Meist vergewaltigte er sie und ihre Kindergartenfreundin im Keller einer alten Fabrik am Rand des Dorfs in der Ostschweiz. Ihr Becken ist seither schief, der Mann war dick und schwer. «Ich ekle mich oft vor mir selber», sagt Patricia Hermann*. Die zierliche 29- Jährige wünscht sich nichts sehnlicher, als ganz normal zu sein. «Zack, alles ist weg, ich bin wieder ich.» Doch das geht nicht.

Hermann wurde als Kind jahrelang massiv missbraucht: vergewaltigt, misshandelt, gedemütigt. Vom Vater der Freundin – oder von seinen Kollegen, die ihm dafür Geld zahlten.

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2006, Hermann ist Anfang 20, zeigt sie ihn an und fordert Schadenersatz, später auch Genugtuung. Es folgt ein quälend langes Verfahren durch alle Instanzen, bis das Bundesgericht im Februar 2012 das Urteil bestätigt: Der Täter, laut Hermanns Psychiaterin ein «psychopathischer Sadist», erhält eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren wegen Vergewaltigung, mehrfacher qualifizierter Vergewaltigung, Inzest, mehrfacher sexueller Nötigung und sexueller Handlungen mit Kindern. Das Gericht setzt die Genugtuung bei 70'000 Franken an, dem höchstmöglichen Betrag.

Im Sommer 2012 dann «die Bombe»: Der Kinderschänder taucht vor Haftantritt unter, und Hermanns Genugtuungsbegehren wird vom kantonalen Justizdepartement abgewiesen. «Jahrelang gekämpft wie eine Löwin, für nichts und wieder nichts», sagt sie. Das sei ein Gefühl, wie aus dem Flugzeug zu fallen, eine einzige riesige Ohnmacht. «Ich bin doch das Opfer – trotzdem hilft mir niemand.»

Diese Aussage könnte Beobachter-Artikeln aus den siebziger Jahren entnommen sein. Damals kritisierte die Redaktion anhand von aufwühlenden Fallgeschichten das Fehlen jeglichen Opferschutzes in der Schweiz. Daraus entwickelte sich eine politische Kampagne, die letztlich zur Schaffung des Opferhilfegesetzes führte (siehe «Einfach keine Ruhe gegeben»).

Als kleines Mädchen war Hermann quirlig, fröhlich und sehr offen. Ein blondgelocktes, hübsches Kind. Sie liebte Disney-Prinzessinnen und malte gern. Mit fünf war die Unbefangenheit weg: Der Missbrauch begann und hörte erst sechs Jahre später auf. Ein Alptraum.

Sie lernte, in zwei Welten zu leben. Da waren zum einen die Vergewaltigungen und Misshandlungen in der baufälligen Fabrik. Patricias Überlebensstrategie: die Übergriffe möglichst schnell über sich ergehen zu lassen, ohne gross Widerstand zu leisten. Und anderseits praktisch in Sichtweite das warme Nest des gelben Einfamilienhauses, in dem sie mit ihrer Familie wohnte. Die beiden älteren Schwestern, die sie liebte, Mutter und Vater, die sie respektierte und die nicht sehen wollten, was nicht sein durfte im Dorf.

Das Kind war so manipuliert, dass es zu keiner Vermischung der beiden Wirklichkeiten kam. Durch die schicksalhafte Verbindung zu ihrer Freundin, durch die Drohungen des Täters. Immer wieder sagte er, er werde ihre Schwestern umbringen, sollte sie etwas von den Übergriffen erzählen. Oder er drohte damit, Patricia mit Benzin zu übergiessen, anzuzünden und zu verscharren. «Einmal liess er uns hinter der Fabrik unser eigenes Grab mit Kinderschaufeln ausheben – wir waren in seinen Augen nichts anderes als Dreck, Abschaum. Ein Stück Vieh.» Patricia war als Kind stets mit frischer Unterhose, Spiegel und Wattebausch unterwegs. Um sich zu reinigen und nachzuschauen, ob sie nicht verweint aussah, wenn sie in die andere Welt wechselte. Und damit niemand etwas merkte. «Stundenlang verkroch ich mich in unserer Hundehütte, einem Ort, an dem mir niemand etwas antun konnte.»

Die Folgen bis heute: Paranoia, Flashbacks, Angstzustände, Unterleibsschmerzen, Panikattacken, Alpträume, unkontrollierte Blutungen, Suizidgedanken. Mit zwölf Jahren versuchte sie das erste Mal, sich zu erwürgen.

Und dann das Schreiben vom Amt im Sommer 2012. In wenigen Zeilen wird ihr mitgeteilt, sie bekomme die Genugtuungssumme von 70'000 Franken nicht. Da mag Patricia Hermann nicht mehr schweigen. Sie wendet sich an den Beobachter, später findet ihre Geschichte auch den Weg in den «Tages-Anzeiger» und andere Medien. «Was bleibt, ist pure Verbitterung», schreibt sie in der ersten Mail. «Sechseinhalb Jahre vor Gericht gekämpft, ausgesagt, in Angst gelebt, weil er uns immer wieder terrorisierte. Sechseinhalb Jahre Erniedrigung, Befragungen, gerichtsmedizinische Untersuchungen. Für nichts – ein Schlag ins Gesicht.»

Dass sie kein Geld erhalten wird, ist für Hermann doppelt bitter. Sie hatte das Stichdatum verpasst. Wenn es um Entschädigungen (zum Ausgleich des Erwerbsausfalls) oder Genugtuungen (zur Linderung des persönlichen Leids) geht, gelten Fristen, die ab der letzten Straftat zu laufen beginnen. Seit der 2009 erfolgten Revision des Opferhilfegesetzes müssen Gesuche fünf Jahre nach der Tat eingereicht werden; minderjährige Opfer von Sexualdelikten, die sich ab dem Jahr 2007 ereigneten, haben bis zum 25. Lebensjahr Zeit. Weil der Missbrauch von Patricia Hermann länger zurückliegt, galt für sie die alte Verwirkungsfrist von zwei Jahren – ohne Sonderregelung für Kinder. Weshalb sie die ganze Zeit nie jemand auf die Aussichtslosigkeit ihrer Gesuche hingewiesen hat, vor allem nicht die Opferberatungsstelle, bleibt für Hermann ein Rätsel.

Mit anderen Fristen als denjenigen im Gesetz müssen Gewaltopfer im realen Leben zurechtkommen. Für sie heisst es oft: lebenslänglich. «Hat ein Opfer Angst oder keine Informationen über den Täter, bringt es ihn nicht aus dem Kopf», sagt der Gerichtspsychiater Frank Urbaniok (siehe Interview). Gerade wegen dieser starken Verbindung auf der persönlichen Ebene fordert er, die Interessen der Opfer bei der Bewältigung von Straftaten stärker zu gewichten.

Urbaniok kritisiert, dass im traditionellen Rechtssystem eine Straftat allein Sache ist zwischen dem Staat, der bestraft, und dem Täter, der die Strafe verbüsst. «Das Opfer dient aus der reinen Schuldperspektive nur als Beweismittel, um den Sachverhalt festzustellen, ansonsten spielt es keine Rolle.» Sein Gegenmittel ist das «Präventionsprinzip», wie er es nennt. Dieses geht nicht nur von der Schuld des Täters in der Vergangenheit aus, sondern von der Frage, wie gross das Risiko ist, dass er wieder gewalttätig wird. «In dieser Denkweise sitzt zwingend eine dritte Partei am Tisch: das tatsächliche und das potentielle Opfer.»

In einem Brief an das Justiz- und Polizeidepartement ihres Wohnkantons legt Patricia Hermann im März 2012 ihre Gefühlslage dar: «Nach vielen Jahren hat dieser Prozess endlich ein Ende gefunden. Eine Zeitlang habe ich nicht mehr daran geglaubt. Immer wieder Verzögerungen, immer wieder Beschwerdeeinreichungen des Täters. Nicht um den Prozess für sich zu entscheiden, sondern um Zeit zu schinden. Immer wieder daran erinnert zu werden. Permanent. Von seinem Anwalt auseinandergenommen zu werden, als wäre man selbst Täter statt Opfer. Immer wieder mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Am schlimmsten aber: immer in Angst zu leben. Irgendwo kann er auftauchen. Lauern. Er könnte überall sein. Wissen Sie, ich wäre die letzten Jahre am liebsten durchsichtig gewesen.»

2008 ist sie ein Jahr krankgeschrieben, weil ihr der Prozess so zusetzt. Schwere posttraumatische Belastungsstörung. Die Konfrontation mit dem Täter vor Gericht: Sie konnte nur schon seinen Geruch nicht ertragen, musste sich mehrmals übergeben. «Grauenhaft.»

Der Schutz von Gewaltopfern im Strafverfahren gehört zum Pflichtenheft der Opferbetreuung. Gut möglich, dass Patricia Hermann an einem anderen Ort besser gefahren wäre. Denn wie wirksam die Opferhilfe vollzogen wird, variiert stark.

Umgesetzt wird sie durch die Kantone. Dass diese ihr Angebot nach Gutdünken ausgestalten, kann zu problematischen Ungleichbehandlungen führen: Namentlich in den Beratungsstellen der kleineren Kantone ist das Personal knapp, das fachliche Wissen entsprechend begrenzt. Wohl bemüht sich ein Gremium mit dem sperrigen Namen Schweizerische Verbindungsstellen-Konferenz OHG darum, die Anwendung des Bundesgesetzes zu koordinieren – doch allein seine Existenz ist ein Eingeständnis des Bedarfs, zumindest das Grundangebot der Leistungen der Opferhilfestellen zu vereinheitlichen.

Wohin es führen kann, wenn die Instrumente variieren, zeigt sich etwa im Fall von Stefanie Hess*: Sie muss auf 30'000 Franken Genugtuung verzichten. Als Kind wurde die heute 21-Jährige von einem Bekannten ihrer Mutter mehrfach sexuell genötigt; ihr Peiniger erhielt später eine Haftstrafe. Die Taten ereigneten sich im Kanton Zürich, wo Hess 2010 um Genugtuung ersuchte. Obwohl sie die allgemeinen Verwirkungsfristen verpasst hatte, profitierte die junge Frau von einer Zürcher Sonderregelung, wonach bei minderjährigen Opfern die Frist erst ab Erreichen der Volljährigkeit beginnt – dachte sie jedenfalls.

Zum Verhängnis wurde Stefanie Hess, dass sie unterdessen in den Kanton Schaffhausen gezogen war. Daher verlor sie ihren Anspruch auf die Zürcher Spezialpraxis und damit auf das Geld, das für sie eine symbolische Bestätigung gewesen wäre, keine Schuld an dem zu tragen, was geschehen war. Fazit: ein schweres Delikt, eine gerichtlich zugesicherte Genugtuung, aber 30 Kilometer Distanz zwischen zwei Wohnorten – juristisch korrekt, aber mit normalem Gerechtigkeitsempfinden nicht vereinbar.

Während Monaten bleibt Patricia Hermann im Ungewissen, wo sich der verurteilte Kinderschänder aufhält – im Gefängnis jedenfalls nicht. Die Bedrohung ist allgegenwärtig. Erst als die Medien Druck machen, wird bekannt, dass er sich in Thailand aufhält. Über seinen Anwalt lässt er ausrichten, er sei aus gesundheitlichen Gründen nicht transport- und haftfähig. Das Opfer direkt zu informieren, hält die ganze Zeit über niemand für nötig. «Alles muss ich mir selber zusammensuchen, telefonieren, nachfragen.» Hermann hat die Polizei im Vorfeld mehrfach gewarnt, dass der Täter abhauen könnte. Niemand glaubte ihr. «Das macht mich fertig: Alle haben mich verarscht, und jetzt tut es allen leid.»

Nachdem der Täter abgetaucht ist, bietet ihr die Polizei Personenschutz an – ein spätes Eingeständnis, findet sie. Hermann lehnt ab, sie will sich nicht weiter einschränken lassen. Sie hat seit Jahren einen Waffenschein, aber das kann nicht die Lösung sein. «Soll ich immer mit einer Pistole herumlaufen? Das ist doch krank.»

Was fehlende Informationen über den Täter anrichten können, erlebten auch der Berner Walter Schneider* und seine Verwandten. Sieben Jahre lang fühlten sie sich auf der sicheren Seite. Sie wussten: Der Mann, der in der Waadt ein Familienmitglied ermordet und die Angehörigen beim Prozess mit dem Tod bedroht hatte, sass im Gefängnis. Doch im Herbst machte das Gerücht die Runde, der Täter habe Hafterleichterungen erhalten, sei teilweise auf freiem Fuss. Bloss Hörensagen, unkonkret – und doch bohrten sich bange Fragen in Schneiders Kopf: «Ist der Mörder wirklich draussen? Begleitet ihn jemand? Wurde er therapiert?» Und: «Kann er uns finden?»

Antworten darauf gab es für Schneider nicht, wohin er sich auch wandte. Nicht im Gefängnis, nicht bei der Polizei, nicht bei der Waadtländer Staatsanwaltschaft, nicht beim Amt für Strafvollzug. Was ihn besonders ärgerte: «Alle haben gesagt, sie hätten Verständnis für uns, aber sie dürften wegen des Amtsgeheimnisses keine Auskunft geben.» Irgendjemand tat es dann trotzdem, inoffiziell. Die Vermutung bestätigte sich: Der Täter hat zwei Tage pro Monat Hafturlaub. Dieses diffuse Wissen macht die Situation aber nicht unbedingt besser. «Am liebsten hätte ich überhaupt nichts erfahren», sagt Walter Schneider.

Mit diesem Vabanquespiel soll es bald vorbei sein. Zurzeit läuft die Vernehmlassung einer parlamentarischen Initiative, die eine markante Verbesserung der Informationsrechte von Gewaltopfern und ihren Angehörigen anstrebt. Der von SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer lancierte Vorstoss will die besonderen Auskunftsrechte, die für Opfer während des Strafverfahrens gelten, zeitlich ausdehnen, weil «die Bedrohung in vielen Fällen auch während und nach dem Strafvollzug anhält». Heute kennen erst sechs Kantone derartige Informationsrechte, nun soll eine Änderung der Strafprozessordnung diesen wesentlichen Aspekt des Opferschutzes schweizweit ermöglichen.

Zu den Informationen, die eine ungewollte Begegnung eines Opfers mit dem früheren Peiniger verhindern sollen, gehören Angaben über eine Flucht, eine bevorstehende Entlassung, einen Hafturlaub oder über besondere Vollzugsformen, etwa in einer offenen Anstalt. Derlei Auskünfte werden nur unter strenger Vertraulichkeit erteilt. Auch einen Automatismus soll es nicht geben: Die Opfer müssen bei den Behörden aktiv darum ersuchen. Damit soll, so Initiantin Leutenegger Oberholzer, auch jenen Rechnung getragen werden, «die einfach nur vergessen wollen».

Patricia Hermann wird nicht vergessen können. Trotz regelmässiger Therapie fühlt sie sich bis heute in der Opferrolle. Jahrelang musste sie den Missbrauch ertragen, war allein mit ihren Gefühlen, Ängsten. Traute sich nicht, sich der Familie anzuvertrauen – zu gross war die Scham, auch als die Übergriffe längst aufgehört hatten. Jahrelang die unerträgliche Vorstellung, der Täter bringe sie alle um. «Er hatte mich total im Griff, psychisch und physisch. Ich war wie abgerichtet.»

Als sie 13 Jahre zählt, zieht der Täter weg – ihr Alptraum hört fürs Erste auf. Als Jugendliche rebelliert Hermann, tickt aus, wird «zur Rampensau». Die Wut, die jahrelange Ohnmacht mussten raus. Etwas Ruhe und Stabilität verschafft ihr ihr langjähriger Freund und heutiger Partner, der fest zu ihr steht. Er rät ihr zur Therapie und später dazu, Anzeige zu erstatten. Er merkt, dass sie sonst nicht abschliessen kann.

Ihre Eltern und Schwestern haben die schreckliche Wahrheit erst durch den Prozess erfahren. Sie hätten zwar bemerkt, dass sie als Kind «komisch» geworden sei, seien aber nicht auf die Idee gekommen, weshalb. Und sie fragten nie nach. «So was durfte einfach nicht sein in ihrem Weltbild», sagt Patricia Hermann. Sie stammt aus einer katholischen Gegend. Der Vater war darauf erpicht, dass Frau und Kinder ein gutes Bild abgaben. Missbrauch, Vergewaltigungen? Ausgeschlossen.

Um dieses Tabu aufzubrechen, braucht es Menschen wie Nicole Dill – Leute, die hinstehen und sagen, was es bedeutet, ein Opfer zu sein. Vor allem: dass es nichts mit Schwäche zu tun hat. Die Luzernerin wurde 2007 von ihrem damaligen Partner während Stunden aufs schwerste misshandelt, nachdem es Polizisten und Ärzte unterlassen hatten, sie vor der Gefährlichkeit des Mannes zu warnen. Der Täter war ein verurteilter Mörder, von dem eine erhebliche Rückfallgefahr ausging. Doch den Mitwissern waren Datenschutz und Amtsgeheimnis wichtiger als ein bedrohtes Leben.

«Alleingelassen, schutzlos, von niemandem verstanden», so kam sich die heute 43-Jährige nach der Gewalttat vor, die sich als neue Prägung in ihr weiteres Leben einstanzte. Diese Erfahrung bewog sie jedoch nicht zum inneren Rückzug, sondern zur Offensive. Erleichtert wurde ihr das dadurch, dass sich der Täter in der U-Haft das Leben genommen hatte. Dill schrieb über ihren Fall ein Buch, sprach im Radio, trat im Fernsehen auf und wurde 2011 für den Prix Courage des Beobachters nominiert.

Das Echo sei enorm, sagt sie. Negative Reaktionen gebe es kaum. «Die Leute behandeln das Thema mit Respekt, aber man merkt, dass sie unsicher sind, wie sie mit uns Opfern umgehen sollen.» Die meisten Rückmeldungen kommen von anderen Betroffenen, dankbar dafür, eine Adressatin für ihre Nöte zu finden. Mit dem «Sprungtuch» hat Nicole Dill ein Gesprächsangebot geschaffen, um anderen Gewaltopfern auf Augenhöhe bei der Bewältigung ihres Traumas zu helfen. Die Einrichtung soll eine Lücke zu den Opferberatungsstellen füllen, auf denen sich Dill selber «mehr administriert als aufgefangen» vorkam.

Können Bücher und Medienauftritte die öffentliche Wahrnehmung verändern, gar Verhaltensänderungen herbeiführen? «Opfer geraten schnell in Vergessenheit», weiss Nicole Dill aus Erfahrung. Sie ist entschlossen, es nicht dazu kommen zu lassen: Aktuell laufen Verhandlungen, ob ihre Geschichte fürs Kino verfilmt wird.

Fakten zur Opferhilfe

  • Organisation: Jeder Kanton führt mindestens eine öffentliche oder private Opferhilfe-Beratungsstelle. Opfer können frei wählen, wo sie Rat holen wollen.

  • Opferbegriff: Als Opfer gelten Personen, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität beeinträchtigt sind. Beispiele dafür sind Gewalttaten (Tötung, Raub), Sexualdelikte (Vergewaltigung, Nötigung) oder häusliche Gewalt (Körperverletzung, Drohung).

  • Anspruch: Neben den eigentlichen Opfern können auch Angehörige oder sonstige nahestehende Personen Opferhilfeleistungen beanspruchen – unabhängig davon, ob der Täter ermittelt wurde.

  • Beratungsleistungen: Die Opferhilfestellen leisten (oder vermitteln) medizinische, psychologische, soziale, finanzielle und rechtliche Unterstützung. Die Soforthilfe ist kostenlos. Zum Leistungsauftrag gehört auch die Sicherstellung der Schutz- und Beteiligungsrechte der Opfer im Strafverfahren.

  • Finanzielle Leistungen: Von Straftaten Betroffene können eine Entschädigung und/oder Genugtuung beanspruchen. Bei den Entschädigungen gelten Einkommensgrenzen, der Höchstbetrag liegt bei 120'000 Franken. An Genugtuung gibt es maximal 70'000 Franken, je nach Schwere des Falls. Diese Leistungen sind subsidiär: Der Staat zahlt nur dann, wenn weder der Täter noch Versicherungen hinzugezogen werden können. Zudem gelten Fristen: Gesuche um Entschädigungs- und Genugtuungszahlungen müssen innert fünf Jahren seit der letzten Straftat eingereicht werden. Wer als Minderjähriger Opfer eines schweren Delikts (etwa sexueller Missbrauch) geworden ist, kann bis zum 25. Geburtstag ein Gesuch stellen.

  • Informationen und Adressen: www.opferhilfe-schweiz.ch

Zahlen zur Opferhilfe

31'244
Anzahl der Beratungen von Personen, die im Jahr 2011 an eine Schweizer Opferhilfe-Beratungsstelle gelangt sind.

73,9 Prozent
Anteil der Beratungsfälle mit weiblichen Opfern.

3596
So viele Beratungen betrafen die sexuelle Integrität von Kindern als Straftatbestand.

5,68 Mio. CHF
Gesamte Summe der Genugtuungen, die 2011 gezahlt wurden.

51,8 Prozent
Anteil der Opferhilfeberatungen, bei denen der Täter aus dem familiären Umfeld kam.

13'745
Bei so vielen Beratungen war Körperverletzung mit im Spiel (ohne Verkehrsunfälle).

2,43 Mio. CHF
Gesamte Summe der Entschädigungszahlungen, die 2011 ausgerichtet wurden.

24'145
Bei so vielen Beratungsfällen kannten sich Täter und Opfer.

3,3 Prozent
Anteil der Beratungen, die durch ein Tötungsdelikt oder einen Tötungsversuch ausgelöst wurden.

2734
Bei so vielen Beratungen war das Opfer unter zehn Jahre alt.

Opferhilfegesetz: Einfach keine Ruhe geben

Das vor 20 Jahren eingeführte Opferhilfegesetz geht auf eine Initiative des Beobachters zurück – ein Lehrstück von anwaltschaftlichem Journalismus.

Anfang 1978
kommt eine Frau auf die Redaktion des Beobachters und erzählt die tragische Geschichte von der Ermordung ihrer Tochter – und davon, wie sie als Angehörige des Opfers mit ihrem Begehren um finanzielle Hilfe bei den Behörden auf Ablehnung stösst. Der verantwortliche Redaktor Peter Rippmann beginnt zu recherchieren.

30. September 1978
: Im Beobachter erscheint ein Leitartikel, der Fälle aufzeigt und kritisiert, dass der Staat Millionen für einen humanen Strafvollzug ausgibt, die Opfer hingegen in ihrer Not alleinlässt. «Zur Beseitigung derart unwürdiger Zustände bedarf es spezieller gesetzlicher Grundlagen», heisst es in einem flammenden Appell. In dieser Ausgabe wird auch ein Talon abgedruckt, mit dem die Leser ihre Unterstützung für das Anliegen ausdrücken können. Damit wird der Opferschutz in der Schweiz erstmals breit diskutiert.

In späteren Ausgaben liegen dem Heft Unterschriftenbögen für die eidgenössische Volksinitiative «zur Entschädigung der Opfer von Gewaltverbrechen» bei. Um die Forderung zu befeuern, erscheinen immer wieder Texte, in denen sich der Beobachter radikal auf die Seite der Opfer stellt. Im Spätsommer 1980 kommt die Initiative mit 173'000 Unterschriften offiziell zustande.

Auch nach diesem Grosserfolg gibt die Redaktion keine Ruhe, sondern ruft «zum Kampf gegen die Schubladisierung» auf. Die Übergabe der Unterschriften im Bundeshaus vom Oktober 1980 wird zum öffentlichen Ereignis, und Peter Rippmann kann sich gar einen Sitz in der vorberatenden Kommission verschaffen.

Die hartnäckige publizistische Lobbyarbeit trägt Früchte: Der damalige Justizminister Rudolf Friedrich würdigt im Parlament «das positive Grundanliegen» der Initiative. Tatsächlich legt der Bundesrat später einen direkten Gegenvorschlag vor, der über die Forderungen des Volksbegehrens hinausgeht und auch die Beratung von Opfern enthält. Daraufhin zieht der Beobachter Mitte 1984 seine Initiative zurück.

2. Dezember 1984: Der Bundesbeschluss kommt an die Urne. Der Opferhilfeartikel wird mit einem überwältigenden Mehr von 1,2 Millionen Ja-Stimmen (82,1 Prozent) gegenüber 270'000 Nein-Stimmen angenommen.

Der Beobachter behält eine aktive Rolle: Redaktor Peter Rippmann wirkt in der Expertenkommission zur Ausarbeitung des Gesetzes mit. Die juristische Knochenarbeit verschlingt Zeit – erst im Herbst 1991 nimmt das Gesetz die parlamentarischen Hürden.

1. Januar 1993: Das «Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten» tritt in Kraft.