«Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis.» Maria Mostafavi (Name geändert) spricht offen über ihre Zeit im Bundesasylzentrum. Sie beschönigt nichts. Das würde den schweren Gedanken, die sie jeden Tag begleiten, nicht gerecht, sagt sie. Sie möchte anonym bleiben – aus Angst, ihren Aufenthaltsstatus zu gefährden. «Ich bekomme Panikattacken, wenn ich daran denke, wie allein ich dort war», sagt die junge Frau, schüttet Kakaopulver in die warme Milch und lässt den Blick durch das Zürcher Café schweifen. «Wie allein ich immer noch bin.»

Mit 16 Jahren überquerte Maria Mostafavi im Herbst 2021 bei Basel die Schweizer Grenze. Allein. Sie wurde als unbegleitete minderjährige Asylsuchende registriert – als UMA. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) definiert UMA als Minderjährige, die ohne Eltern oder Erziehungsberechtigte in die Schweiz eingereist sind. Ihr Asylgesuch wird bevorzugt behandelt. Sie haben Anspruch auf eine Rechtsvertretung und tägliche Kurzgespräche mit einer Sozialpädagogin. 

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Im Jahr 2021 haben 989 UMA ein Asylgesuch gestellt, ein Jahr später waren es 2450. Die meisten kommen aus Afghanistan. Viele von ihnen haben in ihrer Heimat oder auf der Flucht körperliche Gewalt erlebt. Das führt oft zu Traumata oder anderen psychischen Problemen. Die Jugendlichen sind deshalb besonders schutzbedürftig.

«Ich durfte nicht mal zur Schule. Man sagte mir, sie sei voll.»

Maria Mostafavi, 18, Gymnasiastin

Nach ihrer Einreise werden Schutzsuchende wie Maria Mostafavi in Bundesasylzentren untergebracht. Sie wurde jenem in Basel zugeteilt. Fünf Monate lang wohnte sie mit sieben weiteren UMA auf engem Raum. Das war ihr erster Transfer-Aufenthalt, fünf weitere sollten folgen. «Im Bundesasylzentrum konnten wir nichts machen. Es gab zwar ein Spielzimmer, aber das war abgeschlossen», erzählt sie im Café. Plötzlich bildet sich eine Falte auf ihrer Stirn. «Ich durfte nicht mal zur Schule. Man sagte mir, sie sei voll.» 

Privatsphäre ist anders

Das SEM schreibt in einem Betreuungshandbuch, dass den Jugendlichen «Schutz und Sicherheit geboten werden [soll], damit sie sich altersgerecht entwickeln können». Zudem sei «ihre Privatsphäre zu respektieren». Doch die Realität sieht anders aus. Heute noch mehr als damals, als Mostafavi dort war.

Entgegen seinen eigenen Bestimmungen hat das SEM im Herbst 2022 eine neue Gruppe von Asylsuchenden eingeführt: die selbständigen unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (SUMA). Dabei handelt es sich um Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren, die als «nicht besonders vulnerabel erscheinen».

Diese Neueinstufung hat für SUMA drastische Folgen. Sie können gleich mehrere vom SEM festgelegte Rechte für Jugendliche verlieren. Allen voran den Anspruch auf eine persönliche sozialpädagogische Bezugsperson. Weil das Schulsystem überlastet ist, wird den SUMA der Zugang zur Schule verwehrt – ohne die Möglichkeit auf eine anderweitige Bildung. Zudem werden sie in nicht altersgerechten Räumen untergebracht, zum Teil mit über hundert Gleichaltrigen. 

Das SEM bestätigt dem Beobachter, dass man die UMA in zwei Gruppen aufteile. Die Behörde betont aber, dass der Begriff SUMA keine offizielle Bezeichnung sei. Vielmehr handle es sich um einen «Arbeitsbegriff», der zur Unterscheidung verschiedener Betreuungsgruppen diene. «Eine temporäre Lösung», heisst es in einer Stellungnahme.

«Es gab keinerlei Rückzugsmöglichkeit oder Privatsphäre.»

Ines Lindner, Ex-Mitarbeiterin Asylorganisation Zürich

Die «temporäre Lösung» hat handfeste Folgen. In Dübendorf ZH etwa lebten bis vor kurzem 140 SUMA sechs Wochen lang in einer Mehrzweckhalle. «Es gab keinen Aufenthaltsraum, nur einen durch Stellwände abgetrennten Gebetsraum», erzählt Ines Lindner (Name geändert), eine ehemalige Mitarbeiterin der Asylorganisation Zürich (AOZ). Lindner musste eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben, darum bleibt sie anonym. «Die Etagenbetten waren in der Halle aneinandergereiht. So gab es keinerlei Rückzugsmöglichkeit oder Privatsphäre.» Ein klarer Widerspruch zu den Grundsätzen, die das SEM für den Umgang mit UMA festgelegt hat.  

Die älteren, selbständigen UMA werden also anders betreut und untergebracht als die jüngeren UMA. Es gebe jedoch minimale Anforderungen, die sich von denen für erwachsene Asylsuchende unterscheiden. Wenn einzelne SUMA sichtbar mehr Betreuung benötigen, könnten sie zu UMA zurückgestuft werden, sagt Ines Lindner. Das sei bei einigen passiert. «Ob es wirklich bei allen Bedürftigen geschieht, ist fraglich.»

Mittlerweile wurden die Dübendorfer SUMA zurück ins Bundesasylzentrum Embrach ZH verlegt. Laut Lindner war der Umzug mit einem enormen Aufwand für alle Beteiligten verbunden. «Das SEM wirkte ziemlich planlos.»

Ein «Notfallkonzept»

Der neue SUMA-Status dient vor allem dazu, Ressourcen zu sparen. So sieht das Betreuungsverhältnis einen Sozialpädagogen für 15 UMA vor, aber keinen für Erwachsene. Weil mehr als 70 Prozent der registrierten UMA 16 oder älter sind, werden deutlich weniger Fachkräfte benötigt. 

Die Migrationsbehörde spricht von einem «Notfallkonzept». Es sei erstellt worden, weil Fachkräfte und Wohnungen fehlten – ausgelöst durch die gestiegene Zahl der UMA-Asylgesuche. «Wo vorübergehend zu wenig Ressourcen vorhanden sind, werden ältere UMA wie erwachsene Asylsuchende betreut», heisst es weiter. Dabei würden ältere UMA in Zentren untergebracht, wo sie zusammen mit Erwachsenen, aber in getrennten Schlafsälen leben. Die Unterbringung und Betreuung sei ihrem Alter und Reifegrad entsprechend «etwas unspezifischer und weniger intensiv».

Sobald genügend Personal zur Verfügung stehe oder die Zahl der UMA abnehme, werde der Normalbetrieb wieder aufgenommen – und die UMA würden wieder gemäss Handbuch betreut, versichert das SEM. Wie lange das dauern wird, ist ungewiss. Nur so viel: «Stand heute fehlen uns schweizweit rund 23 sozialpädagogische Vollzeitstellen.» Doch es gebe auch für SUMA wöchentliche Sprechstunden sozialpädagogischer Bezugspersonen. Über den Zugang zur Schule entscheide jeder Kanton allein. Das SEM beteuert, es würde den Jugendlichen keine Rechte vorenthalten. Die Aufsplittung der minderjährigen Gruppe optimiere die Wohnsituation räumlich.

Ines Lindner widerspricht: «Vor der Einführung der neuen Kategorie musste ein Team über 200 UMA gleichzeitig betreuen. Schon damals konnten wir den Jugendlichen in keiner Art und Weise gerecht werden.» Sie befürchtet eine Verschärfung des Problems: «Die Unterteilung führt dazu, dass viele SUMA in den ersten wichtigen Monaten in der Schweiz nicht die richtige Betreuung bekommen.» 

Zum Glück einen Ausweis dabei

Bei ihrer Ankunft in der Schweiz hatte die minderjährige Maria Mostafavi einen Ausweis dabei. Das war entscheidend. Denn umstritten ist der SUMA-Status auch, weil das Alter von Asylsuchenden oft nicht eindeutig bestimmt werden kann. Jugendliche, die sich nicht ausweisen können und bei denen ein Verdacht auf Volljährigkeit besteht, werden zur Altersabklärung geschickt. Körpergrösse, Gewicht, sexuelle Reifezeichen oder die Zähne sollen Hinweise auf das biologische Alter geben. Wissenschaftlich sind die Methoden umstritten. 

«Mir sind fast nur Fälle bekannt, bei denen die Betroffenen ‹älter gemacht› werden», sagt Sandra Rumpel. Die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin leitet den Verein Family-Help, der Geflüchteten Behandlungen ermöglicht. «Die Genauigkeit der Altersbestimmung schwankt um ein bis zwei Jahre. Das ist besonders bei Jugendlichen entscheidend.» Im vergangenen Jahr wurden 495 von 1040 Jugendlichen nach der Altersabklärung als erwachsen eingestuft und damit von Unterstützungsmassnahmen ausgeschlossen, berichtete die «Aargauer Zeitung».

Maria Mostafavi wurde als UMA anerkannt. Doch auch wenn es ihr damit besser ergangen sein dürfte als den Jugendlichen, die als SUMA praktisch wie Erwachsene behandelt werden, fühlte sie sich alleingelassen. 

Beim Erzählen bleibt ihre Stimme ruhig. Die Hände aber sprechen aufgeregt mit. «Ich habe bei jedem Treffen mit meinem Sozialarbeiter – alle zwei bis drei Wochen – um psychologische Hilfe gebeten.» Sie habe sie nie bekommen. «Die Termine waren immer ausgebucht.» Ihr einziger Lichtblick: zweimal zwanzig Minuten Internet pro Tag. Ansonsten verbrachte sie die Zeit in ihrem Zimmer mit Malen oder Schreiben. Mostafavi holt ihr Handy aus der Tasche und zeigt ihre Bilder. Einige davon leuchten in kräftigen Farben und zeigen wilde Pinselstriche, andere sind kaum mehr als dünne Silhouetten. Sie konnte ihre Gefühle ausdrücken, eine Art Therapie. 

«Bis zu drei von vier der geflüchteten Kinder und Jugendlichen haben Trauma-Folgestörungen.»

Sandra Rumpel, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin

Bis zu drei von vier der geflüchteten Kinder und Jugendlichen haben Trauma-Folgestörungen, sagt Sandra Rumpel. «Asylzentren und die meist kurzfristigen Umzüge sind keine heilpädagogischen Umgebungen für Jugendliche.» Schlafstörungen durch überfüllte Zimmer, Lärm oder Prügeleien unter den Bewohnern verschlimmern den Stresszustand zusätzlich. Trotzdem erhalten nur wenige psychologische Unterstützung.

Fachleute sehen Verstoss gegen Uno-Richtlinien

Auch wenn die SUMA laut SEM keine offizielle Kategorie sind, verstösst die Einteilung laut Fachpersonen gegen die Uno-Kinderrechtskonvention. Diese verpflichtet Mitgliedstaaten, die Rechte jedes Kindes zu gewährleisten. Darunter das Recht auf Gleichheit und Bildung, Schutz der Privatsphäre und Würde. «Nicht die Bedürfnisse der Betroffenen stehen im Zentrum, sondern die Zahlen der Asyl- und Sicherheitspolitik», sagt Sandra Rumpel. Wenn den Jugendlichen ihr Status als Kind abgesprochen werde, fehle ihnen ein Teil ihrer Entwicklung.

«UMA sind auf der gesamten Flucht in einem Überlebensmodus und in ständiger Überforderung. Dadurch wirken sie nach aussen sehr selbständig.» Die verletzlichen und nicht entwickelten Persönlichkeitsanteile seien aber nach wie vor vorhanden. Wenn diese nicht aufgefangen würden, komme es zu Entwicklungsdefiziten, die mit steigendem Alter schwieriger zu behandeln seien. Indem das SEM die Jugendlichen alleinlässt, gebe es ihnen ein Zeichen: «Wir werden nicht in dich investieren.» Das sei «ein ökonomischer Blödsinn», auch im Hinblick auf die Integration.

Maria Mostafavi ist froh, dass sie die Zeit im Asylzentrum hinter sich lassen konnte. Mittlerweile besucht die 18-Jährige das Gymnasium und lebt in einer WG am Fuss des Zürcher Üetlibergs. Einmal wöchentlich geht sie zur Therapie. Doch zu Hause fühlt sie sich nicht. Zu gross ist die Angst vor einem plötzlichen Transfer am nächsten Tag. «Ich weiss nie, wann das Telefon klingelt und es wieder so weit ist.» Sie hofft, dass sie in der Schweiz bleiben kann, um nach der Matura zu studieren. Ihr Traum ist es, Herzchirurgin zu werden. «Dann kann ich nach Griechenland oder Afrika reisen und Menschen helfen, die in grosser Not sind.»