«Ein zurückgezogenes Leben ist ein Risiko»
Ältere Menschen werden oft misshandelt – vor allem psychisch. In der Schweiz gibt es jährlich bis zu 500'000 Fälle. Zeit, dass etwas geschieht, sagt Gewaltforscherin Paula Krüger.
Beobachter: Frau Krüger, 300'000 bis 500'000 Fälle von Gewalt gegen Betagte soll es in der Schweiz jährlich geben. Erschreckende Zahlen – auch für Sie als Expertin?
Paula Krüger: Ja, das Ausmass ist enorm. Viele denken bei Gewalt aber an körperliche oder sexuelle Gewalt. Das sind natürlich nicht alles solche Fälle. Zudem sind nicht jedes Jahr 300'000 bis 500'000 ältere Menschen neu betroffen. Viele erleben wiederholt Gewalt.
Welche Form der Gewalt?
Die häufigste Form ist psychische Gewalt. Dazu zählen etwa Demütigungen, das Kleinmachen des Gegenübers. Äusserungen wie: «Du bist zu nichts mehr zu gebrauchen, du bist nur noch eine Last!»
Sie zählen zu den Gewaltformen auch die Vernachlässigung. Warum?
Wenn jemand, der gepflegt wird, nicht genug zu essen und zu trinken bekommt, kann das lebensbedrohlich werden. Aber auch emotionale Vernachlässigung wie zum Beispiel zu wenig Zuwendung führt zu Leid. In solchen Fällen werden angemessene Handlungen unterlassen, zentrale menschliche Bedürfnisse nicht befriedigt. Quasi der Gegenpol zu dem, was wir uns klassischerweise bei Gewalt vorstellen: wenn eine unangemessene Handlung zu Leid führt.
Wer ist im Alter von Gewalt betroffen?
Grundsätzlich gilt: Je abhängiger eine Person von anderen ist, desto höher ist das Risiko, dass sie Opfer von Gewalt oder Vernachlässigung wird. Sei es, dass man auf die Pflege und Betreuung anderer angewiesen ist, sei es, dass eine finanzielle oder emotionale Abhängigkeit besteht. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, weil dann häufiger körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen auftreten. Ein Alter von über 74 Jahren gilt als Risikofaktor.
Stimmt es, dass eher Männer Täter und eher Frauen Opfer sind?
Das weibliche Geschlecht gilt tatsächlich als Risikofaktor. Das wird aber kritisch hinterfragt. Es hängt von der Gewaltform und vom Kontext ab, den man sich anschaut. Bei häuslicher Gewalt im Alter haben wir festgestellt, dass beide Geschlechter ungefähr gleich stark betroffen sind. Das ist ein Unterschied zu den vorhergehenden Lebensabschnitten, in denen Frauen häufiger die Opfer sind. Eine mögliche Erklärung für diese Umkehr der Rollen ist, dass Frauen häufiger ihre Männer pflegen als umgekehrt und es in diesem Kontext zu Gewalt kommt.
«In anderen Bereichen, etwa bei Gewalt gegen Kinder, sind wir weiter. Gewalt im Alter hingegen ist noch ein grosses Tabu. Gewalt und Alter – das scheint für uns nicht zusammenzupassen.»
Paula Krüger, Gewaltforscherin
Allgemein wird Gewalt mit böser Absicht ausgeübt. Bei Gewalt im Alter auch?
In der Pflege spielt böse Absicht in der Mehrheit der Fälle keine Rolle, sondern es ist Überforderung und Stress in einer konkreten Situation. Bei den Pflegefachkräften fallen auch die Arbeitsbedingungen ins Gewicht. Wenn man auf die einzelnen Patientinnen und Patienten und ihre Bedürfnisse eingehen will, braucht das Zeit. Die hat man in der Pflege aber nicht.
Also ist auch der rücksichtsvollste Mensch nicht davor gefeit, gewalttätig zu werden.
Genau. Als pflegende Angehörige muss man oft über Jahre viel leisten und die eigenen Bedürfnisse zurückstellen. Dazu kommen vielleicht Enttäuschung und Wut, weil man als Paar im Alter andere Pläne hatte, aber die Krankheit des Partners alles zunichtemacht. Körperlich und emotional ist das äusserst belastend. Auch deswegen sind Entlastungsangebote für pflegende Angehörige so wichtig.
Macht die soziale Isolation anfällig dafür, Gewalt ausgesetzt zu sein?
Ein zurückgezogenes Leben ist ein Risikofaktor. Niemand fühlt sich verantwortlich, niemand könnte einschreiten. Und mit den wenigen Leuten, mit denen die ältere Person noch Kontakt hat, will sie es sich nicht verscherzen – sie ist abhängig. Betroffene können es deshalb durchaus als die bessere Alternative ansehen, die Situation auszuhalten, statt den Kontakt abzubrechen, selbst wenn Gewalt im Spiel ist.
Das lässt vermuten, dass es eine grosse Dunkelziffer gibt.
Wir müssen tatsächlich von einem sehr grossen Dunkelfeld ausgehen. Das ist grundsätzlich so bei Gewalt im häuslichen Bereich. Die Literatur geht davon aus, dass auf jeden bekannten Fall von Gewalt im Alter noch 24 weitere dazukommen, die verborgen bleiben. Denn viele Betroffene vertrauen sich aus Scham oder Angst niemandem an. Zudem verstehen nicht alle unter Gewalt das Gleiche.
Vielen Opfern ist nicht bewusst, dass sie Gewalt ausgesetzt sind?
Bestimmte Handlungen, die wir heute übereinstimmend als Gewalt bezeichnen, wurden vor Jahrzehnten noch anders gewertet. Und das bedeutet, dass gerade ältere Betroffene selber vielleicht gar nicht sagen würden, dass sie Gewalt erleben. Demütigungen oder verbale sexuelle Belästigungen sind so ein Beispiel. Hier sind wir heute stärker sensibilisiert.
Angesichts dieser hohen Zahlen: Müssten wir als Gesellschaft nicht viel stärker alarmiert sein?
Dass wir es nicht sind, hat vielleicht damit zu tun, dass das Bewusstsein für das Thema fehlt. In anderen Bereichen, etwa bei Gewalt gegen Kinder, sind wir weiter. Gewalt im Alter hingegen ist noch ein grosses Tabu. Gewalt und Alter – das scheint für uns nicht zusammenzupassen.
Wir als Gesellschaft werden uns dem Thema stellen müssen.
Stimmt. Das Problem wird sich verschärfen, je mehr Ältere es gibt. Es braucht deshalb eine Enttabuisierung. Man muss darüber informieren, näher hinschauen, deutlich machen, woran sich die Gewalt erkennen lässt. Und an wen man sich wenden kann. Letztlich müssen wir uns alle überlegen, wie wir miteinander umgehen wollen.
Was erwarten Sie von der Politik?
Unser Bericht entstand ja im Auftrag des Bundes. Er sollte eine Grundlage für Massnahmen schaffen. Passiert ist bislang nichts. Das liegt teils sicher daran, dass die Pandemie alles verzögert. Aber ich wünsche mir sehr, dass das Thema danach wieder aufgegriffen wird und sich konkret etwas tut. Das umfasst auch Mittel für Forschung. Wir wissen noch viel zu wenig über das Phänomen, insbesondere fehlt Wissen darüber, wie gut Präventionsmassnahmen wirken.
Jedes Jahr gibt es in der Schweiz 300'000 bis 500'000 Fälle, in denen Menschen über 60 physische oder psychische Gewalt erfahren. Das zeigte 2020 erstmals eine Studie der Gewaltforscherin Paula Krüger. Grundlage waren internationale Schätzungen sowie vorhandene Daten in der Schweiz.
Zudem: Die Strafanzeigen wegen Gewalttaten gegen Betagte haben sich innert zehn Jahren mehr als verdoppelt – von 3600 auf 7400 Fälle, das sind täglich 20 Anzeigen. Das zeigt eine Untersuchung von Pro Senectute vom Herbst 2021. Zu bedenken sei: Nur in den seltensten Fällen werden Delikte zur Anzeige gebracht.
Rat finden Betroffene bei «Alter ohne Gewalt». Die Anlaufstelle wurde 2019 geschaffen – als erste und bislang einzige nationale Plattform zum Thema. Erreichbar ist sie im Internet unter alterohnegewalt.ch oder via Telefon-Hotline 0848 00 13 13.
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12 Kommentare
Auch das ist - immer noch - ein "Tabu-Thema", gibt es doch weiterhin viel zu viel Gewalt im Alter in der Schweiz!
Kontrollen? NEIN!!
Es gibt schweizweit weiterhin zu viele Personen, welche absolut "ungeeignet" sind für die: Pflege, Betreuung von älteren, abhängigen Menschen (Menschen mit Demenz, Psychiatrie, Alters- und Pflegeheime, Privatbereiche)!!
Und auch in diesen Bereichen, sind die - vielen -Zuständigen im Schweizer "Gesundheits-Wesen", weiterhin untätig, inaktiv....!!
"Falsche Leute in falschen Positionen"!
Es braucht unbedingt entsprechende, klare Regeln gesamtschweizerisch und "Eignungstests" für Menschen, welche sich um andere, vor allem auch hilflose Menschen kümmern, kümmern wollen = Charakter, Persönlichkeit, Empathie, Sprache, Umgangsformen, Leumund)!
Danke! Das sehe ich genauso!
Danke Frau Studer für Ihre Antwort.
Wie Sie schreiben gehen die guten Pflegenden, aus Angst einfach ohne sich für das Problem einzusetzen. Hier liegt doch das Problem. Mit dem stillen davonlaufen werden die Bewohnerinnen und Bewohner einfach weiter leiden und es ändert sich überhaupt nichts.
Wenn ein Team aber zusammenhält und als gegen die Missstände bei der Heimleitung die Fehler anspricht, hätte das ganz sicher viel Erfolg zum wohl der Insassen in diesen Institutionen. Ich bin sicher, dass auf diese Weise die Kaderleute in den Heimen mächtig aufpassen würde, wem sie Kündigen. So wie es jetzt läuft wird ja immer derjenige entlassen, welcher Fehler meldet. Es braucht einfach den Mut sich für etwas einzusetzen liebe Pflegende.
Prof. Dr. David Schwappach Spricht hier Klartext, was in der Schweiz in den Spitäler falsch läuft.
Das was er sagt hat aber genauso Gültigkeit in alters und Pflegeheimen. Siehe Link: vom 18.11.21
https://www.srf.ch/audi…
Wir haben ein Bundesamt für Statistik, welcher Tausende Statistiken herausgibt, aber über dieses Thema ist die totschweige Regel eingeschaltet.
Dass die "Gesellschaft" (d.h. wir alle) nicht alarmiert sind, liegt nicht daran, dass das Bewusstsein für das Thema fehlt. Es interessiert schlicht und einfach kaum jemanden. Die Medien, Politiker, Schulen tun ja auch genügend dafür, die Älteren Menschen als "Schmarotzer, die auf Kosten der Jungen leben" darzustellen.
Jedes Mal, wenn das Thema AHV oder Pensionsalter diskutiert wird, wird diese polemische und dumme Aussage und ähnliches runtergebetet. Ich habe noch nie gelesen, dass die AHV-Rentner ein Recht auf die Rente haben, weil sie ihr ganzes Arbeits-Leben lang dafür eingezahlt haben.
Dass die AHV massive Finanzierungsprobleme hat, ist ganz sicher nicht der Fehler der AHV-Rentner. Sondern derjenigen, die mit dem Geld missgewirtschaftet haben. Und dass die geburtenstarken Jahrgänge derzeit und in den nächsten Jahren ins AHV-Alter kommen, wissen die Verantwortlichen ebenfalls seit Jahrzehnten.
👍🏼👍🏼👍🏼👍🏼👍🏼
Anscheinend ist das Thema Missstände in Altersheimen unwichtig. Es sind ja nur Alte. Dass das Problem aber in den Heimen immer wieder zu Diskussionen führt ist den meisten Pflegenden bekannt. Schlimm ist, dass praktisch niemand den Mut hat sich als Team zusammen an die Geschäftsleitungen zu wenden und dafür zu sorgen, dass die Heimbewohner anständig und Kompetent behandelt werden. Es ist immer so, dass die welche sich für das Wohl der Bewohner einsetzen zum Teufel gejagt werden. Die Heimleitungen spielen so richtig Vogelstrauss Politik. Sozusagen sie gehen den einfachen Weg und schauen weg. Es ist unbedingt notwendig, dass das Pflegepersonal endlich zusammensteht und wenn notwendig an die Öffentlichkeit geht. Bei schlimmen Vorkommnissen sollten sie auch Gruppen Kündigungen machen. Eventuell würden die Super Heimleitungen dann endlich Erwachen und ihr Ego ein wenig herunterfahren. Mit einer blöden Homepage, welche den Himmel-auf-Erden verspricht ist es nicht getan. Es soll allen klar sein, Die HEIMBEWOHNER sind die Priorität EINS. Denn SIE WOHNEN in diesen Institutionen und haben das Recht auf würdevolle Betreuung. Jeder -- da gehören auch das Kader der Pflegeheime dazu.. soll mal denken, dass er auch dort landen könnte.
So sehe ich es auch. Es ist auch so, dass betroffene HeimbewohnerInnen und deren Angehörige sich nicht getrauen, etwas zu sagen, weil es die BewohnerInnen danach zu spüren bekommen, wenn sie sich beschweren. Gute Leute bei den Pflegenden gehen, weil sie die Zustände nicht aushalten.