«ADHS ist keine Modediagnose»
Kinderärztin Eva Roth über ihren Beruf im Wandel der Zeit, impfkritische Eltern und Kinder, die fast nicht mehr von ihren Smartphones zu trennen sind.
Veröffentlicht am 25. April 2017 - 09:39 Uhr
Beobachter: Sie arbeiten seit drei Jahrzehnten als Ärztin. Haben sich die Kinder in dieser Zeit verändert?
Eva Roth: Kinder «begreifen» die Welt nicht mehr mit den Händen, sondern sehen sie am Bildschirm. Viele Jugendliche betreten mein Behandlungszimmer mit dem Handy in der Hand, als wären sie mit dem Ding verwachsen. Auch die Belastung der Familien durch Trennungen hat zugenommen: Ich sehe viele Kinder, die darauf mit Symptomen wie Kopfweh, Bauchweh oder einfach mit Traurigkeit reagieren.
Beobachter: Haben psychische Krankheiten bei Kindern zugenommen?
Roth: Früher ging man wegen körperlicher Leiden zum Arzt. Erst beim Rausgehen erzählten die Eltern von Schlafstörungen oder Schulschwierigkeiten. Nun sprechen sie solche Probleme direkt an.
Beobachter:Wo hat die Kindermedizin die grössten Fortschritte gemacht?
Roth:Die Vorsorge wird heute stärker gewichtet. Wir kontrollieren sehr genau, ob sich ein Kind altersentsprechend entwickelt. Je früher eine Fehlentwicklung oder Störung festgestellt wird, desto wirksamer ist die Therapie. Auch den neueren Impfungen, etwa gegen Haemophilus, Pneumokokken oder Meningokokken, haben wir viel zu verdanken: Hirnhautentzündungen sehen wir kaum mehr. Bei der Krebstherapie haben die Therapieerfolge deutlich zu- und die Nebenwirkungen abgenommen.
«Sehr selten kommen Eltern, die grundsätzlich nicht impfen wollen.»
Eva Roth, Kinderärztin
Beobachter: Haben Sie Verständnis für Eltern, die Impfungen skeptisch gegenüberstehen?
Roth: Wenn ich Skepsis spüre, erkläre ich ausführlich die Vorteile der Impfung. Dringend empfehle ich diejenige gegen Hirnhautentzündung. Die restlichen sollten möglichst noch im ersten Lebensjahr gemacht werden. Sehr selten kommen Eltern, die grundsätzlich nicht impfen wollen. In diesen Fällen bleibt mir nichts anderes übrig, als sie gut zu informieren und auf die Risiken hinzuweisen. Letztendlich muss ich den Entscheid ihnen überlassen.
Beobachter: Wissen Eltern heute besser über Kinderkrankheiten Bescheid als früher?
Roth: Ja, einige rufen zuerst bei der Beratungshotline der Krankenkasse an und gehen nur dann zum Arzt, wenn es wirklich nötig ist. Es wird auch oft nach Krankheiten gegoogelt – da besteht allerdings die Gefahr, sich falsch zu informieren.
Beobachter: Wie haben Sie den Aufschwung der Komplementärmedizin erlebt?
Roth: Ich war da immer sehr offen und habe schon früh begonnen, mich zusätzlich in chinesischer Medizin auszubilden. Bei chronischen Krankheiten und Allergien habe ich gute Erfahrungen mit Komplementärmedizin gemacht.
Beobachter: Wie haben die Eltern auf diese Angebote reagiert?
Roth: Babys verschreibe ich oft homöopathische Zwiebeltropfen gegen Schnupfen. Nur eine einzige Mutter lehnte das ab.
Beobachter: Was können Eltern für die Gesundheit ihrer Kinder tun?
Roth: Sie können für eine gesunde Ernährung sorgen, ihr Kind zum Sport schicken und den Medienkonsum einschränken. Übermässiger Medienkonsum macht passiv und fördert eine schlechte Haltung und Gewichtsprobleme.
«Ich erkläre den Eltern, dass das Kind sie nicht absichtlich ärgert.»
Eva Roth, Kinderärztin
Beobachter: Wie viele Modediagnosen haben Sie kommen und gehen sehen?
Roth: ADHS ist keine Modediagnose, wenn Sie darauf anspielen. Früher hielt man diese Kinder für «schwierig», weil sie frech und unkonzentriert waren und andere Kinder störten. Heute weiss man, dass bei ihnen die Reifung bestimmter Hirnareale verzögert ist. Was vor allem das soziale Verhalten, nicht aber die Intelligenz betrifft. Dank dieser Erkenntnis können die Kinder besser therapiert werden. Und sie erhalten in der Schule und zu Hause wieder Anerkennung anstatt Tadel.
Beobachter: Geht es nicht einfach darum, Kinder mit Hilfe von Ritalin wieder zum Funktionieren zu bringen?
Roth: Ich berate immer zuerst die Eltern, die verunsichert und genervt sind, und erkläre ihnen, dass das Kind sie nicht absichtlich ärgert. Um sein Verhalten besser zu steuern, braucht es Geduld, einen regelmässigen Tagesablauf und Regeln. Auch Ergo- und Psychotherapie können viel bewirken. Erst wenn das alles zu wenig nützt, verschreibe ich Ritalin. In diesen Fällen ist es sehr hilfreich.
Beobachter: Gibt es wirklich einen Kinderärztemangel?
Roth: Ja, den gibt es. Auf dem Land ist er besonders spürbar. Die Zahl der Ärzte hat zwar insgesamt zugenommen, aber viele arbeiten Teilzeit. Pro Tag können zudem weniger Kinder als früher behandelt werden, weil die Vorsorgeuntersuchungen Zeit brauchen. Am Anfang meiner Praxistätigkeit hatte ich nicht selten 50 bis 60 Patienten pro Tag zu untersuchen.
Beobachter: Werden genug Kinderärzte ausgebildet?
Roth: Nein, der Numerus clausus ist ein Witz und gehört abgeschafft! Dass unser Lohn, der im Vergleich zu dem eines Spezialisten geringer ist, schuld am Mangel sein soll, glaube ich hingegen nicht. Wir können die ganze Entwicklung vom Kleinkind zum jungen Erwachsenen miterleben – für mich ist deshalb klar: Kinderärztin ist der schönste Beruf der Welt.
Eva Roth, 66, arbeitet seit 30 Jahren in der gleichen Kinderarztpraxis im Friesenbergquartier in Zürich.