Das höchste Schweizer Gericht hat es den Polizei- und Sicherheitsdirektoren ausdrücklich ins Pflichtenheft diktiert: Ein generelles Demonstrationsverbot ist in der Regel verfassungswidrig. Die Behörden müssen Kundgebungen im Einzelfall prüfen und bewilligen, wenn sich Sicherheitsrisiken dank Auflagen in den Griff bekommen lassen. Auch wenn das für die Polizei mehr Arbeit bedeutet.

Das höchste Schweizer Gericht rügte deshalb im September 2021 den Kanton Bern, weil er alle Demonstrationen von mehr als 15 Personen im Winter 2020/21 wegen Corona verboten hatte. Gleich hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Corona-Demo-Fall aus dem Kanton Genf im März 2022 entschieden.

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Und was machte die Sicherheitsdirektorin des Kantons Basel-Stadt, Stephanie Eymann (LDP), etwas mehr als zwei respektive eineinhalb Jahre später? Sie verhängte am Wochenende vom 21./22. Oktober 2023 trotzdem ein generelles Demonstrationsverbot: «Der Nahostkonflikt ist sehr dynamisch, und die Weltlage ist angespannt. Wir sind zum Schluss gekommen, dass die Sicherheitslage zu gefährlich ist, um jetzt zu demonstrieren», sagte sie gegenüber SRF. Eine differenzierte Prüfung im Einzelfall, wie das Bundesgericht sie fordert, sieht anders aus. Und zur Bedrohungslage ist rein nichts bekannt, das eine solch aussergewöhnliche Massnahme rechtfertigen würde.

Auch in «politisch unruhigen Zeiten»

So dürfen Sicherheitsdirektoren gemäss Bundesgericht mit der Demonstrationsfreiheit nicht umgehen. O-Ton Bundesgericht: «Die Versammlungsfreiheit bildet eine zentrale Voraussetzung für die freie demokratische Willensbildung und die Ausübung der politischen Rechte und ist ein unentbehrlicher Bestandteil jeder demokratischen Verfassungsordnung.»

Das höchste Schweizer Gericht betont, dass dies «besonders auch in politisch unruhigen Zeiten» gelte. Generelle Demonstrationsverbote sind deshalb verfassungswidrig, wenn die Behörden mit Bewilligungen im Einzelfall «differenzierte Lösungen» und «risikolimitierende Auflagen» finden können.

Wieso foutieren sich die beiden Sicherheitsdirektoren so nonchalant um Vorgaben des höchsten Schweizer Gerichts?

Die Basler Sicherheitsdirektorin ist nicht die Einzige, die sich nicht an die Vorgaben des höchsten Schweizer Gerichts hält. Auch der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause (Die Mitte) verhängte für das Wochenende vom 21./22. Oktober 2023 ein generelles Demonstrationsverbot in der Bundesstadt. Begründung: Es sei an diesem Wochenende bereits viel los – ein Fussballspiel, das Lichtspiel auf dem Bundesplatz und der Wahlsonntag. Auch das ist weit weg von einer differenzierten Begründung im Einzelfall, wie sie das Bundesgericht verlangt. 

Die Hemmung vor dem radikalen Mittel verloren

Wieso foutieren sich die beiden Sicherheitsdirektoren so nonchalant um Vorgaben des höchsten Schweizer Gerichts? Selbst auf dem bisherigen Höhepunkt des islamistischen Terrors in Europa – im Jahr 2016 – wurden keine Demonstrationsverbote verhängt. So fanden damals etwa Demonstrationen gegen Terror und Islamophobie des Islamischen Zentralrats, von Kurdinnen und Kurden gegen Erdogan oder eine Pegida-Demo problemlos statt. 

Erst mit Corona sind generelle Demoverbote im Instrumentarium der Sicherheitsbehörden aufgetaucht. Getrieben und scheinbar legitimiert von der Angst vor Ansteckungen, haben einzelne Behörden die Hemmung vor diesem radikalen Mittel verloren. Auch nach Corona. Bern und Basel scheinen an grundrechtlichem Long Covid zu leiden. Offenbar braucht es eine weitere höchstrichterliche Dosis Grundrechtsverständnis.