Kinder in Gefahr
Pädophile suchen im Internet gezielt den Kontakt zu Minderjährigen. Jeden Tag werden Kinder und Jugendliche beim Chatten sexuell belästigt.
Veröffentlicht am 24. Mai 2005 - 11:38 Uhr
«Hesch scho Brüscht?»; «Bisch spitz?»; «Wettsch ficke?»; die 37-jährige Mutter und Webdesignerin Karin Brunner* ist entsetzt: «Ich kann es nicht fassen, dass Kinder dieser Form der sexuellen Nötigung ausgesetzt werden.» Ihre neunjährige Tochter Ilona* wollte kürzlich im Bluewin-Kidstalk chatten und bekam nach Nennung ihres Alters umgehend die oben genannten Fragen gestellt. «Meine Tochter wurde sogar aufgefordert, Nacktbilder zu verschicken.»
Früher mussten Pädophile im Geheimen operieren, heute können sie sich im Internet entfalten. «Mit gutem Gewissen kann ich keinen einzigen Schweizer Kinder- oder Teeniechatroom empfehlen», sagt Rolf Nägeli, Leiter der Abteilung Kinderschutz der Stadtpolizei Zürich. Er bezeichnet die meisten Chats als «unüberblickbaren Sumpf». Oft würden Kinder und Jugendliche mit Geld geködert, es werde etwa eine Sackgeldaufbesserung versprochen, wenn man sich kurz im Solarium treffen könne. «Es ist unglaublich, aber viele Jugendliche sind naiv und neugierig und probieren das dann einfach aus.»
Nägeli erzählt von zwölf- und dreizehnjährigen Mädchen, die sich für einige hundert Franken betatschen liessen. Zur Anzeige kam es in einem Fall erst, als sich ein Täter an einem der Mädchen grob verging; der Pädokriminelle wurde gefasst. «Wir könnten jede Woche einen solchen Täter verhaften, wenn wir genügend Kapazitäten hätten», sagt Nägeli. Das dreiste Vorgehen der Pädophilen sei erschreckend, und den meisten Eltern, Lehrern und Kindern sei die Gefahr viel zu wenig bewusst.
Hier setzt die Non-Profit-Organisation Action Innocence an. 1999 in Genf gegründet, hat sie sich dem Kampf gegen die Pädophilen im Internet verschrieben. Für Präsidentin und Gründerin Valérie Picavet-Wertheimer, 56, ist klar, dass sich die Pädokriminellen die Chaträume als «bevorzugtes Jagdterrain» ausgesucht haben. Action Innocence, ein Team aus Psychologinnen und Webspezialisten, betreibt Aufklärung in Schulen und Firmen und arbeitet eng mit der Polizei zusammen. Im Herbst will die Organisation, die bisher ausschliesslich in frankofonen Gegenden vertreten war, in die Deutschschweiz expandieren und ein Büro in Zürich eröffnen.
In Europa gibt es jedes Jahr 50'000 Opfer von Pädophilen, 38 Prozent davon sind zwischen acht und zehn Jahre alt. Die deutsche Organisation Jugendschutz.net hat letzten Herbst zahlreiche Chats systematisch untersucht, um herauszufinden, wie gefährlich sie tatsächlich für Kinder und Jugendliche sind. Ein Grossteil der chattenden Minderjährigen kennt verbale Übergriffe aus eigener Erfahrung. In einer Online-Umfrage berichteten 160 von 200 Kindern von sexuellen Belästigungen. Von sprachlichen Attacken bis hin zu sexuellem Missbrauch und dessen Vorbereitung ist alles zu finden. Die Belästigungen finden vor allem in jenen Chaträumen statt, in denen Kinder und Jugendliche eigentlich unter sich sein sollten.
Die nationale Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (Kobik) stellt seit letztem Jahr eine Häufung von solchen Chatbelästigungen fest. «Die Tendenz ist klar steigend, was uns sehr beunruhigt», sagt Eva Bollmann, Analytikerin bei der Kobik. Laut Bundesgerichtsurteil reicht erst ein reales Treffen zwischen einem Pädophilen und einem Minderjährigen zur Verurteilung. «Meiner Meinung nach setzt dies rechtspolitisch ein falsches Zeichen», so Bollmann. «Wenn in einem Chat gezielt ein Kind zu sexuellen Handlungen getrieben oder mit Vulgärausdrücken belästigt wird, sollte das auch strafrechtlich verfolgbar sein.» Ähnlich sieht das der polizeiliche Kinderschützer Nägeli: «Es ist ein Frust, dass es rechtlich so schwierig ist, die Täter zu behaften.» Die Internetprovider sind laut Medienstrafrecht erst haftbar, wenn der Verfasser der Chattexte nicht eruierbar ist. So können sich die Provider immer herausreden.
Diese Erfahrung machte auch Karin Brunner, als sie sich bei Bluewin über die Belästigung ihrer Tochter beschwerte. «Der Webadministrator liess durchblicken, dass sie ihre Kunden wegen solcher Lappalien nicht massregeln wollten und Eltern solche Übergriffe in Kauf nehmen müssten.» Laut Bluewin-Sprecherin Myriam Ziesack sind in ihren Chats 400 Freiwillige im Einsatz, um solche Übergriffe zu verhindern. «Ich kann mir diese Reaktion nicht vorstellen. Wir tun alles, um eine gute Plattform zu gewährleisten.»
Die Eltern sind oft gleichgültig
Erna G., die seit sechs Jahren beim Provider Peperoni.ch tätig ist und ihren Namen nicht genannt haben möchte, hält sich als freiwillige Chathilfe in virtuellen Plauderräumen auf und wirft Leute raus, die sich nicht an die Regeln halten. Sie überprüft auch Teeniechatrooms. «Am meisten stört mich die Gleichgültigkeit vieler Eltern. Die sind einfach froh, wenn sie ihre Ruhe haben, wenn die Kinder vor dem PC sitzen.» Logge sie sich als Teenie ein, vergehe kaum eine Minute, bis sie angemacht werde. «Sado-Masoler und Fotografen tauchen immer öfter auf und suchen junge Mädchen. Gelockt wird mit grossen Geldsummen.» Erna G. kam schon zahlreichen Pädophilen auf die Spur, unter ihnen viele Geschäftsmänner und Lehrer. Sie fordert verstärkte Sicherheitsmassnahmen und mehr polizeiliche Unterstützung.
Dass Eltern und Pädagogen gefordert sind, ist bei allen Experten unbestritten. Laut Valérie Picavet-Wertheimer ist es absolut notwendig, junge Internet-User auf die Gefahren im Netz aufmerksam zu machen (siehe unten «Tipps für sicheres Chatten»). Das sei wie im Strassenverkehr: «Keine Mutter und kein Vater würde sein Kind allein über die Strasse schicken, ohne ihm gezeigt zu haben, wie es funktioniert.»
*Namen geändert
Tipps für sicheres Chatten
Chatguide für Kids:
- Chatte am Anfang nicht allein.
- Denk dir einen guten Spitznamen aus; dein richtiger Name ist dein Geheimnis.
- Verrate nie deine richtige Adresse, deine Telefonnummer und deinen Nachnamen. Gib auch nie deine E-Mail-Adresse heraus.
- Triff dich nicht mit Leuten aus dem Chat! Man weiss nie, wer dahintersteckt.
Chatguide für Eltern:
- Begleiten Sie Ihr Kind beim Chatten.
- Legen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind Chaträume fest und informieren Sie sich darüber.
- Beschränken Sie die Chatzeiten.
- Informieren Sie Ihr Kind über die Probleme, die auftreten können.
Meldestellen bei Verstössen
- Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (Kobik): www.cybercrime.admin.ch
- Kinderschutzabteilung der Stadtpolizei Zürich: kinderschutz@stp.stzh.ch
- www.actioninnocence.org
Für eine Anzeige notieren Sie Datum und Uhrzeit der Belästigung. Sichern Sie den Chat per Screenshot. Bei einem moderierten Chat können Sie sich auch an den «Abuse Officer» wenden.