Rassistische Spuren in der Stadt
Zürich lässt Häusernamen entfernen, andere Städte überdenken jetzt Zeitzeichen des Kolonialismus. Gehören sie weg?
Mit Denkmälern ragt ein Stück Vergangenheit in die Gegenwart. Damit wird streitbar, was einst gefeiert wurde. Was soll mit Statuen für Kolonialisten geschehen? Was ist mit Namen von Häusern, Strassen, Plätzen? Woran wollen wir uns in der Öffentlichkeit erinnern – und wie?
Seit der Antike werden Denkmäler verändert, abgerissen, gestürzt. Frühere Helden stehen heute vor allem in der Kritik, weil sie Sklavenhändler waren.
So wurde im vergangenen Sommer der britische Unternehmer Edward Colston, der an der Versklavung von über 84'000 Menschen beteiligt war, im Hafen von Bristol versenkt. In mehreren belgischen Städten wurde König Leopold II. mit roter Farbe übergossen. Bei den sogenannten Kongogräueln liess er acht bis zehn Millionen Menschen ermorden. In der Schweiz besprühten Aktivistinnen das Denkmal von David de Pury. Er hatte mit Sklavenhandel ein Vermögen erzielt, das er später der Stadt Neuenburg vermachte.
Dass gerade jetzt diese Diskussion aufflammt, ist kein Zufall. Als im Mai 2020 der Afroamerikaner George Floyd bei einem brutalen Polizeiübergriff getötet wurde, erwachte eine Bewegung zum Leben – weltweit. In der Schweiz marschierten Zehntausende durch die Städte und forderten eine Gesellschaft ohne Diskriminierung. Weil ja: Auch hier gibt es Rassismus, auch die Schweiz hat ein koloniales Erbe.
Das zeigt sich auch im öffentlichen Raum. Deshalb fordern Aktivisten und Betroffene: Was rassistisch ist, gehört kommentiert oder sogar entfernt. Kritikerinnen setzen dem entgegen, dass die Spuren in Bezug auf die Zeit gesehen werden müssen, in der sie entstanden sind. Sie gehörten zur Geschichte, und die dürfe man nicht einfach ausradieren.
«Der Kolonialismus soll nicht unsichtbar werden, sondern die Betrachter sollen sich über die koloniale Vergangenheit der Schweiz informieren.»
Hans Fässler, Historiker
«Die Debatte ist komplex. Auch weil es keine präzise Definition gibt, wann Zeitzeichen rassistisch sind», sagt Hans Fässler. Der St. Galler Historiker ist auf Kolonialismus und Rassismus spezialisiert. Kein Verständnis hat er für Aussagen wie «Damals war das halt eine andere Zeit» oder «Das war doch nicht böse gemeint».
«Die Opfer von Sklaverei, Rassismus oder Antisemitismus wussten schon immer, dass das nicht normal war. Genau wie es zu allen Zeiten schon kritische Stimmen gab.» Er verstehe die Wut der Aktivisten – trotzdem solle man diskutieren können, wie man mit belasteten Orten umgehen will. «In einer Gesellschaft gibt es verschiedene Meinungen, die respektiert und gehört werden müssen.»
Manchmal ergebe es auch durchaus Sinn, Denkmäler stehen zu lassen. «Der Kolonialismus soll nicht unsichtbar werden, sondern die Betrachter sollen sich über die koloniale Vergangenheit der Schweiz informieren.» Infotafeln könnten Fragen aufwerfen und Diskussionen anregen.
Problematische Denkmäler können auch Mahnmale sein – darin sind sich viele einig. Aber in welcher Form? Diskussionen darüber gibt es seit Jahrzehnten, passiert ist wenig, auch im letzten Jahr. Konzepte, was mit problematischen Zeitzeugen geschehen soll, hatten Kantone und Städte keine.
Bis jetzt. Als Zürich diesen Frühling den Bericht «Möglichkeiten zum Umgang mit kolonialen Spuren im Stadtraum» vorstellte, rieben sich viele verblüfft die Augen. Die grösste Stadt der Schweiz entschied, das Problem anzugehen: «Rassismus darf nicht toleriert werden. Der Stadtrat will, dass solche rassistischen Zeitzeichen im öffentlichen Raum entfernt, aufgearbeitet oder kontextualisiert werden.»
Für den Bericht wurden Häusernamen, Wandmalereien oder Holzfiguren angeschaut und in drei Kategorien eingeteilt:
- Objekte, die nicht mehr sichtbar sein sollen, weil der rassistische Bezug offensichtlich ist;
- Objekte, die eine Aufarbeitung erfordern, weil eine Entfernung nicht in Frage kommt;
- Objekte, die sich in einen Zusammenhang stellen lassen, da ihr kolonialer Bezug weniger offensichtlich ist – etwa mit einer erklärenden Plakette.
«Die Auseinandersetzung mit kolonialen Spuren oder Zeitzeichen mit rassistischer Wirkung ist ein längerer Prozess. Wir stehen erst am Anfang», sagt Astrid Herrmann vom Zürcher Präsidialdepartement. Zurzeit wird auch eine Strategie erarbeitet, was mit städtischen Denkmälern passieren soll. Geplant seien zudem eine Ausstellung und Unterrichtsmaterial für Schulen.
«Die Stadt hat eine Vorbildfunktion», sagt Dembah Fofanah, Mitgründer des Kollektivs «Vo da», das sich dafür einsetzt, Diskriminierung und Rassismus in der Schweiz zu benennen. «Wir müssen gemeinsam Rassismus dekonstruieren und die Wirkungen kolonialer Geschichte mehr thematisieren – die Vergangenheit nicht auslöschen, aber neu anschauen.» Es gehe um Toleranz, Zugehörigkeit und Menschenwürde. Auch die persönliche: «Ich mag mich nicht von den Fassaden meiner Stadt rassistisch beleidigen lassen, wenn ich durch die Strassen gehe.» Dembah Fofanah und seine Mitstreiterinnen haben die Stadt mehrmals kontaktiert, bis sie aktiv wurde.
Auch in anderen Städten kommen Anstösse meist aus der Bevölkerung. «Diese ist sensibilisiert und setzt sich vor allem auf den sozialen Medien ein», heisst es bei der Stadt Bern. So wurde die ehemalige «Colonial Bar» am Kornhausplatz nach einer Debatte auf Instagram in «Versa» umbenannt. Im Schulhaus Wylergut hing bis vor kurzem ein Wandbild, das bei jedem Buchstaben des Alphabets Tier-, Pflanzen- und angebliche Menschenarten abbildete. Ein 2019 lancierter Wettbewerb sollte eine sinnvolle Zukunft dafür finden. Nun geht das Bild ins Museum, wo es historisch eingeordnet werden kann.
In Neuenburg forderte eine Petition, die Bronzestatue des Sklavenhändlers David de Pury zu entfernen. Sie steht noch immer. Reagiert hatte die Stadt aber 2018 bei einem Platz bei der Universität. Früher ehrte er Gletscherforscher Louis Agassiz, der im 19. Jahrhundert Rassentheorien verbreitete. Nun trägt er den Namen der verstorbenen Nationalrätin Tilo Frey, die 1971 als erste Schwarze in den Nationalrat gewählt wurde.
In St. Gallen hielt der Stadtrat vor zwei Jahren fest: Strassen und Plätze umzubenennen, sei jederzeit möglich, wenn die Forschung oder andere Quellen das empfehlen. Ein noch hängiges Postulat fordert einen «Weg der Vielfalt»: einen Rundgang, der eine andere Geschichte der Stadt zeigen soll.
«Für Menschen, die in ihrem Alltag Rassismus ausgesetzt sind, ist es eine Zumutung, auch im öffentlichen Raum auf rassistische Darstellungen zu stossen», sagt Patricia Purtschert. An der Uni Bern lehrt die Kulturwissenschaftlerin zur Geschichte des Postkolonialismus in der Schweiz. Denkmäler und Strassennamen seien aber nur ein kleiner Teil einer viel grösseren Debatte.
«Wie wir Demokratie und gesellschaftliche Teilhabe verstehen, das lässt sich nicht lösen von der Frage, wie wir mit Rassismus umgehen», sagt Purtschert. Noch immer herrsche vielerorts eine koloniale Amnesie vor: Es werde getan, als ginge uns das Thema nichts an. «Dabei war die Schweizer Beteiligung am Kolonialismus sehr viel stärker, als viele annehmen. Die Folgen sind noch heute sichtbar und wirken in unsere Gegenwart hinein.» Fälschlicherweise werde die Debatte oft als intellektuell abgetan. Eine Ausrede, findet Purtschert. «Für die Betroffenen ist diese Art der Diskriminierung überhaupt nicht abstrakt.»
Wie also kann der öffentliche Raum als Erinnerungsraum funktionieren? Wer steht da – und wer nicht?
Konkrete Antworten sucht die Schweizerische Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften mit der Aktion «Mal Denken!». In einem digitalen Kartenspiel, einer Art Denkmal-Tinder, lässt sie die Bevölkerung 24 Denkmäler bewerten. Die meisten Fotos zeigen Männer wie Wilhelm Tell auf dem Rathausplatz in Altdorf – Swipe nach rechts, er darf bleiben. Johann August Sutter in Rünenberg im Baselbiet – Swipe nach links, der muss weg. Das finden zumindest 63 Prozent der Abstimmenden, denn sein Reichtum gründete auch auf Sklavenhandel.
«Wir wollen eine Debatte anregen, an der sich möglichst viele beteiligen», sagt Projektleiterin Christina Graf. Das Ziel: Lösungen finden, die dazu anregen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie dürften ruhig kreativ sein – dazu fordert auch der Denkmal-Wettbewerb auf. «Wir können Gegendenkmäler errichten oder Statuen auf andere Weise verfremden. Auch digitale Möglichkeiten wie Apps oder Augmented Reality können genutzt werden.»
Für mehr Kreativität plädiert auch Hans Fässler: «Denkmäler könnten über QR-Codes zu Betrachterinnen sprechen oder aus bepflanzten Hängen hervortreten. Wir könnten sie nachts an Hausfassaden projizieren, in Schräglage versetzen, mit Schablonen besprayen – selbst schmelzende Statuen aus Wachs wären denkbar.»
Besonders nötig findet er neue Denkmäler für Schwarze oder People of Color, die eine andere Perspektive auf die Geschichte ermöglichen. Auch in Zukunft werden wir Menschen im Stadtbild würdigen, da ist sich der Historiker sicher. «Wie das geschieht, liegt in unseren Händen. Und eines Tages wird dann wieder kritisch verhandelt, was wir heute erschaffen.»
Weisse Europäer seien den «Wilden» überlegen – diese Vorstellung war in der Schweiz ab dem 18. Jahrhundert weit verbreitet. Unser Land besass zwar keine eigenen Kolonien, profitierte aber stark vom Kolonialismus. Mehrere Handelsfirmen waren in den Sklavenhandel verwickelt. Sie wurden damit enorm reich und verschleppten versklavte Menschen sogar hierher. Schweizer Söldner kämpften für Kolonialmächte.
In der sogenannten Rassenforschung waren Schweizer Universitäten vorn mit dabei. Sie veranstalteten noch in den 1930er- und 1940er-Jahren einschlägige Konferenzen – als diese in London oder Paris aufgrund der antikolonialen Bewegungen zunehmend einen schweren Stand bekamen. Bis in die 1960er-Jahre waren sogenannte Völkerschauen üblich – zooartige Zurschaustellungen von «exotischen» Menschen. Kritische Stimmen gegen entwürdigende Praktiken gab es immer.