Von der Piste auf den Schragen
Die Skiferien sind für viele die schönsten Wochen des Jahres. Doch fast 100'000 Skifahrerinnen und Snowboardern bleiben sie schmerzlich in Erinnerung. Ein Hochsaisontag bei einem Notfallarzt in Zermatt.
Veröffentlicht am 9. Februar 2023 - 10:28 Uhr
Das Matterhorn und 360 Kilometer Skipisten locken Winter für Winter Zehntausende Touristen nach Zermatt. Doch nicht allen bringen die Walliser Berge Glück. «Vor sieben oder acht Jahren hat sich hier meine Frau am Bein verletzt», erzählt ein Mann aus Kalifornien.
Nun liegt er selbst auf dem Schragen – und lässt sich von Dieter Stoessel das Knie untersuchen. Stoessel ist Facharzt für Allgemeinmedizin und betreibt seit 24 Jahren eine Praxis im Zentrum von Zermatt.
Im Turnus mit den drei anderen Hausärzten im Dorf übernimmt der 58-Jährige auch Notfalldienste. Der amerikanische Patient hat sich tags zuvor bei einem Sturz das Knie verdreht.
Stoessel schaut sich sowohl das verletzte als auch das unverletzte Knie genau an, bewegt beide vorsichtig – und weist die Praxisassistentin an, Röntgenbilder zu machen.
Allerdings ist für ihn die Diagnose schon jetzt klar. «Das innere Seitenband ist verletzt», sagt er. Die Aufnahmen bestätigen, dass keine Verletzung am Knochen vorliegt. Der Mann erhält eine Kniegelenkstütze und die Anweisung, daheim in den USA einen Arzt für eine Kontrolle aufzusuchen.
Sport ist Mord, heisst es zuweilen. Wintersport ist diesbezüglich keine Ausnahme: Zwar hat sich das Verletzungsrisiko beim Schneesport laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung von den 1970er- bis zu den 1990er-Jahren fast halbiert; die Skiausrüstungen wurden besser, die Pisten sicherer.
Seither aber stagnieren die Unfallzahlen. Jahr für Jahr verletzen sich ungefähr 52'000 Schweizerinnen und Schweizer beim Skifahren, 10'000 beim Snowboarden. Dazu kommen schätzungsweise 30'000 Touristen, die auf Schweizer Pisten verunfallen .
«Skifahrer verletzen sich häufiger an den unteren Gliedmassen, Snowboarder eher an den oberen», sagt Dieter Stoessel. Die grössten Schwachstellen seien das Knie und das Handgelenk.
Die nächste Patientin ist ein Mädchen aus Deutschland. Es hat sich auf der Funslope beim Abklatschen einer überdimensionalen Schaumstoffhand den Zeigefinger gestossen.
«Das Kreuzband ist gerissen, Ihre Skiferien sind vorbei.»
Dieter Stoessel, Hausarzt
Stoessel tastet ihn vorsichtig ab. «Kannst du ihn bewegen?», fragt er. Das Mädchen bejaht. «Verstaucht», lautet die Diagnose des Arztes. Er gibt etwas Salbe auf den Finger und bandagiert ihn ein. «Das kommt gut», sagt er aufmunternd.
Es ist Mittag geworden. «Nun kommt die Zeit, in der die meisten Unfälle passieren», sagt Stoessel. Die Kräfte der Skifahrerinnen und Snowboarder beginnen zu schwinden, die Konzentration sinkt, der Alkoholpegel im Blut steigt.
An einem Tag wie heute ist das Unfallrisiko besonders gross: Ein strahlend blauer Himmel und einige wegen Schneemangels geschlossene Skilifte bedeuten ein Gedränge auf den offenen Pisten.
Am Empfang der Praxis hat Stoessels Ehefrau Iris Kündig Stoessel nun alle Hände voll zu tun. Das Wartezimmer füllt sich mit Patienten, die über Fieber, Durchfall oder Unwohlsein klagen.
Das Telefon klingelt: Der Pistenrettungsdienst benötigt einen Krankenwagen, um eine verletzte Person auf den Notfall zu bringen. Iris Kündig Stoessel organisiert die Ambulanz – und benachrichtigt ihren Mann und die medizinischen Praxisangestellten, damit diese den Behandlungsraum frei halten.
Mehrsprachig therapieren
Eine Viertelstunde später trifft der Wagen ein. Zwei Sanitäter schieben eine Bahre in den Raum und helfen einer Frau auf den Schragen. «Was habt ihr da?», fragt Stoessel. «Ein Knie», sagt der Sanitäter.
Der Notfalljargon beschränkt sich aufs Wesentliche. Die Zeit ist knapp, die Patienten warten. Trotzdem bleibt Dieter Stoessel die Ruhe selbst. Er lässt die Frau das Patientenblatt ausfüllen und fragt, was passiert sei. Die Irin ist gestürzt. Seither schmerze das Knie, sagt sie. «Und es fühlt sich wacklig an.»
Wieder ist Stoessel nach einer kurzen Untersuchung bei der Diagnose sicher, bevor er die Röntgenbilder gesehen hat. «Das Kreuzband ist gerissen, Ihre Skiferien sind vorbei.»
Wer in Zermatt eine Arztpraxis führen will, muss medizinisch und sprachlich auf der Höhe sein. Heute führt Stoessel den grossen Teil der Patientengespräche auf Englisch.
Der gebürtige Zürcher spricht aber auch Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch – und ein bisschen Russisch, weil er einst ein halbes Jahr auf einer Uno-Mission in Tadschikistan war.
Nach Zermatt verschlug es ihn wegen des Wintersports . «Nach dem Studium wollte ich einen Winter lang arbeiten und Ski fahren», erzählt er. «Ich fand hier einen Hausarzt, der seine Praxis pickelhart jeden Mittag für drei Stunden schloss. So war ich jeweils um 12 Uhr auf den Skiern; um 14.50 Uhr kam ich zurück, duschte und arbeitete weiter.» Stoessel gefiel es so sehr, dass er ein ganzes Jahr blieb.
Nach seinen Lehr- und Wanderjahren kehrte er zum selben Arzt zurück – und eröffnete später seine eigene Praxis. Und obwohl er noch immer begeisterter Skifahrer ist, hatte er selbst noch nie einen Wintersportunfall.
Ungefähr 500 Unfallverletzungen, schätzt Stoessel, behandle er pro Wintersaison. Nicht alle geschehen auf der Piste. Heute ist ein Bauer in der Praxis, der nach dem Füttern seiner Eringer-Rinder auf die Schulter gefallen ist.
Jetzt bekommt er eine Armschlinge und die Ermahnung, sich ein paar Tage zu schonen. Gleich zwei Spaziergängerinnen haben sich bei einem Sturz das Handgelenk gebrochen. Bei beiden lautet die Diagnose: Bruch der Speiche vom Typ «loco classico».
Das sei die häufigste Fraktur des menschlichen Körpers, sagt der Arzt. «Sie passiert typischerweise, wenn jemand hinfällt und sich mit der Hand abzustützen versucht.»
Hilfe verzweifelt gesucht
Die eine Frau, eine Britin, hat Pech: An der Bruchstelle haben sich Knochenfragmente verschoben. Stoessel schickt sie nach Visp ins Spital. Bei der zweiten Patientin, einer Touristin aus Griechenland, zeigt das Röntgenbild, dass der obere Teil des Knochens abgeknickt ist.
Stoessel schaut die Bilder genau an. «Hier gibt es zwei Möglichkeiten», sagt er. «Entweder wird die Frau operiert – oder ich versuche, den Knochen in die richtige Position zurückzudrücken.» Eine solche Reposition, erklärt er, wäre die elegantere Lösung, weil sie einen Eingriff vermeidet.
Die Frau entscheidet sich für die Behandlung vor Ort. Dieter Stoessel verabreicht ihr eine schmerzstillende Spritze ins Gelenk. Er hängt die Hand an drei Fingern auf und befestigt gleichzeitig ein Gewicht am Oberarm.
In dieser Streckvorrichtung wird der Unterarm eine Viertelstunde lang auseinandergezogen. «Ganz entspannt bleiben», sagt Stoessel danach. Mit beiden Daumen drückt er mehrmals kräftig auf das abgekippte Knochenfragment und legt dann rasch einen Gipsverband um den Unterarm.
Als er ein paar Minuten später die neuen Röntgenbilder anschaut, lächelt er zufrieden: «Das sieht gut aus.»
Solche Fälle machten seine Arbeit besonders schön, sagt Stoessel. «Dieser Frau habe ich wirklich Gutes tun können.» Trotzdem: Selbst Zermatt mit seinem klingenden Namen scheint für Schweizer Ärzte kein attraktives Pflaster zu sein.
Er sei bei der Suche nach Unterstützung für seine Praxis schier verzweifelt. Schliesslich habe er eine Ärztin aus Rumänien gefunden. «Sie macht es gut – aber sie hat noch nicht viele Kreuzbandrisse oder Handgelenkbrüche gesehen. Und vieles wäre einfacher mit jemandem, der sich im Schweizer Gesundheitswesen auskennt.»
Schon ist er auf dem Weg zur nächsten Patientin. Die Ambulanz hat wieder eine Frau gebracht. Sie ist beim Snowboarden aufs Gesäss gefallen und hat Schmerzen in der Lendenwirbelsäule.
Das Röntgenbild ergibt einen Verdacht auf einen gebrochenen Rückenwirbel. Wieder ein Fall für das Spital in Visp. Und so geht es weiter, bis die Praxis um 20 Uhr schliesst: 18 Unfälle wird Stoessel insgesamt behandeln an diesem Hochsaisontag in einem der grössten Skigebiete der Schweiz.
Unfallrisiko beim Wintersport reduzieren
- Kopfverletzungen können schwerwiegend sein, sie machen ungefähr 15 Prozent der Skiunfälle aus. Skihelme verhindern jede dritte Verletzung.
- Nicht umsonst heisst es «Skisport». Wer trainiert ist, hat ein kleineres Unfallrisiko. Bevor es morgens auf die Piste geht, sollte man sich aufwärmen. Und wer müde ist, sollte eine Pause einlegen – viele Unfälle passieren vor dem Mittag und nachmittags.
- Neun von zehn Skiunfällen sind Selbstunfälle. Wer die Geschwindigkeit seinem Können anpasst, senkt sein Unfallrisiko. In einem von zehn Fällen ist eine Kollision die Ursache. Viele Unfälle können verhindert werden, wenn man auf Sicht fährt – und nicht an unübersichtlichen Stellen anhält.
- Alkohol benebelt die Sinne. Auf Bier, Wein und Schümli-Pflümli verzichten, bis man wieder im Tal ist.
- Vorsicht beim Gang in den Skiraum: Nur allzu schnell rutscht man in den Skischuhen aus.
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