Unerwünscht am Kap der Guten Hoffnung
Eine Frau wird aus der Schweiz ausgewiesen. Doch ihr Heimatland Südafrika verweigert dem zehnjährigen Sohn die Niederlassung. Weil er Schweizer ist.
Veröffentlicht am 7. Mai 2018 - 10:44 Uhr,
aktualisiert am 7. Mai 2018 - 10:23 Uhr
Stellen Sie sich vor, Sie reisen mit Ihrem zehnjährigen Sohn in Ihr Heimatland, um sich dauerhaft niederzulassen. Mit Widerstand rechnen Sie nicht, Sie sind ja Bürgerin des Landes. Doch der Beamte im Migrationsamt hält Ihnen ein Formular zur Unterschrift entgegen. «You are hereby declared an undesirable person in the Republic», steht da. «Sie sind in der Republik eine unerwünschte Person.»
Gemeint ist der Zehnjährige. Er hat nur einen Schweizer Pass, weil Sie und Ihr Schweizer Exmann sich nie um die doppelte Staatsbürgerschaft für das Kind bemüht haben.
Als Schweizer dürfe sich das Kind mit einem Touristenvisum drei Monate im Land aufhalten, sagt der Beamte. Die seien abgelaufen, es müsse ausreisen. Frühestens am 21. August 2022 könne es erneut um Niederlassung ersuchen.
Das Szenario ist absurd – für Mary Modise* und ihren Sohn Tsepo* wurde es Realität. Am 21. August 2017 hatten sie genau das im Büro eines südafrikanischen Immigrationsbeamten erlebt. Damit wollten die Behörden nicht etwa einen Kindesentzug verhindern. Tsepos Vater war trotz dem gemeinsamen Sorgerecht damit einverstanden, dass der Junge bei seiner Mutter lebt, egal, wo das sein würde. Die Einwanderungsbehörde gewichtete die Nationalität des Jungen schlicht höher als seine Familienzugehörigkeit.
Das Kind als Schweizer Bürger dürfte sich nur drei Monate im Land aufhalten, sagt der Beamte. Die seien abgelaufen.
Mary Modise war fassungslos. «Ich konnte Tsepo doch nicht allein zurückkehren lassen. Er ist ja noch ein Kind.» Mit ihrem Sohn zurückreisen und sich wieder in der Schweiz niederlassen konnte sie aber auch nicht. Sie hatte das Aufenthaltsrecht in der Schweiz verloren, weil ihre Ehe zu früh gescheitert und sie auf Sozialhilfe angewiesen war. Ein Wiedererwägungsgesuch für die Aufenthaltsgenehmigung wurde abgelehnt. Weil ihr das Geld für den Gerichtskostenvorschuss fehlte und ihr Anwalt es versäumt hatte, sie auf unentgeltliche Rechtspflege hinzuweisen, wurde die Ausweisung rechtskräftig.
Mary Modise entschied sich für ihr Kind – und damit für die Illegalität. Sie reiste mit Tsepo zurück in das Land, in dem sie die «unerwünschte Person» ist. «Natürlich wollte ich nicht illegal in der Schweiz leben, aber was sollte ich sonst tun. Mein Exmann konnte unmöglich für unseren Sohn sorgen. Er trinkt.» 
Die 48-Jährige sitzt auf der Kante ihres Bettes im Passantenheim der Heilsarmee einer Schweizer Stadt. Das Zimmer misst zweieinhalb mal vier Meter und ist seit fünf Monaten das Zuhause der Rumpffamilie. Die wenigen Kleider und Schuhe, ein Paar Bücher – alles ist penibel ordentlich verräumt. Nur ein Ball unter der Ablage beim Fenster lässt ahnen, dass hier auch ein Kind wohnt.
Tsepo sitzt auf einem der zwei Stühle und liest in einem Buch. Viel mehr lässt sich in der Enge des Raums nicht anstellen. Spielen kann er am Wochenende bei einem Freund.
Sie sei dankbar, hier sein zu dürfen. Es sei sauber, die Betreuung sehr nett, sagt Modise. Es gehe eigentlich ganz gut. Nur abends, wenn Tsepo ins Bett müsse, verziehe sie sich in den Aufenthaltsraum. «Sonst schläft er nicht ein, und er muss doch morgens früh auf für die Schule.»
Mary lernte ihren zukünftigen Mann, den 14 Jahre älteren Fredy Keller*, während seiner Ferien in Südafrika kennen. 2005 heirateten sie in der Schweiz. Nach zwei Jahren kam Tsepo zur Welt.
Die kleine Familie hatte es von Anfang an nicht einfach. Fredy Keller war langzeitarbeitslos. Er hatte Maler gelernt, wurde aber krank und musste einen Teil seiner Lunge entfernen lassen. Er vertrug die Farbdämpfe nicht mehr und wurde zum Koch umgeschult. Die Arbeit brachte ihn vor allem näher zum Alkohol . Die Familie lebte von der Sozialhilfe. «Natürlich suchte ich Arbeit», sagt Mary Modise. «Jemand musste doch die Familie ernähren.»
In ihrer Heimat habe sie verschiedene Studiengänge am College angefangen, aber keinen abgeschlossen. «Zuletzt arbeitete ich im Finanzsektor. Ich dachte, dass es in dieser Branche vor allem um Zahlen geht. Und die Bürosprache ist oft Englisch. Also suchte ich eine entsprechende Stelle.» Sie bemühte sich, bewarb sich wieder und wieder. Doch überall wurde ihr beschieden, dass ihre Sprachkenntnisse zu schlecht seien. Man legte ihr eine Umschulung zur Krankenpflegerin nahe. Aber jeden Abend habe sie das Leid der Kranken mit nach Hause genommen, habe auch öfters geweint, wenn ein Patient offensichtlich litt. «Ich bin nicht geschaffen für diese Arbeit. Ich habe ein viel zu weiches Herz.»
Mary Modise bemühte sich um eine Sprachschule. Aber das Arbeitsamt wollte die Kosten nicht übernehmen. Der Kurs sei viel zu schwierig für sie, habe man ihr beschieden. «Aber ich wollte unbedingt fit werden für den Arbeitsmarkt. ‹Zu schwierig› gab es nicht für mich. Es bedeutete nur, dass ich mehr lernen musste als die anderen. Und das wollte ich.»
Jeden Monat legte Mary Modise, die ganz passabel Deutsch spricht, 800 Franken vom kärglichen Sozialhilfegeld zur Seite, um den Kurs zu bezahlen. Doch einen Abschluss hat sie nicht. «Ich habe alle Kurse gemacht, aber für die Prüfungsgebühren fehlte mir das Geld.»
«Tsepos Vater ist eine gute Seele», sagt Mary Modise. Aber es sei schwierig gewesen. «Er trank. Er schlug zwar nicht zu, konnte aber schrecklich verletzend sein, gemein und bösartig.» Eines Nachts sei er volltrunken heimgekommen. Aus Angst vor einer Auseinandersetzung stellte sie sich schlafend. «Er brauchte eine halbe Stunde, bis es ihm gelang, die Wohnungstür aufzumachen. Dann fiel er der Länge nach hin und lag bewusstlos im Flur. Ich hatte solche Angst, dass er sterben würde.» Das sollte das letzte Mal sein, sagte sie sich am nächsten Morgen. Sie packte ein paar Sachen zusammen, nahm Tsepo bei der Hand und sagte ihrem Mann, dass sie ihn verlasse. Das war 2011.
Am 4. April 2013, eineinhalb Jahre nach der Trennung, wies das Migrationsamt ihr Gesuch um Aufenthaltsverlängerung ab. Sie habe 313'668 Franken Schulden beim Sozialamt. Tatsächlich hat nicht nur Mary Modise die Kosten verursacht, sondern die ganze Familie, also auch der Schweizer Ehemann und das Kind mit Schweizer Pass. Trotzdem musste sie gehen.
Kurz darauf kehrte sie mit grossen Hoffnungen wieder in die Schweiz zurück. Sie hatte nach ihrer Scheidung einen Schweizer kennengelernt. Er versprach ihr, sie zu heiraten, damit sie und ihr Sohn bleiben könnten. «Ich zog mit Tsepo in die Schweiz. Doch der Mann spielte mit mir, verschob den Hochzeitstermin immer wieder, bestellte mich in Gebäude, in denen angeblich das Standesamt sei, erfand die fantastischsten Geschichten und Ausreden. Alles gelogen.»
Dann passierte, wovor sich jeder Illegale fürchtet: Mary Modise wurde auf offener Strasse von der Polizei kontrolliert – und ins Gefängnis gesteckt. Tsepo brachte man zum Vater. «Es waren nur drei Tage, aber sie waren schrecklich lang. Ich machte mir entsetzliche Sorgen.» Seit mittlerweile fünf Jahren lebt die 48-Jährige mit der Angst, wieder in eine Kontrolle zu geraten.
Erneut musste Modise nach Südafrika ausreisen. Und kam wie ein Bumerang zurück. «Mein Exfreund versprach mir hoch und heilig, dass es diesmal mit der Heirat klappen würde. In meiner Verzweiflung glaubte ich ihm.» Doch der Mann spielte erneut sein Spiel. «Es war dumm, ihm zu glauben, aber er war unsere einzige Hoffnung.»
Als sie realisierte, dass es wieder nichts werden würde mit dem Heiraten, verliess sie ihn. «Wir standen auf der Strasse. Ich wusste nicht mehr weiter.» Sie wandte sich an das örtliche Frauenhaus. Doch dort wurde sie weggewiesen. Man könne nichts für sie tun, sie sei kein Opfer von häuslicher Gewalt.
Die reformierte Kirchgemeinde beschaffte Mutter und Kind eine Unterkunft bei der Heilsarmee, half mit den Ämtern, schaute, dass Tsepo wieder zur Schule gehen konnte. Und unterstützte sie mit dem Gesuch an die Stiftung SOS Beobachter, die ihr eine Anwältin vermittelte. Denn Mary Modise hält sich immer noch illegal in der Schweiz auf. Ein neues Wiedererwägungsgesuch ist hängig.
«Wir kennen viele Fälle, wo Kinder Vater oder Mutter verlieren, weil ein Elternteil ausgewiesen wird. Das ist unmenschlich.» – Stephanie Selig, Anwältin
«Wir kennen viele Fälle, in denen Kinder Vater oder Mutter verlieren, weil ein Elternteil oder sogar ein Elternteil zusammen mit dem Kind ausgewiesen wird. Das ist unmenschlich und missachtet das sonst so hochgepriesene Kindeswohl», sagt Modises Anwältin Stephanie Selig. Zumal solche Familien meist auch nicht über das nötige Geld verfügen, den Kontakt zwischen Kind und ausgeschafftem Elternteil auch mit Besuchen aufrechtzuerhalten. «Die Migrationsbehörden sollten in solchen Fällen zumindest abklären, ob das Zielland das Kind überhaupt einreisen lässt. Das sollte in den Ausweisungsentscheid mit einfliessen.»
Obwohl Tsepos Vater alkoholkrank ist, sieht der Junge ihn regelmässig. Es sei ihr wichtig, dass ihr Sohn Kontakt zu beiden Elternteilen habe, sagt Mary Modise. Dank dem neuen Gesuch kann sie sich bei einer Polizeikontrolle auf das laufende Verfahren berufen und wird – höchstwahrscheinlich – nicht gleich wieder ausgeschafft. In der Zwischenzeit bemüht sie sich wenigstens um Freiwilligenarbeit. «Ich halte die Untätigkeit fast nicht mehr aus. Ich muss etwas Sinnvolles tun.»
*Namen geändert