Wie gefährlich ist sie wirklich?
Jahr für Jahr empfiehlt das BAG die Grippeimpfung. Dennoch lässt sich ein Grossteil der Risikogruppe nicht impfen. Sind die Argumente stichhaltig?
Veröffentlicht am 25. Januar 2018 - 12:30 Uhr,
aktualisiert am 25. Januar 2018 - 10:36 Uhr
Auf die Grippe ist Verlass. Jedes Jahr im November, spätestens im Dezember, hält sie Einzug. Zu Beginn des Jahres erreicht sie einen Höhepunkt und flaut erst im März oder April wieder ab. Fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung fangen sich Viren ein. 110'000 bis 275'000 Betroffene erwischt es so stark, dass sie einen Arzt aufsuchen müssen, Tausende haben Spitalpflege nötig. Im schlimmsten Fall kann eine Grippe sogar tödlich enden.
Ein schlagendes Argument für die Grippeimpfung? Nicht unbedingt. Über kaum ein Gesundheitsthema wird so leidenschaftlich gestritten. «Übernehmt Verantwortung – für euch selbst und andere», sagen die Befürworter der Impfung. Diese sei begrenzt wirksam oder gar gefährlich, entgegnen die Kritiker. Der Streit beginnt schon bei den Zahlen.
In der Alltagssprache werden Erkältung und Grippe oft gleichgesetzt. Tatsächlich ähneln sich die Symptome, der Verlauf sowie die Schwere der Erkrankung unterscheiden sich aber stark. Erkältungen treffen Erwachsene bis zu viermal im Jahr, kommen schleichend und klingen nach einigen Tagen wieder ab. Die Grippe tritt hingegen saisonal gehäuft und plötzlich auf. Meist kommt es innerhalb weniger Stunden zu hohem Fieber bis zu 40 Grad. Zeitgleich treten verschiedene weitere Symptome mit sehr starker Ausprägung auf.
- Ursache: Infektion mit Influenzaviren
- Ansteckung: Tröpfcheninfektion (Niesen, Husten, Sprechen) oder direkter Kontakt
- Symptome: starkes Fieber (über 38 Grad), Husten, Schnupfen, Hals- und Schluckweh, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, Schwindel, Appetitlosigkeit, Erschöpfung sowie Schmerzen in der Brust, in Gelenken und Muskeln; bei Kindern kann es zusätzlich zu Erbrechen und Durchfall kommen
- Dauer: ein bis zwei Wochen
- Therapie: Oft reicht es aus, die bestehenden Symptome zu lindern. Entsprechende Medikamente werden empfohlen, wenn der Verlauf der Grippe schwer ist oder man zu einer Risikogruppe zählt.
Ist man trotz Symptomen noch ansteckend?
Gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) können die schweren Folgeerkrankungen der Grippe zu Hunderten Toten pro Jahr führen. Die Todesfälle werden so bestimmt: Das BAG errechnet, wie viele Menschen ab 60 Jahren während einer Grippewelle sterben, und vergleicht die Anzahl mit der durchschnittlichen Sterblichkeit, die ausserhalb der Grippesaison recht stabil ist. Für die Differenz wird die Grippe verantwortlich gemacht.
Ein ungenaues Verfahren, kritisieren Impfgegner und verweisen auf die tieferen Zahlen der Todesursachenstatistik des Bundesamts für Statistik (BFS). Das ergibt allerdings wenig Sinn. Pietro Vernazza, Chefarzt Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen, erklärt: «Ein Arzt stellt fest, dass der Patient an einem Herzversagen oder an einer Lungenkrankheit gestorben ist. Da er normalerweise keine ausführliche Diagnose stellt, ist die Ursache des Herz- oder Lungenversagens aber nicht erfasst.» In lediglich elf Prozent der Todesfälle ist nur eine Ursache verantwortlich, in 36 Prozent der Fälle hingegen gibt es vier verschiedene Diagnosen. Je älter eine Person ist, desto mehr Todesursachen können in der Regel festgestellt werden.
Doch auch sonst kann eine Grippe schwere Auswirkungen haben. Die häufigsten Komplikationen sind Atemwegsbeschwerden, Lungen-, Nasennebenhöhlen- oder Mittelohrentzündungen. Seltener kann es auch zu einer Hirnhautentzündung, Gehirnentzündung, Entzündung des Herzmuskels oder zu einer Erkrankung des Nervensystems (Guillain-Barré-Syndrom) kommen.
Diese Nebenwirkungen können zwar jeden treffen, die Auswirkungen sind aber nicht in jedem Fall gleich schwerwiegend. Besonders gefährdet sind Menschen ab 65 Jahren – sie machen 90 Prozent der Todesfälle aus. Daneben zählen zur Risikogruppe schwangere Frauen und solche, die vor kurzem entbunden haben, Frühgeborene und chronisch Erkrankte. Die Impfung wird ausserdem Personen empfohlen, die privat und beruflich mit einer Risikogruppe oder mit Säuglingen unter sechs Monaten zu tun haben, bei denen das Immunsystem (noch) ungenügend ist. «Impfen ist eine Frage der Solidarität», appelliert das BAG. Bereits Geschwächte sollen nicht unnötig gefährdet werden.
Eine Auswertung der letzten Impfstrategie zeigte 2012, dass die Ziele bezüglich Impfschutz nicht erreicht wurden. Die Durchimpfung der Risikogruppen betrug lediglich 42 Prozent (Zielwert: 75 Prozent), von den Personen mit nahem Kontakt zu den Zielgruppen liessen sich sogar nur 26 Prozent (Zielwert: 50 Prozent) impfen.
«Geimpfte können zwar erkranken, der Schweregrad der Krankheit und der Komplikationen wird jedoch abgeschwächt.»
Florian Banderet, Personalarzt am Unispital Basel
Auch heute wird der Zielwert noch nicht erreicht, wie eine Nachfrage bei grossen Schweizer Spitälern zeigt. Sowohl im Kantonsspital St. Gallen als auch im Universitätsspital Zürich liegt die Durchimpfungsrate des Spitalpersonals bei rund 20 Prozent. Am Universitätsspital Basel betrug sie in der vergangenen Saison 26 Prozent, am Inselspital Bern waren es 40 Prozent. Unter den Ärzten ist die Rate jeweils höher als beim Pflegepersonal – in Basel beispielsweise 52 Prozent zu 22 Prozent.
Um die Raten zu erhöhen, tun Spitäler viel. Mitarbeitende werden durch Briefe, Broschüren, Kurzfilme, Vorträge und online umfassend informiert und können sich jederzeit kostenlos impfen lassen. Einen grossen Einfluss haben laut Florian Banderet, Personalarzt des Universitätsspitals Basel, die unmittelbaren Vorgesetzten: «Wenn diese gegenüber der Grippeimpfung positiv eingestellt sind und sie aktiv propagieren, ist die Impfrate auf den jeweiligen Abteilungen deutlich höher.»
Dies bestätigt Bettina Kuster, Pflegedirektorin am Kinderspital Zürich, wo die Impfrate gar bei 55 Prozent (75 Prozent bei den Ärzten, 50 Prozent in der Pflege) liegt: «Früher waren Nichtgeimpfte in guter Gesellschaft. Nun wird es aber normal, sich impfen zu lassen.»
Wer widersetzt sich den Empfehlungen? «Es lassen sich meist dieselben Mitarbeitenden impfen wie schon im Vorjahr. Solche, die sich aus ideologischen Gründen strikt gegen eine Impfung wehren, sind selten», erklärt Banderet. Er vermutet, dass sich ein Grossteil nicht mit dem Thema befassen will. Einige halten die Grippe für wenig gefährlich und bestehen auf dem Recht, krank zu sein. Andere fürchten sich vor den Nebenwirkungen der Impfung.
Und dann gibt es auch Impfverweigerer – unter dem Spitalpersonal, aber vor allem auch in der breiten Bevölkerung –, die von der Wirksamkeit des Impfstoffs nicht überzeugt sind.
Der Grippeimpfstoff muss jedes Jahr neu hergestellt werden, da sich die zirkulierenden Virenstämme laufend verändern. Zu Beginn des Jahres analysiert die Weltgesundheitsorganisation diese und gibt im Februar auf Basis von drei bis vier Virenstämmen eine Empfehlung an die Impfstoffhersteller ab. Zwischen März und September produzieren verschiedene Hersteller den Impfstoff. Dafür züchten sie im Frühling Virenstämme in Hühnereiern. Im Sommer werden die Viren extrahiert, abgetötet und in ihre Bestandteile zerlegt. Anschliessend kann der Impfstoff hergestellt werden.
Da die Virenstämme in der Zwischenzeit allerdings mutieren können, ändert sich die Übereinstimmung eines Impfstoffs mit den tatsächlich zirkulierenden Viren von Jahr zu Jahr. In der Grippesaison 2014/15 lag die Wirksamkeit des Impfstoffs gerade mal bei 23 Prozent. Im Folgejahr waren es in Europa zumindest 47 Prozent.
Hinzu kommt, dass das Immunsystem nicht in jedem Fall gleich auf die Impfung reagiert. Während bei Kindern und Erwachsenen unter 50 Jahren ein Infektionsschutz von 70 bis 90 Prozent erreicht wird, sind die über 65-Jährigen nur zu 30 bis 50 Prozent geschützt. Daher rät die Stiftung Warentest in Berlin – entgegen den Empfehlungen der Behörden in Deutschland und in der Schweiz – älteren Menschen von der Impfung ab. Sie bezweifelt, dass viele Grippetode verhindert werden können.
Florian Banderet wehrt sich gegen solche Aussagen: «Geimpfte können zwar erkranken, der Schweregrad der Erkrankung und der Komplikationen wird jedoch abgeschwächt.» Eine Metaanalyse von 64 Studien aus dem Jahr 2010 gibt ihm recht: Durch die Grippeimpfung kam es in Pflegeheimen zu 46 Prozent weniger Lungenentzündungen, zu 45 Prozent weniger Hospitalisierungen sowie zu 42 Prozent weniger Todesfällen wegen Lungenentzündungen als Komplikation einer Grippe oder durch die Grippe selbst. «Zu weniger Todesfällen trägt entscheidend bei, dass sich auch das Personal der Pflegeheime impfen lässt», ergänzt Infektiologe Pietro Vernazza.
Schwere Komplikationen infolge der Grippeimpfung sind sehr selten. Der Impfstoff besteht aus unschädlich gemachten Bakterien und Viren, die zu einer Immunreaktion im Körper führen. Häufig sind die Auswirkungen lokal (Schmerzen, Juckreiz, Hautrötungen) und verschwinden nach ein, zwei Tagen wieder. Zu Fieber, Muskelschmerzen oder Krankheitsgefühl kann es bei fünf bis zehn Prozent aller Geimpften kommen. Sehr selten sind im Fall einer Allergie Ödeme, Atemwegsbeschwerden, Ausschläge oder ein allergischer Schock. Beim Guillain-Barré-Syndrom, einer Nervenkrankheit, geht man von einem Fall pro eine Million Geimpfte aus.
Das Risiko ernsthafter Komplikationen durch die Grippe ist laut dem BAG um ein Vielfaches höher als das von Nebenwirkungen durch die Impfung.
Es gibt weniger Todesfälle, wenn sich das Pflegepersonal der Pflegeheime impfen lässt.
Pietro Vernazza, Infektiologe
Durch den Kontakt mit dem Impfstoff bilden sich Antikörper und weisse Blutkörperchen – der Körper baut ein Immungedächtnis auf. Erkennt er dieselben Erreger beim Kontakt mit Virenstämmen erneut, ist das Immunsystem gewappnet.
Wie häufig jemand an Erkältungen oder der Grippe erkrankt, hängt entscheidend vom Immunsystem ab. Doch inwiefern lässt sich dieses beeinflussen?
Während einer Schwangerschaft versorgt die Mutter ihr Kind über die Plazenta mit Antikörpern – ein Schutz, der ein paar Monate nach der Geburt anhält. Obwohl das Baby in dieser Zeit alle wichtigen Akteure in sich trägt, sind diese teils noch zu wenig ausgereift, um gegen gefährliche Erreger anzukommen. Erst langsam beginnt das noch junge Immunsystem, fremde Eindringlinge zu erkennen und effektiv zu bekämpfen. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Reaktion von Kindern auf frühe Impfungen gegen Mumps, Masern oder Röteln sowie Kinderlähmung stark erblich ist. Bei Impfungen im höheren Alter sind genetische Einflüsse hingegen kaum noch entscheidend, da sich das Immunsystem durch den Kontakt mit der Aussenwelt ständig weiterentwickelt.
Funktioniert das Immunsystem also mit steigendem Alter immer besser? Nein, denn auch das Immunsystem altert. Bei Seniorinnen und Senioren verringert sich die Zahl der B-Lymphozyten, die verantwortlich für die Produktion von Antikörpern sind, sowie der T-Lymphozyten, die fremde Zellen erkennen.
Die Abwehrzellen sind weniger aktiv. Gleichzeitig dringen Erreger leichter ein, da Haut und Schleimhäute verletzlicher sind. Und chronische Erkrankungen wie Diabetes oder Arteriosklerose, die im Alter häufiger vorkommen, schwächen das Immunsystem zusätzlich.
Wie sehr man dieses durch eine ausgewogene Ernährung, sportliche Betätigung, ausreichend Schlaf und das Vermeiden von lang andauerndem Stress stärken kann, ist nicht geklärt. «Solche Massnahmen schaden sicher nicht, der tatsächliche Nutzen für das Immunsystem ist aber nicht bewiesen», sagt Infektiologe Vernazza.
Grippeerkrankungen können sich innert kürzester Zeit auf einzelne Regionen oder Länder (Epidemie), aber auch über die ganze Welt ausbreiten (Pandemie). Als schlimmste aller Grippewellen gilt die «spanische Grippe», die 1918/19 zwischen 25 und 50 Millionen Todesopfer forderte. In der Schweiz waren zwei Millionen – damals rund die Hälfte der Bevölkerung – von Grippesymptomen betroffen, über 24'000 Frauen und Männer starben. Es handelte sich bei der spanischen Grippe um einen neuen, besonders aggressiven Virenstamm. Danach galten die asiatische Grippe, die Hongkong-Grippe, die russische Grippe und die Schweinegrippe als grösste Grippewellen, wobei die Auswirkungen nicht vergleichbar sind. Die Schweinegrippe etwa forderte im Jahr 2009 rund 18'000 Opfer weltweit.
Pandemien mit unterschiedlichen Schweregraden können jederzeit wieder auftreten. Um die Auswirkungen zu minimieren, gründete die WHO 1946 ein internationales Grippeüberwachungssystem, an dem auch das BAG beteiligt ist.
19 Kommentare
«Geimpfte können zwar erkranken, der Schweregrad der Krankheit und der Komplikationen wird jedoch abgeschwächt.» - wenn man erkranken kann, ist man dann nicht auch für die ungeimpften schwächeren, die mit der Impfung von Pflegepersonal und Betreuern ansteckend? Und das vielleicht noch, ohne dass es einem bewusst ist? Geht für mich nicht so recht auf, das Argument. Ausserdem wurde mir sowohl von betroffenen in meinem Bekanntenkreis als auch von bekannten Pflegerinnen bestätigt, dass die Impfung sich ansonsten eher schwächend aufs Immunsystem auswirkt - also: 40% gegen Grippe geschützt, dafür von allem anderen (noch häufiger auftretenden) stärker betroffen...?