«Ein Hohn gegenüber dem Rechtsstaat»
Die Volksabstimmung über die Unternehmenssteuerreform II wird nicht wiederholt, obwohl der Bundesrat den Stimmbürgern im Februar 2008 wichtige Informationen vorenthalten hatte. Für Daniel Jositsch, Beschwerdeführer, Nationalrat und Strafrechtsprofessor, macht sich der Staat damit unglaubwürdig.
aktualisiert am 21. Dezember 2011 - 17:35 Uhr
84 Millionen Franken Steuerausfälle für den Bund und 850 Millionen Franken für die Kantone – dies, so verkündete der Bundesrat im Vorfeld des Abstimmungssonntags vom 24. Februar 2008, sei der verkraftbare Preis für die Unternehmenssteuerreform II. Die Urnengänger winkten die Vorlage mit einer Mehrheit von etwas mehr als 20'000 Stimmen denkbar knapp durch. Doch bald zeigte sich: Die Steuerausfälle für Bund und Kantone dürften sich auf gegen zehn Milliarden Franken belaufen. Und: Der Bundesrat hatte im Abstimmungskampf nicht alle relevanten Informationen auf den Tisch gelegt.
SP-Nationalrat Daniel Jositsch (ZH) reichte darauf Beschwerde ein. Er forderte eine Wiederholung der Volksabstimmung – und blitzte damit am Dienstag vor Bundesgericht ab. Auch wenn die höchsten Richter dem Bundesrat vorwerfen, die «Stimmbürger hinters Licht geführt» zu haben.
Beobachter: Daniel Jositsch, einerseits gibt Ihnen das Bundesgericht Recht und wirft dem Bundesrat vor, er habe die Stimmbürger in die Irre geführt. Andererseits schont es ihn, indem es eine Wiederholung der Volksabstimmung ablehnt. Wie geht das auf?
Daniel Jositsch: Das geht überhaupt nicht auf. Die Kritik des Bundesgerichts an der Regierung ist reine Kosmetik, Gewissensberuhigung. Eigentlich hätte es sich dies gleich sparen können, denn was zählt, ist einzig das Urteil. Und das sagt: Der Bundesrat kann vor Volksabstimmungen weiterhin ungestraft mit falschen Informationen operieren.
Beobachter: Wenn das Bundesgericht der Regierung ernsthaft auf die Finger hätte klopfen wollen, hätte es also eine Wiederholung der Volksabstimmung anordnen müssen?
Jositsch: Genau. Nur dies wäre ein unmissverständliches Signal an den Bundesrat gewesen, dass ein Vorgehen wie im Abstimmungskampf von 2008 nicht geduldet wird. Dieses Signal fehlt jetzt. Damit hat es das Bundesgericht auch verpasst, den Bürgern zu zeigen, dass sie ihren Institutionen vertrauen können.
Beobachter: Das Bundesgericht begründet den Verzicht auf eine neue Volksabstimmung unter anderem mit der Rechtssicherheit – die damals beschlossene Unternehmenssteuerreform sei heute in Kraft, viele Firmen seien von ihr betroffen. Was halten Sie von diesem Argument?
Jositsch: Das Bundesgericht gewichtet damit die Interessen von Firmen höher als die der Stimmbürger, die von der Regierung nicht wahrheitsgetreu informiert wurden. Das ist ein Hohn gegenüber dem Rechtsstaat, und ich bin erstaunt, dass dieser Hohn ausgerechnet vom Bundesgericht kommt, der Hüterin des Rechtsstaats. Die Abstimmung im Februar 2008 fiel äusserst knapp aus. Wären die richtigen Zahlen bekannt gewesen, hätte das Resultat wohl anders ausgesehen.
Beobachter: Das Bundesgericht lehnt eine Wiederholung der Abstimmung wegen des Grundsatzes von Treu und Glauben ab. Klingt ziemlich zynisch – denn gerade in diesem Fall konnten die Bürger der Regierung ja nicht glauben.
Jositsch: Das ist völlig unverständlich. Es wirkt ungefähr so, wie wenn Ihnen das Auto gestohlen würde, und nach einem Jahr würde man den Wagen dem Autodieb einfach überlassen – mit der Begründung, es hätten sich ja alle daran gewöhnt, dass er nun mit Ihrem Auto herumfahre.
Beobachter: Wirkt sich das Urteil auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat aus?
Jositsch: Ich denke schon. Der Bundesrat führt die Stimmbevölkerung hinters Licht, das höchste Gericht lässt es durchgehen - das beschädigt die Glaubwürdigkeit der staatlichen Institutionen und schwächt letztlich auch das Vertrauen in sie.
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