«Wir versuchen, die Selbstbestimmung zu respektieren»
Was tut das Personal eines Altersheims, wenn es merkt, dass Bewohner trinken? Pflegeleiterin Linda Gotsmann vom Gustav Benz Haus in Basel verfolgt einen integrativen Ansatz.
Veröffentlicht am 14. August 2020 - 14:13 Uhr
Beobachter: Immer mehr Rentnerinnen und Rentner trinken zu viel, auch im Altersheim. Wie gehen Sie damit um?
Linda Gotsmann: Viele beginnen nicht erst zu trinken, wenn sie ins Alterszentrum kommen. Allerdings kommt es vor, dass manche beim Eintritt verschweigen, dass sie dem Alkohol zugewandt sind – was aber noch nicht weiter schlimm ist. Unsere Aufgabe ist es ja nicht, die Leute zu kontrollieren oder ihnen den Alkohol zu verbieten, solange sie ihn im Griff haben.
Ab wann wird Alkohol zum Problem?
Wenn die Betroffenen durch ihren Konsum sich selbst oder andere gefährden. Oder wenn sie nicht mehr kooperieren, sich zum Beispiel medizinischen Massnahmen verweigern. Oder wenn sie gegenüber Mitbewohnern unhöflich oder gar aggressiv werden. Allerdings treten solche Begleiterscheinungen meist schleichend auf. Kommt hinzu, dass die Sucht immer noch tabuisiert wird und mit Scham behaftet ist.
Wie äussert sich das?
Die Betroffenen verstecken die Flaschen, sie wollen nicht dabei gesehen werden, wie sie ihren Wein oder ihr Bier trinken. Indem sie ihren Konsum vertuschen, ziehen sie sich immer mehr zurück. Das ist ein Problem, denn häufig haben solche Menschen schon ein mangelndes Selbstbewusstsein oder sind isoliert und einsam
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Früher stand die Abstinenz im Zentrum. Ist das immer noch so?
Nein. Ein Muss zur Therapie gibt es bei uns nicht, schon gar nicht den Zwang, mit dem Konsum aufzuhören. Wir versuchen, die Selbstbestimmung des Menschen zu respektieren. Zugleich möchten wir jene, die gefährdet oder abhängig sind, unterstützen – sei es in ihrem Bemühen, den Alkohol wieder in den Griff zu bekommen, oder in ihrem Entscheid, mit dem Trinken aufzuhören.
Ihr Alterszentrum hat keine Suchtabteilung. Warum nicht?
In den meisten Fällen ist es ja nicht so, dass sich alles nur um die Sucht dreht. Alle Bewohner haben irgendwelche Ressourcen, die wir zu aktivieren versuchen: Manche arbeiten gern im Garten, andere wollen spazieren, wieder andere spielen ein Instrument, sie kochen oder geben sich mit Tieren ab. All das bietet Gelegenheit, soziale Kontakte zu knüpfen und Vertrauen aufzubauen. Wieso sollte man Menschen mit Abhängigkeiten davon ausschliessen? Man gäbe ihnen bloss das Gefühl, sie seien anders oder würden nicht genügen. Dagegen wollen wir gerade nicht das Manko betonen, sondern die positiven Möglichkeiten hervorheben, über die auch Menschen verfügen, die vielleicht ein Glas mehr trinken als andere. Selbst ein Mensch, der trinkt, ist immer noch viel mehr als nur ein Trinker.
Infografik: Die Gefahr steigt im Alter wieder an
Linda Gotsmann, 55, ist Leiterin Pflege und Betreuung im Alterszentrum Gustav Benz Haus in Basel. Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit hat das Alterszentrum zusammen mit dem Fachverband Sucht und der Schweizerischen Koordinations- und Fachstelle Sucht das Musterkonzept «Genuss, Suchtmittelkonsum und Abhängigkeiten in Alterszentren» erarbeitet.
- Weitere Informationen: alterundsucht.ch