Die römische Göttin Justitia hat verbundene Augen und trägt eine Waage in der Hand. Die Justiz richtet vorurteilsfrei, soll das heissen. Doch ein Instrument des Justizapparats bringt diese Waage regelmässig in Schieflage: der Strafbefehl.

Denn selten sind es Gerichte, die urteilen. In mehr als 90 Prozent aller Verfahren schlägt die Staatsanwaltschaft, die zur Strafverfolgung gehört, eine Strafe vor. Diesen Vorschlag – das Strafmass reicht bis zu 180 Tagessätzen Geldstrafe oder 180 Tagen Freiheitsstrafe – schickt die Staatsanwaltschaft in Form eines Strafbefehls den Beschuldigten nach Hause. Quasi als Einladung zu einer aussergerichtlichen Einigung.

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Wenn der oder die Beschuldigte nicht innerhalb von 10 Tagen reagiert, erklärt er oder sie sich damit einverstanden, und der Vorschlag tritt in Kraft. Anwälte und Strafrechtsexpertinnen kritisieren diese Praxis seit Jahren. Strafbefehle geben der Staatsanwaltschaft viel Macht. Immer wieder passieren Fehler mit teilweise gravierenden Folgen für die Beschuldigten. Der Beobachter berichtet regelmässig über solche Fälle und verleiht den Schmähpreis «Fehlbefehl des Jahres».

Sarah von Hoyningen-Huene, zurzeit ist sie in Elternzeit, war Staatsanwältin der Staatsanwaltschaft Frauenfeld. Und sie kritisiert den Strafbefehl – eine Seltenheit in dieser Funktion.

Sie bezeichnen den Strafbefehl im Podcast des Anwalts Duri Bonin als «Achillesferse der Justiz». Warum?
Strafbefehlsverfahren sind ein Massengeschäft. Rund 95 Prozent aller Verfahren – mit Ausnahme der schweren Verbrechen – werden so abgewickelt. Das heisst, die Qualität sinkt zugunsten der Effizienz. Das ist unvermeidlich, denn die Justiz ist enorm ausgelastet. Verbesserungen wären jedoch einfach umsetzbar.

Zum Beispiel?
Zum Beispiel bei der Einsprachefrist. Heute liegt diese bei 10 Tagen. Ich sehe kein gutes Argument, das dagegen spricht, diese Frist auf 30 Tage zu erhöhen. Das gäbe insbesondere jenen Leuten, die vielleicht eine Sprachbarriere haben, mehr Zeit, sich beraten zu lassen. Studien belegen, dass wir eine hohe Dunkelziffer haben von Personen, die nicht in der Lage sind, den Text zu verstehen.

Gibt es kein Recht auf eine Anklage in verständlicher Sprache?
Bei den Befragungen durch die Polizei oder die Staatsanwaltschaft sind jeweils Dolmetscher dabei – wenn es überhaupt Befragungen gibt. Doch die Strafbefehle werden in der Regel auf Deutsch verfasst. Das ist inkonsequent, und hier wäre mein nächster Vorschlag: Strafbefehle müssen übersetzt werden. Am besten zusätzlich in Leichte Sprache. Das Stadtrichteramt Winterthur macht damit aktuell sehr gute Erfahrungen.

Wie?
Es gibt heute günstige technische Lösungen. Die Staatsanwaltschaften sollten schweizweit mit amtsgeheimniskonformen Instrumenten zur Übersetzung ausgerüstet sein. Das Projekt Justitia 4.0 zur Digitalisierung der Schweizer Justiz soll das berücksichtigen.

Wissen die Leute, dass sie eine Einsprache gegen Strafbefehle erheben können?
Das ist ein wichtiger Punkt, der tatsächlich nicht allen bekannt ist. Auf die Möglichkeit, sich zu wehren, sollte – zum Beispiel auf einem Beiblatt, zusätzlich zur Belehrung über das Rechtsmittel – noch deutlicher hingewiesen werden. Solche Fragen könnten beispielsweise auch bei der Befragung durch Polizei oder Staatsanwaltschaft geklärt werden. Allerdings werden nicht alle Beschuldigten persönlich angehört, sondern viele erhalten den Bescheid irgendwann per Post.

Gibt es neben dem Einspracherecht weitere Verständnishürden?
Manche Strafbefehle beinhalten unter Umständen keinen Sachverhalt. Das war bei der Staatsanwaltschaft, für die ich tätig war, nicht der Fall, aber solche Beispiele sind bekannt. Und das geht natürlich nicht, denn das Anklageprinzip ist ein Grundrecht, das in der Strafprozessordnung verankert ist. Ein Strafbefehl muss einen Sachverhalt beinhalten. Wer hat wann wo was getan? Dieses Minimum an Information sind wir den Leuten im Sinne eines fairen Verfahrens schuldig.

Für eine Staatsanwältin äussern Sie sich ungewohnt kritisch. Warum sind Sie die Ausnahme?
Jede Staatsanwältin hat über hundert Dossiers auf dem Tisch. Ich glaube, es ist zu einem gewissen Grad menschlich, dass man sagt: Zugeständnisse zugunsten der Anwaltschaft, das riecht meistens nach noch mehr Arbeit. Kaum ein Staatsanwalt hält das System für perfekt. Wichtig ist, dass wir es auswerten und aufgrund empirischer Daten einfache Anpassungen machen, die das System nicht weiter belasten, sondern vielleicht sogar entlasten.

Stichwort mehr Arbeit: Der Vorschlag mit der Verlängerung der Einsprachefrist liegt schon lange auf dem Tisch, wurde jedoch nie berücksichtigt. Weil die Staatsanwaltschaften dadurch mehr Einsprachen befürchten?
Ob es bei einer verlängerten Frist wirklich mehr Einsprachen gäbe, ist unklar. Ich finde aber, eine allfällige Zunahme der Einsprachen darf kein Argument sein, dass man den Leuten durch eine kurze Einsprachefrist das Einlegen eines Rechtsmittels wegnimmt. Das kann nicht das Ziel eines Rechtsstaats sein.