Wie herrlich langweilig
Beobachter-Kolumnistin und Autorin Shqipe Sylejmani lebt zwischen zwei Welten – der albanischen und der schweizerischen. Diesmal erzählt sie von der wunderbaren Langeweile in einem Bergdorf im Kosovo.
Veröffentlicht am 3. Oktober 2023 - 17:14 Uhr
Wann war Ihnen letztmals langweilig? Kennen Sie das Gefühl überhaupt noch, einfach nichts zu tun zu haben? Es scheint einfacher denn je, ständig beschäftigt zu sein. Oder besser: abgelenkt. Allein das Handy fungiert heute als offenes Scheunentor in eine dauerverlockende Welt der Unterhaltung, des Wissens und der Zerstreuung.
Sowieso scheint mir Langeweile eines der grössten Tabus überhaupt zu sein in der Schweiz. Niemand – ich schon gar nicht –, möchte zugeben, nichts zu tun gehabt zu haben. Und das vielleicht Schweizerischste an mir – meine Leistungsmoral – wird mit jedem Tag neu angestachelt. Weil ich, wie so viele andere Frauen mit migrantischen Wurzeln, tief im Nacken diesen Druck verspüre. Ich soll meine Chancen nutzen, Brücken bauen, aufklären, Türen aufstossen, den Weg ebnen und den nächsten Generationen ein Vorbild sein. Das alles gern mit einem Lächeln. Und stets begleitet von der quälenden Frage, ob es jemals genug sein wird, um eine wirkliche gesellschaftliche Veränderung zu bewirken.
Wo die Uhren noch anders ticken
Erschöpft und etwas entmutigt wollte ich mir einst ein paar Tage auf dem Land gönnen. Meine Tante lebte damals in einem Bergdorf im Kosovo, und ich besuchte sie, wann immer ich in meiner alten Heimat war. Umringt von hohen Bergen, gackernden Hühnern und glucksenden Flüssen, tickten die Uhren etwas anders. Das Leben drehte sich um das Land, die Tiere und das Wetter.
Obwohl die Tage lang, anstrengend und fordernd waren, schien meine Familie hier mit sich und dem, was sie hatte, im Reinen zu sein. Sie verglichen ihren Hof nicht mit dem des Nachbarn und auch ihr Gemüse nicht mit jenem im Laden. «Wir ernten, was wir säen», sagte meine Tante, wenn ein Mahl mit den Früchten ihrer Arbeit auf uns wartete. Der lausige Handyempfang befreite mich vom Drang, auf Instagram zu stöbern oder Mails zu checken.
So lernte ich, den ganzen langen Tag nichts anderes zu tun, als auf die Schafe zu achten. Denen war es egal, welche Lebensziele ich hatte, solange ich sie nur zur nächsten Wiese führte. Ich musste daran denken, wie wir als Kinder durch diese Wälder gerannt waren, Spiele und Abenteuer erfanden. Wie neugierig wir auf das Leben gewesen waren – und voller Hoffnung.
Zurück im Alltag wartete bereits der Druck wieder auf mich. Doch ich erinnere mich gern daran, dass nur das Schafe-auf-die-Wiese-Führen genug Errungenschaft für einen Tag sein kann. Auf Albanisch sagt man: «Lieber erschöpft sein von der Arbeit als vom Nichtstun.» Ich widerspreche für einmal: Manchmal ist es genau das Richtige, vom Nichtstun erschöpft zu sein.