Es muss im Mutterleib gewesen sein, als ich zum ersten Mal Zucker naschte. Ich erinnere mich nicht daran. Später tauchen schummrige Bruchstücke gierig verschlungener Osterhasen auf.

Dann kam der Hugo. Er arbeitete in der Bäckerei, die am Weg zur Schule vor sich hinduftete. Wir klopften jeden Tag an. «Hugo, häsch Räschtä?» Der Hugo hatte. Mal einen Fetzen süssen Teig, mal eine abverheite Cremeschnitte. Es waren glückliche Zeiten.

Meine Mutter musste stets die Schokolade vor mir verstecken. In wechselnden Chuchichäschtli. Ich fand sie immer. – Ich war erfolgreich angefixt.

Die Kalorien steckte ich weg, solange ich im Wachstum war. Doch dann wuchs nur noch der Bauch. Ich kippte Mayonnaise aus dem Speiseplan, die ich eimerweise verschlungen hatte. Das fiel schwer. Ich wurde trotzdem schwerer.

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Eine Sucht fast wie Heroin

Der Zuckerentzug war dann viel härter. Ich musste meinen inneren Hugo besiegen. Und den äusseren Hugo, der einen in jedem Supermarkt verfolgt – mit regalbreitem Grinsen. Aber ich schaffte es.

Darauf bin ich ein bisschen stolz. Denn Zucker hat ein ähnliches Suchtpotenzial wie Heroin oder Kokain. Das zeigen zig Studien. Er hebt den Dopamin- und Serotoninspiegel im Hirn, macht glücklich und entspannt. Allerdings nur auf Zeit. Dann muss süsser Nachschub her. Unheimlich auch, dass viele Heroinsüchtige fast nichts anderes essen als Süssigkeiten.

Doch wie formulierte es Präsidentengattin Nancy Reagan damals so schön? «Sag einfach Nein zu Drogen.» Sie war immer beneidenswert ausgemergelt und wurde fast 95. Ein Vorbild, dem es nachzuleben gilt.

Einfach Nein sagen, das mach ich bei jedem Geburtstagsfest. Wenn man mir ganz selbstverständlich einen Teller mit einem fetten Stück Kuchen hinstreckt, murmle ich selbstvergessen: «Nein, danke, für mich nicht». Falls ich gerade Lust auf Konversation und neidische Kommentare habe, sage ich: «Ich esse keinen Zucker.» Dann gehts los (drei, zwei, eins …): «Was, du isst keinen Zucker?» – «Wirklich?» – «Wow!» – «Das könnte ich nie …»

Der gern gesehene Exot

Wenn das alles mal pflichtbewusst vermeldet ist, kommen (drei, zwei, eins …) die Argwöhnischen unter den Gästen an die Reihe: «Isst du auch keinen versteckten Zucker?» – «Nein.» – «Keine Fertigpizzas?» – «Nein.» – «Und kein Ketchup?» – «Nein, logisch auch kein Ketchup.»

Dann schlägt (drei, zwei, eins …) die Stunde der Schlauberger: «Und das Bier da in deiner Hand? Das ist doch auch Zucker.» – «Ja», sage ich, «aber kein zugesetzter.» – «Du isst also nichts mit zugesetztem Zucker?» – «Genau. Aber auch keine Früchte.» – «Was, keine Früchte? Warum nicht?» – «Die sind mir zu süss.» – «Was?» – «Ja. Ich habe über die Jahre eine Abneigung gegen alles Süsse entwickelt.» – «Was, alles Süsse?» – «Ja. Ich esse keine Schokolade, keinen Kuchen, keine Bonbons, keine Pralinés und keine Nussgipfel und keine Cremeschnitten und überhaupt nichts Konditorisches. Ich esse keine Konfi, keine Guetsli, kein Zmorgemüesli, keine gesüssten Joghurts. Und trinke nichts Gesüsstes.» – «Was?»

Für Gesprächsstoff ist also gesorgt. Inzwischen werde ich allein wegen meiner Fähigkeiten als exotischer Unterhaltungskünstler zu Partys eingeladen.

Was ich stets verschweige: Natürlich habe ich in Sachen zugesetzter Zucker eine Schwäche: Essiggurken. 4 Gramm auf 100 Gramm. Aber ein einziges Laster muss dem Menschen doch gegönnt sein.

Das zuckerfreie Versuchsobjekt entzückt die Forscherinnen

Von den Essiggurken verrate ich auch den Forscherinnen am Basler Claraspital nichts, als ich mich mit einer etwas seltsamen Mail an sie wende: «Ich habe seit 30 Jahren rein gar nichts Süsses gegessen. Nun möchte ich in einem Selbstversuch Zucker zu mir nehmen. Die Frage: Kommt das Craving zurück? Im Moment ekelt mich Süsses nämlich.»

Das Craving, diese irre Gier nach etwas, von dem man auf Entzug ist – holt mich die Sucht ein, wenn ich mich wieder zuckere? Bange Frage an die Forscherinnen: «Raten Sie mir ab? So quasi: ‹Sie sind seit 30 Jahren clean und wollen das Gift wieder zu sich nehmen? Sind Sie verrückt?›»

Die Forscherinnen halten mich für gar nicht so verrückt. «Die Idee finde ich grossartig. Keine Sorge: Ein paar Wochen werden Ihre 30-jährige Vernunft nicht eliminieren», schreibt die Leiterin der Forschungsabteilung, Bettina Wölnerhanssen, zurück. Soll ich ihr trauen?

Denn – das wird schnell klar – die Forscherinnen sind entzückt, ein zuckerfreies Versuchsobjekt in die Hände zu bekommen. «Es ist heute fast unmöglich, Leute zu finden, die gar keinen Zucker essen, sagt Ärztin Bettina Wölnerhanssen, die mit Doktorandin Valentine Bordier in den nächsten Wochen über mein Schicksal bestimmt.

Ich bin übergewichtig, stellt sich beim ersten Untersuch heraus. Immerhin nur leicht. Und schon male ich mir aus, dass ich nach vier Wochen Zucker noch ein paar Kilo mehr um die Knautschzone habe. Der Hugo lacht sich schon ins Fäustchen.

Der Sensor am Oberarm

Ich muss drei Röhrchen Blut hergeben – für die Wissenschaft. Dann werde ich gechippt, mit einem Sensor am Oberarm. Über eine kleine Nadel bestimmt er den Blutzucker und zeichnet ihn über zwei Wochen auf. Gedacht für Leute mit Diabetes, die sich nicht mehrmals täglich in den Finger stechen wollen. Mit einem kleinen Gerät lassen sich die Werte ablesen.

Meine Resultate im zuckerlosen Zustand: unauffällig. Der Zuckerspiegel bewegt sich in einem Rahmen, der als gesund gilt.

Dann kommt die Stunde der Wahrheit. Ab sofort muss ich Süsses zu mir nehmen. Voller schlechter Vorsätze verlasse ich das Untergeschoss, in dem Valentine Bordier forscht. Am Kiosk kaufe ich mir ein Fläschchen Cola. Mit Zucker. Für Fr. 2.80. Die Zeit scheint hier, an Basels Rand, stehen geblieben, die Preise ebenso.

Der Zucker wirkt schnell in meinem unbeleckten System. Ich fühle mich fit. Und übersättigt – beim Zmittag mag ich nur spärlich zugreifen. Doch um halb zwei falle ich in ein Loch. Eine Müdigkeitsattacke, wie ich sie tagsüber seit zehn Jahren nicht mehr hatte. Damals verliebten sich meine jetzige Frau und ich, und wir schlugen uns die Nächte um die Ohren.

Wäh, Cremeschnitte!

Die bleierne Müdigkeit nach dem Mittagessen verfolgt mich die nächsten vier Wochen. Alles in mir schreit nach einem Schläfchen. Da hilft auch das Koffein nicht, das in den anderthalb Litern braune Brause steckt, die ich pro Tag trinke. Anderthalb Liter, macht fast 160 Gramm Zucker. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt 25 bis maximal 50 Gramm täglich. Die Schweizer Bevölkerung schlägt das locker – 2015 konsumierte sie im Schnitt 110 Gramm zugesetzten Zucker pro Tag.

36,5 Kilogramm Zucker werden in der Schweiz pro Jahr und Kopf verzehrt.

Infografik: Die Entwicklung des Zuckerkonsums pro Kopf in der Schweiz in den vergangenen 15 Jahren

Nach einem Tief im Jahr 2018 ist der Zuckerkonsum in der Schweiz wieder angestiegen.

Quelle: BFS/Agristat – Infografik: Andrea Klaiber

Valentine Bordier ermuntert mich zu Schokolade und süssem Gebäck – für die Wissenschaft. «Essen Sie doch mal Dessert, wie normale Leute!» Ich stelle mir eine Cremeschnitte vor, wie damals bei Hugo. Doch es klappt nicht, in der Bäckerei packt mich der Ekel, ich kaufe ein Kürbiskernbrötchen. Später verfüttert mir meine kleine Tochter einen Mundvoll Vanille-Dessert, den ich heimlich in die Toilette spucke.

Dann erinnere ich mich an die Mokka-Joghurts, die ich als Kind so mochte. Der Test klappt, das Joghurt bleibt unten. 24 Gramm Zucker pro Becher – rund die Hälfte der WHO-Empfehlung für einen Tag, das ist doch schon mal eine ungesunde Basis. Eine Weile esse ich zwei Becher pro Tag. Manchmal vor dem Essen. So wird die süsse Pampe rasch von Angenehmerem übertüncht.

Die Top-5-Süssigkeiten

Liste der Top-5-Süssigkeiten
Quelle: BLV – Infografik: Andrea Klaiber

Mit der Zeit macht mir der Zwangszucker zu schaffen. Die braune Brause stösst mir sauer auf. Ich bin nahe daran, das Experiment abzublasen. Leider habe ich schon zu vielen Leuten davon erzählt. Wenn ich jetzt aufgebe, heisst es: So ein Softballspieler, kann nicht mal anständig Zucker essen.

Süsse Überraschung

Auch ein heimlicher Abbruch kommt nicht in Frage. Der Sensor auf meinem Arm würde mich überführen. Ausserdem lässt mich Valentine Bordier ein Ernährungstagebuch schreiben, das sie auswerten will. Es gibt kein Zurück.

Ich freue mich täglich auf den Tag X, an dem ich keinen Zucker mehr essen muss.

Der Tag X beginnt dann mit einer süssen Überraschung: Frau Bordier stellt mich auf die Waage und stellt fest, dass ich nur 100 Gramm zugenommen habe. Wie ist das möglich? Wohl weil das braune Süsswasser, das ich schön verteilt über den Tag trank, meinen Zuckerspiegel hoch hielt und damit meinen Appetit minderte. Ist Zucker also eine Methode, das Gewicht zu halten? Frau Bordier lacht. Mein Ergebnis sei nicht statistisch relevant, man dürfe es nicht verallgemeinern. Ausserdem sind vier Wochen zu kurz, um schon Auswirkungen auf das Körpergewicht zu bemerken.

Die Auswertung des Sensors zeigt, dass mein Blutzucker in den letzten Wochen wilder unterwegs war und öfter mal in ungesunde Sphären zickte. «Aus medizinischer Sicht können wir Ihnen nur raten, wieder auf Zucker zu verzichten», nicken Bettina Wölnerhanssen und Valentine Bordier. Und zitieren eine Zürcher Studie vom letzten Jahr, die zeigt: Schon 80 Gramm zugesetzter Frucht- und Haushaltszucker über einige Wochen bringen die Leber dazu, ihre Fettproduktion zu erhöhen. Die Folge: Fettleber , Übergewicht, Diabetes und Gefässkrankheiten. Während des Experiments sind meine Blutfettwerte dementsprechend gestiegen.

Dann legen die Forscherinnen nach: Auch mein Cholesterin ist leicht erhöht. Das war es schon vor dem Experiment. Woher denn?, frage ich. «Sie sollten weniger schnellen Zucker zu sich nehmen.» Was, aber das tu ich doch gar nicht? Doch, sagen sie. Ich solle schnelle Kohlenhydrate wie Weissmehl und weissen Reis meiden, ebenso – ich habe es schon befürchtet – Bier.

Der Hugo war also die ganze Zeit da. Er hat sich nur sehr gut versteckt. So einfach entkommt ihm niemand – auch ohne Cremeschnitte nicht.

Inzwischen bin ich wieder zuckerfrei wie zuvor. Bis auf die ewigen Essiggurken.

Zuckerkonsum im Ländervergleich: Brasilien süsser als die USA

Infografik: Der Zuckerkonsum pro Kopf im Ländervergleich
Quelle: OECD/FAO – Infografik: Andrea Klaiber

Zuckerquellen

Infografik: Anteil der Zuckerquellen
Quelle: BLV – Infografik: Andrea Klaiber

Ist Fruchtzucker gesünder als raffinierter Zucker?

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Ist Zucker aus Früchten gesünder als Raffinerie-Zucker? Dr. med. Twerenbold klärt auf.
Quelle: Beobachter Bewegtbild
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