Das Geld fliesst nur zäh
Damit sie nicht vor Gericht ziehen, werden Asbestopfer durch einen Fonds entschädigt. Firmen müssten darin einzahlen – doch viele zieren sich.
Veröffentlicht am 11. April 2019 - 16:16 Uhr,
aktualisiert am 8. April 2019 - 17:39 Uhr
Noch bis zum 13. Dezember 2021 können Angehörige von Asbestopfern ein Gesuch um finanzielle Unterstützung bei der Stiftung Entschädigungsfonds für Asbestopfer stellen.
Kaum hatte die junge Annemarie* die Lehre begonnen, da hielt der Fortschritt Einzug in die Aargauer Gärtnerei. Die Saatschalen aus Holz wurden ersetzt durch solche aus Eternit. Modern war das, damals in den frühen sechziger Jahren. Denn der Faserzement brachte mit, was man sich von einem Werkstoff schon immer gewünscht hatte: Leicht war er und trotzdem fast unzerstörbar. Zu den Aufgaben der Lehrtochter gehörte es, die Schalen mit einer harten Bürste zu reinigen. «Das Anni war schon immer eine Genaue», sagt ihr Mann Walter Derungs*. «Sie hat geputzt, bis es gestaubt hat.»
Eternit leitet sich ab vom lateinischen Begriff Aeternitas – Ewigkeit. Das hat eine zynische Note: Annemarie Derungs trug die Asbestfasern, die freigesetzt werden können, wenn der Werkstoff bearbeitet wird, mehr als 50 Jahre im Körper, ehe sie im Sommer 2017 starb. Malignes Mesotheliom, «Asbestkrebs», der meist am Brust- oder Bauchfell auftritt, sehr aggressiv.
Wer Walter Derungs in der Nähe von Davos besucht, sieht zuerst eine Sammlung gerahmter Fotos. Eines zeigt Annemarie Derungs – verschmitzter Blick, Pagenfrisur – bei einem Familienfest. «Da wussten wir noch nichts.» Kurz nach Weihnachten kam der Befund, dass sie an der unheilbaren Krankheit litt. Atemnot auf einer Wanderung war das erste Anzeichen gewesen.
Walter Derungs, heute 73, hat die Erinnerungen an seine Frau in einem Büchlein festgehalten. Es ist die Dokumentation einer grossen Liebe. Darin steht auch, mit welchen Worten sein Anni auf die schlimme Diagnose reagiert hatte: «Mein lieber Schatz, das habe ich nicht gewollt, aber wir meistern das zusammen schon.» Nicht einmal ein halbes Jahr später lebte sie nicht mehr.
«Das Geld habe ich bekommen. Das bringt mir aber meine Anni nicht zurück.»
Walter Derungs*, Witwer eines Asbestopfers
Die Krankengeschichte von Annemarie Derungs ist typisch dafür, wie ein asbestbedingtes Mesotheliom verläuft. Nachdem die Betroffenen die Faser aufgenommen haben, meist über die Lunge, vergehen Jahrzehnte, bis die Krankheit ausbricht. Umso schneller kommt der Tod, im Schnitt nach einem Jahr. Der Werkstoff ist seit 1989 verboten, die Problematik aber bleibt aktuell – auch weil nach wie vor viel Asbest in älteren Häusern verbaut ist. Nach Schätzungen hat Asbest bisher 2000 Menschen in der Schweiz das Leben gekostet, jährlich gibt es rund 120 Neuerkrankungen.
Viele Dossiers mit diesen Geschichten landen bei Benjamin Schlesinger in Bern. Er ist Geschäftsleiter der Stiftung Entschädigungsfonds für Asbestopfer (EFA). Sie ist seit 2017 aktiv und wird mit Geldern von Firmen und Verbänden alimentiert. Die Stiftung bietet Asbestbetroffenen und deren Angehörigen psychosoziale Beratung und richtet finanzielle Leistungen aus. Unterstützt werden Personen, bei denen die Mesotheliom-Erkrankung nach 2006 ausgebrochen ist und der Kontakt mit dem Asbest in der Schweiz stattgefunden hat. Laut Schlesinger hat die Stiftung bis heute 38 Gesuche gutgeheissen und gesamthaft 5,3 Millionen Franken ausgezahlt – zwischen 20'000 und 300'000 Franken pro Fall. In aller Regel geht die Entschädigung an die Hinterbliebenen; nur zwei Direktbetroffene, die Geld aus dem Fonds erhalten haben, leben noch. Zurzeit werden weitere 19 Gesuche abgeklärt.
«Hadern bringt nichts. Wir können keine Sekunde im Leben rückgängig machen.»
Walter Derungs*
Diese Zahlen beziehen sich auf Fälle, die nicht als Berufskrankheit nach dem Unfallversicherungsgesetz (UVG) anerkannt wurden. Also auf einen geschätzten Fünftel aller Asbesttoten – etwa auf Hobbyhandwerker, die bei einem privaten Hausumbau mitgeholfen haben. Schlesinger weiss auch von einer erkrankten Frau, in deren Kinderzimmer die Berufskleider des Vaters aufgehängt wurden: Er war Arbeiter in einem Werk, in dem er mit Asbest zu tun hatte.
Opfer, die der tödlichen Faser bei der Arbeit ausgesetzt waren, wurden von ihrer Unfallversicherung entschädigt, alle anderen erhielten zuvor keinen Rappen. Diese Ungleichbehandlung will der Fonds entschärfen. Der späte Versuch einer Wiedergutmachung.
Ende 2018 weitete der EFA die Anspruchsberechtigung auf berufsbedingte Erkrankungen aus. Bisher wurden in diesem Segment 23 Hinterbliebene mit 1,4 Millionen Franken entschädigt. Zu denen, die Geld erhielten, weil der Versicherungsschutz im Beruf nicht gegriffen hatte, gehört auch Annemarie Derungs. Bei ihr stellte sich heraus, dass sie während ihres Erwerbslebens gar nie bei der Suva versichert war.
Obwohl ein Geldtopf lockt, stehen die Asbestopfer nicht Schlange. Die Stiftung EFA sucht aktiv nach weiteren Betroffenen. Walter Derungs wurde erst durch einen Hinweis der Suva auf den Fonds aufmerksam. Die Dokumente für das Unterstützungsgesuch hatte er schnell beisammen. Der freundliche Mann mit hoher Stirn und grauem Bart hat eine kaufmännische Ausbildung, er kann es gut mit Zahlen, bei ihm herrscht Ordnung – auch er ist ein Genauer.
In der niedrigen Holzstube lässt Derungs die schöne Zeit mit seinem Anni Revue passieren, mit der er sich in 43 Ehejahren nicht ein einziges Mal richtig gestritten hat. Die Daten wichtiger Ereignisse rattert er auswendig herunter. Am 20. Januar 2017 um neun Uhr sei der Anruf der Hausärztin gekommen, die über den bösen Befund informiert habe. Am 23. Juni morgens um Viertel nach drei die Todesnachricht aus dem Spital. «Ich weiss schon, warum Sie anrufen», habe er gesagt, noch bevor der Arzt am anderen Ende sich erklären musste.
Bevor die Krankheit mit voller Wucht in ihr Leben trat, hatte sich das Ehepaar nie gross mit dem Thema Asbest befasst – kein Gedanke daran, dass sie selber betroffen sein könnten. Als Gewissheit bestand, gab es kein Hadern, weder bei ihr noch bei ihm. «Das bringt nichts», sagt Walter Derungs, «wir können keine Sekunde im Leben rückgängig machen.» Er sei ein positiv denkender Mensch geblieben, der lieber nach vorn schaue. Trauerarbeit sei wichtig, das schon. «Sie fehlt mir immer und überall.» Wenn es ganz schlimm ist, verzieht er sich allein in die Berge.
Derungs hegt auch keinen Groll gegen die früheren Arbeitgeber seiner Frau, die sie dem Asbest ausgesetzt hatten. «Die haben damals doch nicht gewusst, wie problematisch das ist», sagt er. So gleichmütig sehen das nicht alle. Schon Ende der fünfziger Jahre wusste die Suva um die Gefährlichkeit des Stoffs. Doch viele Firmen ergriffen keine Schutzmassnahmen. Ab 2003 wurden erste Schadenersatzklagen eingereicht. Sie verpufften allerdings, dies wegen der langen Latenzzeit, bis die Krankheit ausbricht: Bei der Diagnose des Asbestkrebses war die damals gültige zehnjährige Verjährungsfrist längst vorbei. Sie beginnt bereits zu laufen, wenn die Betroffenen in Kontakt mit dem Asbest kommen.
In der Rechtsprechung wurde das lange Zeit in Kauf genommen. Die Wende brachte erst 2014 ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), das sich die Zürcher Schadenanwälte erstritten hatten. Strassburg rügte die Schweiz, sie verletze mit ihrer Verjährungspraxis das Recht auf ein faires Verfahren. Der Entscheid brachte einiges in Gang. Insbesondere lancierte der Bundesrat den Runden Tisch Asbest, an dem Wirtschaftsvertreter, Versicherer und Sozialpartner teilnahmen. Als Ergebnis seiner Arbeit entstand die Stiftung EFA mit ihrem Kernauftrag, Betroffene aussergerichtlich und auf freiwilliger Basis zu entschädigen. Das funktioniert nur, weil daran ein Deal gekoppelt ist: Wer aus dem Fonds Geld erhält, verzichtet auf eine Haftungsklage.
Solidarisch, pragmatisch, unbürokratisch: Das Konstrukt des Entschädigungsfonds ginge als Prototyp einer schweizerischen Kompromisslösung durch. Martin Hablützel, einer der Geschädigtenanwälte, die das EGMR-Urteil erstritten haben, fügt eine weitere typisch schweizerische Komponente hinzu: «Die Schweiz hat die Asbestproblematik lange unter den Teppich gekehrt. Es brauchte zuerst das EGMR-Urteil, damit etwas passiert.» Hablützel führt weiterhin Haftungsklagen gegen Verursacherfirmen. «Sie und die verarbeitende Industrie tragen die Verantwortung. Solange nicht gesichert ist, dass alle Opfer entschädigt werden, halten wir den Druck auf die Wirtschaft aufrecht.»
Ein Effekt davon könnte sein, dass weitere Firmen in den Entschädigungsfonds einzahlen. Das ist dringend nötig. Die von der Wirtschaft üppig in Aussicht gestellten Zahlungen fliessen nur zäh. Die Tätigkeit der Stiftung ist vorerst bis ins Jahr 2025 ausgelegt. Bis dann sollten laut EFA-Geschäftsleiter Benjamin Schlesinger die meisten Asbestfälle aus der Industrie erfasst sein. Für diesen Zeitraum wird mit einem Finanzbedarf von mehr als 100 Millionen Franken gerechnet – zurzeit sind erst 12 Millionen im Topf. Er erwarte, «dass der Wille in der Wirtschaft steigt», sagt Stiftungsratspräsident Urs Berger unverblümt (siehe Interview des Beobachters «Asbestopfer-Entschädigung: ‹Es braucht weitere Zugeständnisse›» ).
Woher die Zurückhaltung der Wirtschaft kommt, liegt auf der Hand. Ein Engagement «könnte als Schuldeingeständnis betrachtet werden», heisst es im Schlussbericht des runden Tischs. Klar ist auf der anderen Seite aber auch, dass eine Beteiligung am Fonds Firmen ermöglicht, günstig aus einer zeitlich wie finanziell aufwendigen Haftungsklage herauszukommen. Für die Asbestopfer bedeutet eine Vereinbarung mit der Stiftung, dass die finanzielle Genugtuung geringer ausfällt als bei einem Vollerfolg vor Gericht. «Dafür helfen wir schneller und unkomplizierter», so Schlesinger. Das ermögliche es Angehörigen, einen Schlussstrich unter ihre Geschichte zu ziehen.
Walter Derungs hätte kein Geld dafür gebraucht. Er hat auch so abschliessen können. «Sie kommt nicht mehr zurück», sagt er, eine Hand auf dem Büchlein zum Andenken an seine Frau. Nur ans Alleinsein hat er sich noch nicht gewöhnt. Es gibt Tage, da geht er dreimal auf den Friedhof, um mit seinem Anni zu reden.
* Name geändert
1 Kommentar
Dankbar, in der Schweiz leben, wohnen, arbeiten, wählen, abstimmen,... zu dürfen, habe ich eine positive Einstellung zur Schweiz. Dennoch graut es mir immer wieder, wie jahrzehntelang Gefahren auf die laaange Bank geschoben werden, damit ebenso lang Gelder auf die Bank fliesst, zugunsten der WirtschaftsführerInnen, PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, ein kleiner Teil davon an die Bevölkerung. Die nichts ahnenden, somit ausgebeuteten BürgerInnen kriegen die Brosamen und tragen die Kosten: Sondermülldeponie Kölliken (Aargauer SteuerzahlerInnen), Tabakindustrie, Mobilfunkindustrie,... Offensichtlich werden die Schutzbestimmungen in der Bundesverfassung und den Gesetzesartikeln anfänglich nur für das Kollektiv angewendet. Hat der Druck der Bevölkerung ein gewisses hohes Mass erreicht, oder ausländische Institutionen ermahnen, verurteilen die Schweiz, können die Betroffenen auf Hilfe, Unterstützung, im besten Fall auf Besserung hoffen.