Elena* (6) und die Angst vor tödlichen Nüssen
Für die sechsjährige Elena* kann Essen Lebensgefahr bedeuten. Selbst wenn sie Nussspuren bloss einatmet, reagiert ihr Körper heftig.
Veröffentlicht am 4. Januar 2019 - 16:58 Uhr,
aktualisiert am 3. Januar 2019 - 13:43 Uhr
Elena hat Angst vor dem Essen. Angst davor, dass in der Schule etwas in die Znünibox geraten könnte. Sechseinhalb Jahre ist sie alt und weiss, wie es sich anfühlt, wenn man erstickt. Sie leidet an einer schweren Nussallergie . Ihr Notfalltäschli mit zwei Adrenalinspritzen, einem Asthmaspray, Antihistamintropfen und Kortisontabletten trägt sie immer auf sich.
Vor Elenas Geburt war ihre Mutter Sandra Bracher* als Eventmanagerin tätig. Sie arbeitete gern und viel, ass oft auswärts und bei Freunden. In den Ferien reiste sie mit ihrem Mann um die Welt. Einfach nur zu Hause bleiben mit einem Kind, das konnte sie sich nicht vorstellen. Etwas blauäugig sei sie damals gewesen und absolut keine Köchin. Für sie war klar, dass sie nach dem Mutterschaftsurlaub wieder arbeiten würde.
Doch dazu kam es nicht. Wenn Sandra Bracher heute bei Freunden essen geht, kocht sie Essen vor und nimmt es mit. Ferien macht sie nur noch im Wohnmobil oder im Ferienhaus ihrer Eltern in Spanien, das Auto bepackt sie mit Essen für die ganze Zeit dort. Elenas Geburt hat alles verändert.
Wenige Wochen nach der Geburt entwickelte das Mädchen eine starke Neurodermitis . Schrie und kratzte sich blutig, schlief auch nachts kaum länger als eine Stunde am Stück. Verweigerte den Schoppen, später den Brei und jegliches Essen. Erst mit mehr als einem Jahr akzeptierte sie zusätzlich zur Brust auch Reisbrei mit Birne. Sonst nichts. So ass sie fortan morgens, mittags und abends Reisbrei mit Birne, dazu bekam sie Vitaminzusätze. Sandra stillte weiter, bis Elena 18 Monate alt war.
Mit eineinhalb probiert Elena erstmals einen Löffel einer gekauften Baby-Müeslimischung. Sie spuckt sofort wieder aus, versucht die Reste mit den Händen von der Zunge zu kratzen, beginnt zu schreien. Sekunden später schwellen ihr Gesicht, ihr Hals und ihre Augen an und röten sich. Sie ringt nach Luft, ihr Blick wird apathisch, sie bricht zusammen.
Sie hätte sterben können, wenn die Ambulanz nicht schnell genug da gewesen wäre. Im Spital spritzt man ihr sofort Adrenalin und verabreicht weitere Medikamente. Das hilft, die Atemwege zu öffnen und den Kreislauf zu stabilisieren. Es war Elenas erster anaphylaktischer Schock, eine lebensbedrohliche allergische Reaktion, ausgelöst durch die drei Prozent Haselnüsse im Müesli.
«Heftige Reaktionen auf sehr kleine Mengen von Nahrungsmitteln sind leider nicht so selten.»
Miriam Hoernes, Allergologin
Seither beobachtet Sandra Bracher ihre ältere Tochter beim Essen sehr genau, ist bei jedem Husten in Alarmbereitschaft. Längst fährt sie nicht mehr bei jeder Hautreaktion und jedem Asthmaanfall ins Spital. Mit Medikamenten, Sauerstoff- und Pulsmessgerät kann sie die meisten Situationen unter Kontrolle bringen.
Doch es gibt immer wieder Schreckmomente. Etwa in der Weihnachtszeit vor vier Jahren, als Elena vor den Augen der Eltern erbricht, um Atem ringt, kollabiert, erneut einen Schock erleidet – sie hat an einem Tisch gegessen, auf dem vor ihrer Ankunft nusshaltige Guetsli gelegen haben.
Ein anderes Mal isst Sandra Bracher mit einer Freundin eine Glace mit Nüssen, kaut danach Kaugummi und kehrt zwei Stunden später fürs Nachtessen nach Hause zurück. Elena nimmt sich Sandras bereits benutzten Löffel, um damit Reis zu essen – und bekommt kurz darauf starkes Nesselfieber. Seither verzichten beide Elternteile auch auswärts auf Nüsse.
Einmal geht die Mutter mit Elena und der zwei Jahre jüngeren Tochter Luzia* in die Krabbelgruppe, wo sie sich mit anderen Müttern und Kindern zum Zvieri trifft. Plötzlich reibt sich Elena die Augen, läuft rot an, hustet, ringt nach Luft. Jemand hat in ihrer Nähe eine Packung Cashewnüsse geöffnet, sie hat Spuren davon eingeatmet.
«Gott sei Dank ist bei Nahrungsmittelallergien eine Reaktion über die Luft der Ausnahmefall», sagt Elenas Allergologin und Kinderärztin Miriam Hoernes. Auch Todesfälle seien «glücklicherweise extrem selten». Nicht so selten sei allerdings, dass Kinder mit starken Nahrungsmittelallergien schon heftig reagieren, wenn sie nur sehr kleine Mengen bestimmter Nahrungsmittel einnehmen.
Bei einer Nahrungsmittelallergie reagiert das Immunsystem unterschiedlich stark auf bestimmte Eiweisse. Es nimmt diese sogenannten Allergene fälschlicherweise als gefährliche Fremdkörper wahr. Viele Betroffene entwickeln dabei bloss Hautreaktionen wie Juckreiz, Schwellungen im Gesicht, Nesseln oder ein Kribbeln im Mund. Bei anderen reagiert auch der Magen-Darm-Trakt, mit Bauchkrämpfen, Erbrechen oder Durchfall.
«Viele denken bei einer Nahrungsmittelallergie an ein unangenehmes Kribbeln im Mund», sagt Kinderärztin Hoernes. Das sei bei Erwachsenen mit sogenannten Kreuzreaktionen tatsächlich verbreitet: Wer auf gewisse Baumpollen allergisch ist, entwickelt im Verlauf des Lebens oft auch eine Allergie etwa auf Nüsse, Äpfel, Birnen, Kiwi, Tomaten, Karotten, Sellerie und andere Lebensmittel. «Das ist unangenehm, aber in der Regel nicht gefährlich.» Trotzdem rät Hoernes: «Nahrungsmittelallergien sollte man immer sorgfältig abklären lassen.» Damit man weder unnötige Risiken eingehe noch auf Nahrungsmittel verzichte, die man eigentlich essen könnte.
Eine sorgfältige Abklärung des Schweregrads einer Allergie durch einen Facharzt sei zentral, sagt auch Angelica Dünner von der Patientenorganisation Verein Erdnussallergie und Anaphylaxie. «Manche Betroffene bekommen Nesselfieber, wenn sie mehrere Erdnüsse essen. Andere reagieren bereits mit Anaphylaxie, wenn sie eine Türklinke mit Erdnussspuren anfassen und später die Finger an den Mund führen. Die Unterschiede sind immens.»
Als der Schulleiter begriff, wie stark Elenas Allergie ist, wurde die Schule zur nussfreien Zone.
Dünner setzt sich dafür ein, dass Kinder wie Elena, die an starken Allergien leiden, öffentliche Schulen besuchen können. Mindestens einmal im Jahr werde sie damit konfrontiert, dass sich eine Schule zunächst weigere, ein stark allergisches Kind aufzunehmen. Doch mittlerweile gebe es mindestens 80 Schulen mit einem Nussverbot.
Als der Schulleiter von Elenas Schule begriff, wie stark ihre Allergie ist, wurden Kindergarten und Primarschule zur nussfreien Zone erklärt. Sandra Bracher ist dankbar dafür, dass die Schule die Situation von Anfang an ernst nahm und das Nussverbot durchsetzte – gegen anfänglichen Widerstand anderer Eltern. «Viele wussten gar nicht, dass es überhaupt so starke Allergien gibt. Und als sie es begriffen, hatten sie Angst, dass dann ihre Kinder schuld sind, wenn unserer Tochter etwas passiert», erzählt Sandra Bracher. In einer Vereinbarung wurde deshalb unmissverständlich festgehalten, dass ohne offensichtliche Mutwilligkeit keine Ahndung erfolgt, wenn dem Mädchen etwas zustossen sollte.
Elenas Gspänli reagierten ausgezeichnet. Viele liessen die Brachers wissen, dass sie Nüsse eigentlich gar nicht mögen und froh sind, wenn ihr Mami oder ihr Papi ihnen keine mehr mitgeben darf. Mehrere Kinder boten an, dass ihre älteren Geschwister in der Pause auf Elena aufpassen könnten. «Ich finde das sauherzig. Aber für Elena ist das manchmal fast zu viel der Aufmerksamkeit. Sie möchte einfach ein ganz normales Mädchen sein», so die Mutter.
Elena ist auch auf andere Lebensmittel stark allergisch, unter anderem auf Milch, Ei, Fisch, Bohnen, Sesam, Sellerie, Trauben, Kiwi, Ananas und Erdbeeren. Gekocht und in nicht zu grossen Mengen verträgt sie Lauch, Tomaten, Rüebli. Äpfel und Birnen darf sie zwar essen, bekommt davon aber Hautjucken oder rote Flecken um den Mund, in der Pollenflugsaison manchmal auch Asthmaanfälle. Sie muss täglich Vitamintabletten und weitere Nahrungsergänzungen wie Kalzium und Magnesium einnehmen.
Dass Elenas vierjährige Schwester Luzia an Zöliakie leidet und auf glutenhaltige Nahrungsmittel verzichten muss, macht die Sache für die Familie Bracher nicht einfacher. Drei bis vier Stunden täglich steht Sandra Bracher in der Küche. Bereitet zwei Sorten Spätzli, Gnocchi oder Teigwaren zu. Backt zwei Sorten Brot, zwei Sorten Guetsli, zwei Sorten Waffeln. Kreiert auch mal ein Hafergebäck, das in Form und Aussehen an Farmer-Stängel erinnert – damit sie Elena etwas in die Znünibox packen kann, das zumindest so aussieht wie der Znüni der anderen Kinder. Auch Glace bereitet sie selbst zu, denn von den Sorten im Laden kann Elena einzig Calippo mit Zitrone gefahrlos essen.
«Wir können Elena nicht in Watte packen. Sie muss damit leben lernen, dass sie nie einfach ins Restaurant oder ins Kino gehen kann, wo Erdnüsse verkauft und gegessen werden. Aber mit guter Vorbereitung ist vieles möglich», sagt Sandra Bracher. Etwa die Herbstmesse oder der Europapark. Dann stelle sie sicher, dass sie genügend Reinigungstücher und Essen dabeihabe, und natürlich Elenas Notfalltäschli.
«Elena muss damit leben lernen, dass sie nie einfach ins Kino gehen kann.»
Sandra Bracher*, Mutter
Beim Einkaufen muss Sandra Bracher selbst bei ihr bekannten Lebensmitteln jedes Mal die Inhaltsstoffe im Kleingedruckten prüfen; manchmal enthalten sie von einem Tag auf den anderen Nussspuren. Etwa Elenas Lieblings-Darvida mit Urdinkel-Geschmack. Gefährlich sind auch Pflegeprodukte, die Nuss- oder Mandelöl enthalten, was oft aber nur mit lateinischen Namen deklariert wird.
Weil Nussspuren über Kleider ins Haus gelangen können, putzt und wäscht Sandra viel mehr als früher. Insbesondere in der Weihnachtszeit, weil überall Erdnüsse oder nusshaltiges Gebäck herumliegen.
Wer ins Haus kommt, muss erst die Hände waschen. Besuch wird gebeten, vorher keine Nüsse zu essen und die Zähne zu putzen. Wenn Elena nach Hause kommt, zieht sie sofort frische Kleider an. Dann erst kann sie sich entspannen und in Ruhe spielen. «Wir haben auswärts immer diese Schrecksekunden», sagt Sandra Bracher. «Hier kann ich mich zwischendurch auch mal hinsetzen und entspannen. Unser Zuhause ist eine der wenigen sicheren Inseln in einer sonst gefährlichen Welt.»
In der Rubrik «Der Fall» geht es um Geschichten von Menschen, die eine Phase durchmachen, in denen es das Leben nicht gut meint mit ihnen. Auch die Stiftung SOS Beobachter unterstützt Menschen, die einen Schicksalsschlag verkraften müssen – mit einer Spende können Sie mithelfen.