«Als würde man die Welt durch ein Mikroskop sehen»
Kann ein Autist anderen Autisten helfen? Matthias Huber machts. Der Psychologe ist selber Asperger-Autist und berät seit 14 Jahren Kinder und Jugendliche mit Autismus an der Uniklinik Bern.
Veröffentlicht am 2. April 2019 - 10:35 Uhr,
aktualisiert am 1. April 2019 - 16:08 Uhr
«Autisten sind ständig am Nachdenken und Überlegen, um erkennen zu können, was die soziale Umwelt von ihnen wünscht oder verlangt», sagt Autismus-Experte Matthias Huber.
Beobachter: Ist es ein Vorteil für Ihre Beratung, dass Sie selber Autist sind?
Matthias Huber: Ja. Ich habe eine ähnliche Art, wie ich die Welt wahrnehme, wie die Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen. Deshalb kann ich mich einfacher in ihre autistische gedankliche und emotionale Welt einfühlen, weil mir die Gedankenmuster und Assoziationen vertraut sind. Ich weiss, welche sprachlichen Ausdrücke ich nutzen muss, damit sie mich verstehen.
Zum Beispiel?
Ich formuliere meine Fragen sehr präzis und detailliert, denn offene Fragen erzeugen nur Stress. Fragt man beispielsweise ein autistisches Kind, ob es eine Lieblingsfarbe hat, dann antwortet es mit «ja». Ein Kind ohne Autismus nennt die Farbe und erwähnt vielleicht noch seinen Ball, der dieselbe Farbe hat. Deshalb fragt man Autisten besser so: «Wenn du Gitarre übst, schaust du auf die Saiten oder geradeaus oder an einen Ort, den ich nicht genannt habe?» Autisten sind Detailmenschen – im Denken wie auch in der Wahrnehmung.
Wer kommt zu Ihnen in die Praxis zur Abklärung?
Zu uns kommen Kinder mit der Verdachtsdiagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS), dazu gehören auch das Asperger-Syndrom
, frühkindlicher Autismus oder atypischer Autismus. Die Diagnose wird immer im Team durch medizinische und psychologische Fachpersonen gestellt. Ein wichtiger Teil ist das klinische Gespräch, in dem auch das nonverbale Verhalten Aufschluss gibt. Die Kinder, die wir untersuchen, sind zwischen 1,5 und 18 Jahre alt. Oft kommen Jugendliche, die vorher andere Diagnosen erhielten, die aber nicht alle Auffälligkeiten begründeten.
«Ausserhalb der eigenen Wohnung ist es, als ob man in einem Parfumlager eingeschlossen ist, in welchem hundert Parfums ausgelaufen sind.»
Matthias Huber, Autismus-Experte
Wie erklären Sie Nicht-Betroffenen, wie ein Autist denkt und fühlt?
Es ist, als würde man die Welt durch ein Mikroskop sehen, alle Details, alle Unregelmässigkeiten und alle Ungenauigkeiten wahrnehmen. Die Welt ist für uns zu laut, wie ein Megafon vor dem Ohr, zu hell, wie ohne Schutzbrille in die Sonne zu schauen, und Kleidung fühlt sich manchmal an wie Schleifpapier auf der Haut. Ausserhalb der eigenen Wohnung ist es, als ob man in einem Parfumlager eingeschlossen ist, in welchem hundert Parfums ausgelaufen sind. Ständig sind Autisten am Nachdenken und Überlegen, um erkennen zu können, was die soziale Umwelt von ihnen wünscht oder verlangt.
Wie ist das bei Ihnen selber?
Ich bin auch überempfindlich auf Lärm, Licht, raschelnde Kleidung und Gerüche. Den Alltag genau vorhersehen zu können, ist extrem wichtig für mich. Ich merke mir zum Beispiel alle möglichen Weg-Varianten, zum Beispiel vom Bahnhof zum Arbeitsplatz. Auf welchem Weg ist die Fussgängerfrequenz niedriger, zu welchen Tageszeiten? Ich merke mir, wo es sinnvoll ist, die Trottoir-Seite zu wechseln, um nicht im Gewühl zu verzweifeln. Alles, was ich tue, muss ich mir vorher im Kopf vorstellen, mit detailliertem Ablauf, damit ich dann handeln kann. Deshalb ist plötzliches Reagieren schwierig und braucht viel Energie.
Viele autistische Kinder haben Mühe mit dem Schulunterricht. Hatten Sie das auch?
Kinder mit Autismus sind sehr genau und präzise in der Bearbeitung von Aufgaben und brauchen deshalb deutlich mehr Zeit. Oft müssen sie aufgrund ihrer Detailverarbeitung länger nachdenken und überlegen, bis sie wissen, wie etwas gemeint ist. Lehrpersonen nutzen die Sprache im Unterricht oft nicht rein sachlich-logisch, sondern umgangssprachlich – das versteht ein autistisches Kind nicht. Ich habe auch immer wieder Fragestellungen falsch verstanden oder anders interpretiert und war phasenweise extrem erschöpft vom Schulalltag, vom Lärm, von den anderen Kindern, vom Versuch, die Peer-Groups zu verstehen.
«Autisten müssen sich immer anstrengen, weil sie den Gesetzen der Normalbevölkerung gehorchen müssen.»
Matthias Huber, Autismus-Experte
Was müsste im Schulalltag für Autisten geändert werden?
Es wäre für alle Beteiligten einfacher, wenn Schulleitungen und Lehrpersonen
nicht zögern würden, sich autismusspezifisches Wissen zu holen. Menschen ohne Autismus können nichts dafür, dass sie sich nicht einfühlen und eindenken können in jemand mit Autismus. Sie müssen es erst lernen. Genauso ist es aber auch umgekehrt: Autisten können auch nichts dafür, dass sie so sind, wie sie sind. Autisten müssen sich immer anstrengen, weil sie den Gesetzen der Normalbevölkerung gehorchen müssen. Ein Lehrer sagte mir einmal: «Ich gebe schon seit über 35 Jahren Schule und habe wirklich viel Erfahrung mit allen möglichen Schulkindern, aber bei einem autistischen Kind nützt mir diese Erfahrung nichts. Ich brauche dafür anderes Wissen.» Diese Offenheit hat mich bis heute tief beeindruckt.
Ist die Integration der richtige Weg?
Das kann ich nicht generell beantworten. Für die einen ist eine Spezialschule das richtige, für andere wäre es entwicklungsbehindernd. Ich denke, wenn Schulen erkennen, dass sie Fähigkeiten haben, sich anzupassen und zu verändern, also kreativ und flexibel sind, haben sie es einfacher, als ängstlich-vermeidende Schulumgebungen. Es gibt für Asperger-Kinder keine Spezialschulen, da sie keine kognitiven Beeinträchtigungen haben. Das heisst, sie müssen in die Regelschule. Das Beispiel von Iwan
zeigt, wie schwierig das sein kann.
Was wünschen Sie sich für die Schulkarriere autistischer Kinder?
Ich wünsche mir, dass die Rahmenbedingungen so angepasst werden können, dass ein autistisches Kind den Schulalltag mit seinen Abläufen als sinnvoll erkennt, unabhängig vom Zeitumfang seiner Anwesenheit. Je mehr ein Kind erkennt und weiss, was es als nächstes machen muss, umso eher wird es sich auf den nächsten Arbeitsschritt einlassen. Wer sich im Chaos erfährt, braucht mehr Zeit und direkte Hilfen, um darin sinnvolle Gesetzmässigkeiten erkennen zu können.
Der Psychologe und Asperger-Autist Matthias Huber, 51, arbeitet im Fachbereich Autismus an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie KJP UPD in Bern. Daneben engagiert er sich im Bereich Beratung und Weiterbildung von Eltern und Fachpersonen. Seine eigene Diagnose bekam er erst im Erwachsenenalter, in seiner Kindheit in den 70er Jahren war das Thema noch wenig bekannt. Demensprechend hatte er mit einigen Schul-Schwierigkeiten zu kämpfen und holte die Matur auf dem zweiten Bildungsweg nach.
Der Begriff «Autismus» stammt aus dem Griechischen und bedeutet «sehr auf sich bezogen sein». Vom US-amerikanischen Kinderpsychiater Leo Kanner und vom österreichischen Kinderarzt Hans Asperger wurde der Begriff um 1940 erstmals für Kinder mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung verwendet. Heute spricht man von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), da sich autistische Störungen ganz unterschiedlich zeigen können. Die Bandbreite bei Autisten ist riesig und reicht von stark kognitiv eingeschränkten, bis hin zu hoch intelligenten, die in gewissen Gebieten Ausserordentliches leisten. Ein prominentes Beispiel dafür ist die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg. Etwa ein Prozent der Bevölkerung sind betroffen, Knaben und Männer häufiger als Mädchen und Frauen. In der Schweiz sind das etwa 80'000 Menschen.
Symptome: ASS-Betroffene nehmen ihre Umwelt anders wahr. Sie können sich nur schwierig in andere Menschen einfühlen und angemessen kommunizieren. Nur mit Mühe stellen sie sich auf Neues ein, Alltagsabläufe gestalten sie immer gleich (Rituale). Oft orientieren sie sich an Details und können eine Situation schlecht ganzheitlich erfassen. Der Umgang mit anderen Menschen ist ungeschickt, Blickkontakt wird vermieden. Sie reagieren oft überempfindlich auf grelles Licht, spezielle Geräusche, Gerüche oder Berührungen (autistische Wahrnehmung). Die Symptome sind von Person zu Person sehr unterschiedlich und verändern sich im Laufe der Entwicklung. Die Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Es spielen genetische Faktoren eine Rolle sowie biologische Abläufe rund um die Geburt. Eine ASS-Störung entsteht aber nie durch Erziehungsfehler oder familiäre Konflikte.
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3 Kommentare
Bravo! Ein sehr schöner und einfühlsamer Artikel, sehr gut erklärt! Und dass Psychologen wie Herr Matthias Huber auf diesem speziellen Gebiet mit ASS-Patienten arbeiten, wo sie selbst eigene Erfahrungen haben, finde ich ausserordentlich wichtig! Die Schulen müssten meiner Ansicht nach auch viel mehr Gebrauch von solchen Ausbildungs-Angeboten machen! Denn ich als Person ohne ASS verstehe nach diesem Artikel sehr Vieles besser als vorher! Ich hatte früher eine Bekannte mit einem damals 8-jährigen Jungen (das war Mitte der neunziger Jahre), der unter „Autismus litt“, so hat es mir seine Mutter erklärt…..wenn man dies so heute noch sagen darf? Wir fuhren gemeinsam mit unseren Kindern für zwei Wochen in die Ferien! Ich habe mit dem Jungen mitgefühlt, jedoch kein Wort wechseln können mit ihm die ganzen zwei Wochen lang, ich wusste auch nicht wie, ich habe zwar versucht, mit ihm in Kontakt zu treten und ihn immer mal wieder auf irgendetwas angesprochen, z.B. beim Spielen, beim Essen oder sonst irgendwas, eine Antwort habe ich indessen nie bekommen, wahrscheinlich habe ich mich für ihn falsch ausgedrückt, sodass er es einfach nicht verstehen oder einordnen konnte. Seine Mutter sagte auch immer zu mir, lass es einfach sein, er lebt in seiner eigenen Welt…..es geht ihm gut…..das hat mir weh getan! Er hat sich auch fast immer abgekapselt und seine „eigenen Dinge“ gemacht. Wahrscheinlich um sich abzulenken vom Trubel am Strand und sonst überall in den vielbelebten Strassen eines Touristen-Ortes? Das muss für ihn nach obiger Erklärung im Artikel unglaublich anstrengend gewesen sein! Aber auch die Mutter war offensichtlich nicht richtig aufgeklärt damals, 30 Jahre ist dies nun her. Wusste man denn damals noch nicht mehr, wie man Erziehende richtig miteinbeziehen sollte? Ich hoffe von ganzem Herzen so sehr für ihn, dass es ihm heute gut geht!!
Genau wie Matthias Huber wurde auch bei mir als gestandene Frau die Diagnose ASS gestellt. Eine Diagnose, die vieles erklärte, die aber kein Schlüssel zurück ins Berufsleben war. Trotz Greta machen heutzutage die Mitmenschen einen riesigen Bogen um diese Art "Behinderte". Obwohl behindert sind ja (Asperger) Autisten nicht, nur hochbegabt, hypersensibel, sich eben selbst genug - sozusagen Selbstversorger. Nur wenige Psychotherapeuten wissen, was ASS ist. So war ich bei einem, der mein Verhalten nachäffte, obwohl ich ihm x Mal sagte, ich hätte ASS. Und auch Verwaltungen ignorieren das, lehnen sog. Assistenzhunde ab, nur weil es im Mietvertrag steht (keine Haustiere). Empathie und Respekt wären das mindeste. Und diese ablehnende Haltung kränkt, verletzt immens.
Liebe Frau Lukacovic, vielen Dank für Ihre Aufklärung, wie Sie dies im Alltagsleben wahrnehmen! Diese Erfahrungen, welche Sie machen, sind wirklich sehr aufschlussreich! Eigentlich ist es eine Schande, dass man heutzutage ganz generell noch immer nicht mehr Empathie gegenüber „Anderssein“ lehrt an den Schulen, und die Lehrer dementsprechend schulisch ausbildet! Dies alles sind auch Menschen wie alle anderen auch und verdienen denselben Respekt!