Der Schweizer Nachrichtendienst darf die Kommunikation über Internet-Kabelnetze anzapfen und nach Stichworten durchsuchen. 65,5 Prozent der Schweizer Stimmberechtigten haben im Jahr 2016 dazu Ja gesagt. 

Kritikerinnen hatten zuvor gewarnt, dass mit der Annahme des neuen Nachrichtendienstgesetzes auch unbescholtene Bürgerinnen und Bürger überwacht werden könnten. Die Schweiz werde zum Schnüffelstaat, sagten sie. Guy Parmelin, damals Vorsteher des zuständigen Verteidigungsdepartements, beschwichtigte und versprach, dass keine umfassende Überwachung geplant sei.

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Jetzt legen Recherchen des Onlinemagazins «Republik» allerdings nahe: Bei der heutigen Kabelaufklärung des Nachrichtendienstes wird de facto auch ein grosser Teil der digitalen Kommunikation der in der Schweiz lebenden Bevölkerung überwacht.

Was ist überhaupt Kabelaufklärung?

Kabelaufklärung bedeutet das Anzapfen von internationalem Datenverkehr, der über Glasfaser oder Satellit läuft. Sprich E-Mails, Whatsapp-Nachrichten, Skype-Gespräche oder Google-Suchabfragen. Verdächtige Vorgänge im Ausland sollen erfasst und überprüft werden. Doch auch die meiste Internet-Kommunikation in der Schweiz läuft über ausländische Server und Netzwerke. Darum betrifft die Kabelaufklärung nicht nur die internationale elektronische Kommunikation, sondern auch jene der Schweizer Bevölkerung. 

Und wie funktioniert das?

Mittels Kabelaufklärung kann der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) nach spezifischen Informationen zu Personen oder Firmen, nach Telefonnummern oder nach Namen von Waffensystemen suchen. Die Suchergebnisse werden an das Zentrum für elektronische Operationen des Verteidigungsdepartements (ZEO) weitergeleitet. Dort werden die Daten analysiert und relevante Hinweise an den NDB weitergeleitet. Das Ziel ist es, Informationen zu beschaffen, um Spionage und Terrorismus abzuwehren und die Sicherheit zu gewährleisten. 

Was wurde der Schweizer Bevölkerung vor der Abstimmung über das neue Nachrichtendienstgesetz versprochen?

Vor der Abstimmung äusserten Kritiker und linke Parteien ihre Bedenken, dass der Geheimdienst mittels Kabelaufklärung künftig sämtliche Internet-Kommunikation mitlesen könne. Die Behörden beschwichtigten. Mit Kabelaufklärung würden keine Schweizer Bürger überwacht – weder im In- noch im Ausland, beteuerte NDB-Sprecherin Isabelle Graber eine Woche vor der Abstimmung. Der damalige Nachrichtendienstchef Markus Seiler versicherte: «Es wird keine Massenüberwachung geben.» Selbst im Abstimmungsbüchlein stand, die neuen Regelungen zur Kabelaufklärung seien «so eng gefasst, dass dieses Mittel nur gegen konkrete Bedrohungen eingesetzt werden kann und eine flächendeckende Überwachung aller Bürgerinnen und Bürger ausgeschlossen ist.» 

Was zeigt die «Republik»-Recherche?

Laut der «Republik» haben Behörden und Politik ihre Versprechen von damals nicht gehalten. Dem Onlinemagazin liegen nach eigenen Angaben Gerichtsakten und amtliche Korrespondenz vor, die Einblick geben, wie der Nachrichtendienst bei der Kabelaufklärung vorgeht. Die Unterlagen würden zeigen, dass der Internetverkehr von Schweizern massenhaft mitgelesen und ausgewertet werde. «Die Datenströme von Bürgerinnen aus der Schweiz fliessen massenhaft zum Zentrum elektronische Operationen. Denn die Kabelaufklärung wird auf Chats, E-Mails und Suchanfragen jeder einzelnen Person angewandt, die in der Schweiz lebt», schreibt die «Republik».

Der NDB schreibe zwar in einer Stellungnahme, dass bei der Kabelaufklärung ein Abgriff von Daten nur auf jene Kabel stattfindet, welche die Schweiz mit dem Ausland verbinden. In einer anderen Stellungnahme jedoch räume der NDB dann aber ein, dass es technisch gar nicht möglich sei, den Datenverkehr zwischen Kommunikationsteilnehmerinnen innerhalb der Schweiz von vornherein auszusieben. 

Die «Republik» bilanziert: Das Zentrum für elektronische Operationen des Verteidigungsdepartements führt eine Massenüberwachung durch. 

Was passiert mit den Daten?

Sämtliche Daten werden beim ZEO für spätere Auftragssuchen gespeichert. Das räumt der Nachrichtendienst gegenüber dem Verein Digitale Gesellschaft ein. Das erlaube sogenannte Retrosuchen. In einer Stellungnahme schreibt der Geheimdienst: «Es liegt in der Natur eines Kabelaufklärungsauftrags, dass sich bestimmte erfasste Signale und Daten erst im Nachhinein als auftragsrelevant herausstellen.» 

Was die Speicherdauer angeht, so verweist die Nachrichtendienstsprecherin Isabelle Graber gegenüber der «Republik» auf die Verordnung über den Nachrichtendienst. In dieser ist festgehalten, dass alle vom ZEO erfassten Kommunikationsdaten spätestens nach 18 Monaten gelöscht werden, die erfassten Metadaten, die angeben, wer mit wem über welchen Kanal kommuniziert hat, nach 5 Jahren.

Was sagt der NDB zur Kritik?

Der Nachrichtendienst bestreitet, dass der Schweizer Datenverkehr durchsucht wird. Gegenüber «20 Minuten» erklärt er, bei der Kabelaufklärung handle es sich um ein Mittel der Informationsbeschaffung über das Ausland. Befinden sich Sender und Empfänger in der Schweiz, sei eine Weiterleitung der Kommunikation an den NDB nicht erlaubt, und die Daten würden vernichtet. «Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) macht keine flächendeckende Überwachung der Bevölkerung und keine Massenüberwachung.»

Ausserdem verfüge der NDB nicht über eine Generalvollmacht, sondern dürfe seine Instrumente nur für gezielte Eingriffe bei besonderen Bedrohungslagen einsetzen. Bei der Kabelaufklärung dürfen nur jene Informationen bearbeitet werden, die den vorher definierten und genehmigten Suchbegriffen entsprechen. Angaben über natürliche oder juristische Personen aus der Schweiz seien als Suchbegriffe nicht zulässig. Somit sei auch im Bereich der Kabelaufklärung weder eine Massenüberwachung der Schweizer Bevölkerung noch eine Komplettüberwachung der globalen Kommunikation erlaubt. 

Wie reagiert die Politik?

Politiker aus allen politischen Lagern fordern eine Aufarbeitung der mutmasslichen Missstände beim NDB. Der Grünen-Nationalrat Gerhard Andrey sagt gegenüber dem «Blick», diese flächendeckende Überwachung der Schweizer Bevölkerung erinnere ihn stark an die Fichenaffäre, die 1989 aufflog. Er will zusammen mit anderen Politikerinnen im Parlament gegen die Überwachungspraxis des NDB vorgehen. 

Bei der Piratenpartei zeige man sich entsetzt über das Ausmass der Überwachung, schreibt der «Blick». «Die Lügen von Bundesrat Parmelin haben die Demokratie beschädigt», sagt sie. In einer Medienmitteilung fordert sie: «Das muss Konsequenzen haben.»

Für SP-Nationalrat Fabian Molina zeigt die Recherche, «dass die damaligen Informationen des Bundesrats nicht korrekt waren. Die Grundrechte der Schweizer Bürgerinnen und Bürger werden massiv verletzt», sagt er zur «Republik». Die Daten könnten auch in die falschen Hände geraten. «Das muss politisch aufgearbeitet werden. Der NDB überschreitet offensichtlich seine Kompetenzen.»