinem Eintritt noch nicht gesprochen. Ein Termin war für den folgenden Tag geplant.
«Die Verantwortlichen hätten aufgrund seiner Vorgeschichte und seiner Aufenthalte in anderen Institutionen wissen müssen, dass sich Sherian in einer psychisch labilen Situation befand», sagt François Contini, Anwalt der Mutter. Der verantwortliche Betreuer räumte in der polizeilichen Einvernahme ein, zum damaligen Zeitpunkt eigentlich nichts über den Jugendlichen gewusst zu haben.
Sherians Geschichte ist die eines fröhlichen Teenagers, der auf Abwege kommt und in einen Teufelskreis gerät. Bei den Kumpels spielt er gern den Clown. Er posiert mit ihnen neben einem Polizeiauto, packt sich zwei Freundinnen unter je einen Arm, wirft einen Kollegen ins Wasser.
Auf seinem letzten Bild steht er allein vor dem Heim der Jugendpsychiatrie in St. Imier. Mit Baseballmütze, Kopfhörern und verschränkten Armen schaut er melancholisch in die Kamera.
Sein Leben hat in frühen Kindesjahren eine schwierige Wendung genommen. Die Eltern streiten sich, der gewaltbereite Vater terrorisiert die Familie. Mittendrin der kleine Sherian, der sich als ältestes von vier Kindern dem Vater entgegenstellt. Statt Liebe kassiert er Prügel.
Etwa mit 14 gerät Sherian auf die schiefe Bahn. Seine Mutter bemerkt, dass der DVD-Spieler im Wohnzimmer fort ist. Sherian hat ihn auf der Strasse verkauft – für ein bisschen Cannabis. Er will seinen Kumpels gefallen und lässt sich für krumme Deals einspannen. Die Mutter ist mit ihren vier jugendlichen Kindern allein und heillos überfordert.
Sherian kommt in eine Jugendeinrichtung im Wallis, abgeschieden von der Familie und der Clique. Ein straffes Tagesprogramm in einer kleinen Gruppe ist angesagt – Sport, durchbeissen, das Selbstwertgefühl steigern.
Das Jahr läuft gut für ihn. Doch kaum zurück, gerät er wieder ins alte Fahrwasser. Er kommt in eine Wohngruppe der Jugendpsychiatrie in St. Imier. Dort soll er eine Lehre absolvieren. Sherian haut immer wieder ab. Er fährt nach Biel, will nach Hause, trifft Kumpels, kauft Cannabis. Sherian hat die ganze Aufmerksamkeit der Behörden, aber das Gegenteil von dem, was er wirklich gesucht hat: Zuwendung und Geborgenheit.
Im Juni 2012 bleibt er seinem Praktikumsplatz unentschuldigt fern. Die Urinprobe zeigt, dass sich sein Cannabiskonsum auf 15 Joints pro Tag verfünffacht hat. Die Vormundschaftsbehörde zitiert die Mutter zur Krisensitzung.
Sherians stetes Ausbüxen wird als «inadäquates Verhalten» taxiert. Es gibt eine «letzte Warnung». Sherian müsse endlich die Regeln des Jugendfoyers respektieren.
«Es scheint, dass Ihr Sohn einen etwas strikteren Rahmen benötigt. Wir empfehlen, dass er im Jugendheim Prêles platziert wird, um dort eine interne Ausbildung zu absolvieren.» Genau diese Kombination von enger Begleitung und interner Ausbildung habe ihn überzeugt, sagt der Sozialarbeiter, der die Familie mehrere Jahre begleitet hatte. Er, der Jahre zuvor selber auf dem Tessenberg gearbeitet hat, stellt heute konsterniert fest: «Wenn ich gewusst hätte, dass labile Jugendliche im Wohnheim bei einem Konflikt oder bei einem Vergehen wie inhaftierte Straftäter sanktioniert werden, wäre ich mit der Platzierung nicht einverstanden gewesen.»
Anfang August 2012 schreibt die Vormundschaftsbehörde in einem Bericht: «Die Familie hat ziemlich abgebaut», die Mutter sei «hilflos», der Jugendliche «respektlos». Die Berichte sind abgefasst in kaltem Juristendeutsch. Wie der Familie konkret geholfen werden könnte, schreiben die Zuständigen nicht.
Wenige Tage später wird der Mutter der Obhutsentzug eröffnet. Am 17. August wird Sherian nach Prêles verlegt. Im Vollzugsjournal heisst es, er habe sich in einem «emotional gestörten Zustand» befunden.
Kein Wunder. Der schmächtige 17-Jährige, der direkt aus der Jugendpsychiatrie ins geschlossene Jugendheim kam, hat gerade ein dreiwöchiges Kontaktverbot zur Familie erhalten. Ausnahmsweise darf er seine Mutter anrufen. Es sollte das letzte Mal sein, dass sie seine Stimme hört – ein unaufhörliches Weinen.
Vormundschaftsbehörden, Sozialarbeiter, Jugendpsychiatrie, verschiedenste Jugendeinrichtungen haben sich um Sherian gekümmert. Trotzdem hat sich der junge Mensch das Leben genommen. Was ist da falsch gelaufen?
Fachleute, die in den Fall involviert waren, zeigen sich ratlos. «Ich weiss nicht, was wir hätten besser machen können», sagt eine Psychiaterin. Ob die Vormundschaftsbehörden von Biel aus diesem tragischen Fall Lehren gezogen hat, ist nicht klar. Die zuständige Stelle lässt Anfragen des Beobachters unbeantwortet.
Strafrechtlich ist der Fall noch nicht aufgearbeitet. Der damals stellvertretende Direktor sowie der zweite involvierte Betreuer sind in erster Instanz wegen Freiheitsberaubung verurteilt worden, der stellvertretende Direktor zudem wegen fahrlässiger Tötung. Beide rekurrierten. Mitte August stehen sie vor Obergericht. Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung.
Die Mutter und die Geschwister kommen bis heute nicht über Sherians Tod hinweg. An die Betonwand seiner Zelle hat der Jugendliche die Namen seiner Geschwister und seiner Mutter gekritzelt. Und geschrieben: «Ich liebe euch von ganzem Herzen, ihr seid mein Leben. Ich schreibe dies mit meinen Tränen und meinem Herzen. Pardonne-moi maman.»
Gemäss den Akten hat Sherian seine Abschiedsworte höchstwahrscheinlich bereits am Tag vor seinem Tod geschrieben. Den Betreuern war die Botschaft an der Zellenwand nicht aufgefallen. Alles war «wie immer».
Update vom 25. August 2016: Betreuer freigesprochen
Der ehemalige Vizedirektor des Jugendheims Prêles BE ist nicht für den Tod des Jugendlichen verantwortlich, der sich vor vier Jahren in der Gefängniszelle das Leben genommen hatte. Das Obergericht des Kantons Bern hob den Schuldspruch der ersten Instanz auf, welche ihn noch wegen fahrlässiger Tötung und Freiheitsberaubung verurteilt hatte. Einen zweiten Betreuer, der zuvor vom Regionalgericht wegen Freiheitsberaubung verurteilt worden war, sprach das Obergericht ebenfalls frei.
Der Staatsanwalt liess in seinem Plädoyer bereits den Vorwurf der Freiheitsberaubung fallen. Hingegen verlangte er eine Verurteilung des damaligen Vizedirektors wegen fahrlässiger Tötung. Der Suizid des Jugendlichen wäre zu verhindern gewesen, argumentierte der Staatsanwalt. Auf die Selbstdrohung des 17-Jährigen hätte der Vizedirektor beispielsweise den heiminternen Psychologen konsultieren sollen. Weil er zudem nicht einmal in der Zelle des Jugendlichen gewesen sei, habe er nicht bemerkt, dass dieser sein Essen nicht angerührt und an die Zellenwand Abschiedsworte für seine Familie gekritzelt hatte.
Das Obergericht stellte sich nun aber auf die Seite der Verteidigung, die einen vollumfänglichen Freispruch für die beiden Betreuer verlangte. Die Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. Ob der Staatsanwalt oder der Anwalt der Angehörigen des Jugendlichen das Urteil weiterzieht, ist noch offen.
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