Das Virus lässt nicht locker
Auch nach 30 Jahren Kampf gegen Aids gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Die Zahl der HIV-Positiven steigt weiter. Und es gibt einen neuen Verdacht: Infizierte altern schneller. Das hat Folgen für die Alterspflege.
Veröffentlicht am 29. April 2013 - 13:19 Uhr
Letztes Jahr haben sich in der Schweiz erstmals wieder mehr Menschen mit dem HI-Virus angesteckt. Die Zahl der Neuinfektionen stieg um zehn Prozent an. Vor allem bei Männern, die Sex mit Männern haben, zeigt die Kurve steil nach oben. Und an Aids sterben, von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt, in der Schweiz nach wie vor 30 bis 50 Menschen pro Jahr.
Für die Aids-Hilfe Schweiz sind das deutliche Warnsignale. Das Wissen um die neuen Aidsmedikamente, die ein Leben mit HIV möglich machen, habe viele sorglos gemacht. «Die Risikobereitschaft hat zugenommen», sagt Harry Witzthum von der Aids-Hilfe Schweiz. Die Leute wissen, dass es Therapien gibt, und schützen sich nicht mehr richtig. Sie sagen sich: «So schlimm kann es nicht sein. Und wenns dich erwischt, gibt es ja Tabletten.» HIV sei einfach kein interessantes Thema mehr. «Die Gefahr einer Banalisierung der Krankheit ist sehr real.»
Anzahl HIV-Neuinfektionen in der Schweiz nach Ansteckungsarten, seit Einführung sicherer Therapien 1996
Das ist vor allem bei über 40-Jährigen so. «Mit dem Alter nimmt die Vorsicht ab. Junge schützen sich erfahrungsgemäss viel besser gegen HIV und greifen schneller zum Präservativ», sagt Witzthum. Aber auch bei Jungen ist der Aufklärungsbedarf gross. Drei von zehn Jugendlichen glauben fälschlicherweise, man könne sich gegen Aids impfen lassen, wies der letztjährige Basler Jugendgesundheitsbericht nach.
«Wir müssen unbedingt die Präventionsarbeit intensivieren und diese Risikogruppe noch gezielter ansprechen», so der Sprecher der Aids-Hilfe Schweiz. Falls die Gelder für die Aidsprävention gekürzt werden sollten, laufe man Gefahr, die Erfolge der letzten Jahre zunichtezumachen. Eine Kürzung wäre von daher ein Schildbürgerstreich. Die aktuell neun Millionen Franken, die der Bund in die Prävention investiert, sind ein Klacks im Vergleich zu den 265 bis 300 Millionen Franken, die die Pflege HIV-Positiver jährlich verschlingt.
Ein einzelner Patient kostet im Schnitt jährlich 25'000 Franken. Bei einer erwarteten verbleibenden Lebensdauer von 40 Jahren macht das eine Million pro Patient. Witzthum sagt deshalb an die Adresse der SVP-Gesundheitspolitiker, die im vergangenen Herbst die Prävention im Bereich der Sexualerziehung kappen wollten: «Kürzungen wären ein fataler Fehler. Wenn wir nur neun Infektionen pro Jahr verhindern können, hat sich jeder Franken gelohnt.»
HIV-Infizierte in Altersgruppen: Anteil an der Gesamtzahl der Patienten in der Schweiz, in Prozent
Zahl der Meldungen HIV-Positiver von 1985 bis 2011, nach Kantonen
Die Aufklärung wird noch wichtiger. Denn die bis zu 300 Millionen Franken für die Behandlung HIV-Positiver werden schon bald nicht mehr ausreichen. Wissenschaftler gehen einem Phänomen nach, das der Zürcher Hausarzt und HIV-Mediziner Daniel Steiner schon länger beobachtet: «Viele meiner Patienten altern schneller. Sie erkranken zu früh an typischen Alterskrankheiten.» Dem einen fehlt die Kraft, um noch voll arbeiten zu können, ein anderer ist sehr jung an Altersdiabetes erkrankt, ein dritter leidet plötzlich an Herz-Kreislauf-Problemen.
Dass der Zusammenhang von HIV und zu schnellem Altern erst jetzt entdeckt wurde, hat einen Grund: HIV war immer eine Krankheit junger Menschen. Seit aber Mitte der neunziger Jahre eine wirklich wirksame Therapie eingeführt wurde, nimmt der Anteil älterer Patienten laufend zu. In der Schweiz war 2006 bereits jeder vierte HIV-Infizierte älter als 50, 2016 wird es jeder zweite sein.
Anfänglich diskutierten Fachleute die Forschungsresultate noch kontrovers. Das änderte sich 2007, als eine ganze Reihe grundlegender Untersuchungen den Verdacht erhärtete: HIV-Infizierte entwickeln ab 50 typische Alterskrankheiten; über 40-jährige HIV-Positive leiden überdurchschnittlich oft an Leber- und Nierenerkrankungen; bei über 50-jährigen HIV-Positiven treten bösartige Tumore doppelt so häufig auf wie bei Gesunden.
In dieser Zeit wurde auch ein Forschungsansatz entwickelt, mit dem sich der Alterungsprozess niederschwellig messen lässt. Das Stichwort heisst «frailty», Gebrechlichkeit. Dabei werden nicht Krankheiten gezählt, sondern typische Verhaltensweisen älterer Menschen erfasst: die tiefere Gehgeschwindigkeit, das schnellere Ermüden bei Kopfarbeit, die geringere körperliche Aktivität, der schwächere Händedruck. So liess sich nachweisen, dass HIV-Positive mit 55 so gebrechlich sind wie Gesunde mit 65. Und je länger die Ansteckung zurücklag, desto auffälliger war der Zusammenhang.
2012 sah sich die amerikanische Gesundheitsbehörde NIH deshalb veranlasst, erstmals Leitlinien für die Behandlung älterer HIV-Positiver zu erlassen. Danach müssen Patienten früher auf typische Alterskrankheiten und auf mögliche Wechselwirkungen von Medikamenten hin untersucht werden. «Die Gesundheitsprobleme älterer HIV-Infizierter werden immer komplexer und verursachen eine zusätzliche Nachfrage nach Pflege», schrieb die NIH. «Dies verstärkt die Befürchtung, dass es bei ambulanten HIV-Patienten die gleichen finanziellen Probleme geben wird wie bei stationären Chronischkranken.» Die mächtige US-Behörde folgert: «Die heutige Finanzierung genügt nicht, um eine ausreichende Pflege zu garantieren.»
in Millionen Betroffene, Jahre 1990–2011
Bis dahin hatten sich die Aidsexperten der Uno von Jahr zu Jahr positiver über den Verlauf der Seuche geäussert. Und tatsächlich, die Behandlung von Aids ist die grosse Erfolgsgeschichte der modernen Medizin. Nur zwei Jahre nach den ersten Berichten über die tödliche Krankheit, die sich von New York und San Francisco aus explosionsartig unter den Homosexuellen ausbreitete, entdeckte der Virologe Luc Montagnier ihren Auslöser: das «lymphadenotrope Virus». Und noch im gleichen Jahr präsentierte der Franzose einen Test, mit dem sich das Virus nachweisen liess. Das war vor genau 30 Jahren. 2900 Opfer hatte das humane Immundefizienz-Virus (HIV) bis zu jenem Zeitpunkt gefordert. Das war aber nur der Beginn des grossen Sterbens.
«Es war schlimm, gleich als junger Arzt die eigene Hilflosigkeit hautnah erleben zu müssen», erinnert sich Hausarzt Daniel Steiner. «Wir mussten mit ansehen, wie bei unseren Patienten die Immunabwehr zusammenbrach, sie Aids-assoziierte Krankheiten wie Lungenentzündungen, Pilzinfektionen oder Krebs entwickelten und nach einem schlimmen Leidenskampf schliesslich starben. Allesamt junge Menschen wie ich damals. Wir konnten ihnen nicht helfen, wir behandelten nur Symptome.»
Drei Jahre später stand schon ein erstes Medikament zur Verfügung. AZT hemmt die Vermehrung des Virus jedoch nur begrenzt; es bildeten sich immer wieder Resistenzen, die das Mittel wirkungslos machten. Wer das Testresultat «HIV-positiv» erhielt, wusste deshalb: Das war wohl das Todesurteil. Einmal im Körper, nistet sich das Virus vor allem in den CD4-T-Helferzellen ein, die zum Immunsystem gehören und eigentlich Krankheitserreger bekämpfen. Das HI-Virus programmiert die Zellen so um, dass sie nun HI-Viren produzieren. Werden die zerstörten Helferzellen nicht mehr ausreichend ersetzt, bricht Aids aus.
Hunderttausende Infizierte waren ohne grosse Hoffnung. Bis 1996, als der Virologe David Ho an der Welt-Aids-Konferenz in Vancouver die Ergebnisse verschiedener Forschergruppen vorstellte: eine neuartige Tripeltherapie. Der Mix aus drei antiretroviralen Medikamenten blockiert an unterschiedlichen Angriffspunkten die Vermehrung der HIV-Zellen, Aids bricht nicht mehr aus. Das war der Durchbruch, die grosse Wende.
«Für die Öffentlichkeit war es eine Sensation. Aber wir hatten schon im Voraus um die neue Behandlung gewusst. Zum Teil waren wir ja an diesen Studien beteiligt, die Patienten daher informiert», erzählt HIV-Mediziner Daniel Steiner. Auch die damals schon üblichen Therapien mit zwei Medikamenten hatten deutliche Verbesserungen gebracht. Trotzdem war Vancouver wichtig. Von nun an gab es ein Leben mit HIV. Die Lebenserwartung HIV-Positiver stieg dank der neuen Therapie rapide an. Sie ist heute praktisch gleich hoch wie bei Nichtinfizierten.
Doch die teuren neuen Medikamente blieben zunächst den reichen Ländern des Nordens vorbehalten. In Schwarzafrika nahm die Katastrophe ihren Fortgang. Aids löschte ganze Generationen junger Menschen aus. 2005 starben unglaubliche 2,3 Millionen Menschen an der Seuche. Vier Jahre vorher hatte die Welthandelsorganisation aus schierer Verzweiflung die Patentrechte der Pharmafirmen eingeschränkt. So verbilligten sich in Afrika die Medikamente radikal. Doch erst als Geld aus dem Westen floss – allein die USA investierten 15 Milliarden Dollar –, begannen die Kampagnen zu greifen und ging die Zahl der Aidstoten endlich zurück.
Noch heute sterben mehr Menschen an Aids als in allen politischen Konflikten zusammen. Der jüngste UNAIDS-Bericht, der auf Daten aus 150 Ländern basiert, zählte Ende 2011 weltweit 34 Millionen HIV-Infizierte. Sieben Millionen hatten keinen Zugang zu einer medizinischen Behandlung. 2,5 Millionen steckten sich neu an. 1,7 Millionen Menschen starben. Seit der Entdeckung des Virus vor 30 Jahren verzeichnete die Uno 35 Millionen Aidstote. Aids ist heute die dritthäufigste Todesursache.
In der Schweiz, wo überdurchschnittlich viele HIV-Positive leben, sieht die Bilanz ungleich besser aus. 17 000 Menschen sind Träger des Virus, jeder zehnte Schwule ist infiziert. Stärker betroffen sind nur Migranten aus Schwarzafrika. Die Versorgung HIV-Positiver ist beispielhaft. 70 Prozent gehen einer geregelten Arbeit nach, jeder zweite ist sogar voll erwerbstätig.
«Die meisten Patienten sind gut integriert und führen ein normales Leben», bestätigt Daniel Steiner. «Die Therapie stellt allerdings sehr hohe Anforderungen an die Patienten. Sie müssen ihre Medikamente auf ein, zwei Stunden genau einnehmen. Vergessen sie das wiederholt, kann das Virus mutieren, es bilden sich Resistenzen, die Therapie wird unwirksam. Das führt zu einem Fortschreiten der HIV-Infektion.»
Aber die Medikamente wirken. Und die Pharmafirmen rechnen vor, dass HIV-Positive dank modernster Therapie heute eine praktisch unvermindert hohe Lebenserwartung haben. Forschungsresultate, die belegen, dass HIV-Infizierte vorschnell altern, passen da nicht recht ins Bild.
Epidemiologe Bruno Ledergerber, der am Universitätsspital Zürich über HIV forscht, warnt jedoch vor voreiligen Schlüssen. «Die These ist gar nicht so zweifelsfrei dokumentiert, wie es aufgrund der zahlreichen Studien den Anschein hat.» Das grosse Problem sei, dass darin oft Äpfel mit Birnen verglichen würden. Schon geringfügige Unterschiede in der Zusammensetzung der Vergleichsgruppen könnten das Resultat stark in die eine oder andere Richtung verfälschen.
«HIV-Positive sind eine ganz spezielle Gruppe Menschen. Das macht es sehr schwierig, eine HIV-negative Kontrollgruppe mit einem ähnlich risikoreichen Lebensstil zu finden», sagt Ledergerber. Denn unter Menschen mit HIV habe es überdurchschnittlich viele Raucher, die überdurchschnittlich viel Alkohol und Partydrogen konsumieren und während Jahren ausschweifend gelebt haben. Zudem haben sich überdurchschnittlich viele mit Hepatitis C angesteckt.
Als Erstem ist kürzlich dem holländischen Forscher Peter Reiss das Kunststück gelungen, eine tatsächlich vergleichbare Gruppe von HIV-Negativen zusammenzustellen. Prompt fielen die Resultate weniger spektakulär aus. Danach altern HIV-Infizierte nicht 10 bis 15, sondern nur rund fünf Jahre früher als Gesunde. Reiss gelang auch der Nachweis, dass das Altern stark von der Dauer der Medikamententherapie und der Schwere der früheren Immunerkrankung beeinflusst wird.
Die Zürcher Infektiologin Barbara Hasse hat ein ähnlich gelagertes Forschungsprojekt aufgegleist. Sie will zudem herausfinden, welche Konsequenzen sich aus dem Alterseffekt für die Betreuung von HIV-Patienten ergeben. Nach der Auswertung der 8444 in der Schweizer Kohortenstudie erfassten HIV-Patienten kann Hasse nun erste Resultate präsentieren. Bei über 40'000 Arztbesuchen zeigte sich, dass HIV-Patienten fünfmal mehr an Erkrankungen litten, die nicht mit der HIV-Infektion zusammenhingen, als an Krankheiten mit einem HIV-Zusammenhang. Dies war bei über 50-Jährigen auch dann noch so, als Risikofaktoren wie der Schweregrad der Immunschwäche aus den Daten herausgerechnet wurden.
Es sei aber noch sehr früh, um aus ihren Resultaten Rückschlüsse für die Behandlung von HIV-Patienten zu ziehen. Angesichts der guten ärztlichen Betreuung genüge es vorläufig, wenn das Screening für typische Alterskrankheiten früher einsetze, wie das in den USA bereits geschieht.
Das dringlichere Problem ortet Hasse im Mangel an Hausärzten mit HIV-Fachwissen. «Viele unserer Spezialisten werden in den nächsten Jahren in Pension gehen. Mit ihnen geht sehr viel Know-how für die Betreuung der Patienten verloren.» Das dürfe nicht passieren. Man müsse jetzt unbedingt mehr Geld und Energie in die Ausbildung von Nachwuchsärzten stecken. Das genüge nicht, sagt Aids-Hilfe-Sprecher Harry Witzthum. Man müsse auch in die Alterspflege investieren. «Das notwendige Wissen in diesem Bereich fehlt oft. Wir müssen zunehmend Anfragen von Pflegepersonal aus der Spitex und von Altersheimen beantworten.»
Vielfach sei zum Beispiel nicht klar, wie man auf ältere HIV-Patienten reagieren müsse, wenn es aufgrund von Begleiterkrankungen zu Wechselwirkungen zwischen Medikamenten kommt. Es zeige sich auch, dass Pflegepersonen nicht genügend über die Risiken der HIV-Übertragung informiert seien und man hier Ängste ausräumen müsse. Zudem müsse man verhindern, dass HIV-Positive im Altersheim gemobbt und diskriminiert werden. «Die Verunsicherung in der Alterspflege ist gross. Deshalb», sagt Witzthum, «müssen wir jetzt unbedingt alle spezifischen Fragen rund um HIV im Alter angehen.» Denn es wird nicht mehr lange dauern, und HIV kommt definitiv in den Altersheimen an.
Was den Alterungsprozess von HIV-Infizierten beschleunigt, ist umstritten. Der vielversprechendste Erklärungsansatz stammt von der amerikanischen Virologin Rita B. Effros. Bei Laboruntersuchungen fiel ihr auf, dass ältere HIV-Patienten überraschend viele Zellen mit stark verkürzten Chromosomen-Enden haben. Sind sie allzu kurz, wächst die Zelle nach der Teilung nicht mehr richtig nach. Das wiederum schwächt die Immunabwehr. Verkürzte Chromosomen-Enden werden deshalb mit dem Alterungsprozess in Verbindung gebracht.
Andere Forscher glauben, dass die HI-Viren eine Dauerentzündung im Körper auslösen, die für das schnellere Altern verantwortlich ist – und das, obwohl man mit der heutigen Therapie die HI-Viren im Blut unter die Messgrenze senken kann. Im Gehirn und im Magen-Darm-Trakt lassen sich die Viren aber nicht so leicht stoppen. Infizierte leiden deshalb chronisch an leichten Entzündungen, ihr Immunsystem ist daueraktiviert. Dadurch sinke mit den Jahren die Fähigkeit der Zellen, sich zu regenerieren. Die Folge: Man altert schneller.
HI-Viren programmieren Abwehrzellen so um, dass sie nicht mehr schützen, sondern nur noch neue HI-Viren produzieren.
Zu Beginn traf Aids fast nur Schwule. Die Reaktion rechter Politiker in den USA und konservativer Kirchenleute war entsprechend. Sie sahen in Aids eine «Schwulenseuche» oder eine «Geissel Gottes», eine göttliche Abrechnung mit angeblich abartigen Sexualpraktiken. Das beste Mittel gegen Aids war ihrer Meinung nach: kein Sex vor der Ehe, keine Schwulen, keine Lesben.
30 Jahre später ist davon nur noch wenig zu spüren. Vor allem haben die Erzkonservativen mit ihrer Verteufelung von Aids letztlich das Gegenteil bewirkt: dass Schwule und Lesben aus ihrem Ghetto ausbrechen und sich emanzipieren konnten. Heute führt ein Land nach dem anderen die Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren ein.
Auch die raschen Fortschritte bei der Aidstherapie gehen massgeblich auf die Aktivitäten der Gay Community zurück. Sie hat Forschung, Industrie und Politik gezwungen, sich früh mit dem Virus zu befassen und Milliarden in Aufklärung und Therapie zu investieren.
«Die Krankheit, die stigmatisierte Gruppen wie Schwule besonders hart traf, trieb letztlich deren Emanzipation voran.
Und sie brachte innovative Beteiligungsmodelle hervor, bei denen die betroffenen Gruppen selbst das Sagen haben», bilanziert Holger Wicht von der Aids-Hilfe Deutschland. «Schwule und Lesben haben das Kunststück geschafft, Aids
zu enttabuisieren und sich als Gruppe zu emanzipieren», sagt sein Schweizer Kollege Harry Witzthum.
um 1900: Der Urtyp des HI-Virus wird in Afrika von Schimpansen auf den Menschen übertragen. Das Virus überwindet damit bereits zum zweiten Mal die Artengrenze. Es stammt von anderen Affenarten.
1959: Der älteste Nachweis einer HIV-Infektion stammt von einem Unbekannten aus Léopoldville (Belgisch-Kongo). Die Herkunft der Probe ist aber nicht restlos gesichert. 1966 taucht das Virus in Haiti auf.
1969: Der Afroamerikaner Robert Rayford ist wohl das erste Aidsopfer der USA. Der 15-Jährige stirbt im St. Louis City Hospital. Die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Der Nachweis, dass Rayford an Aids starb, gelingt einer Forschergruppe der Tulane University School of Medicine erst 1987.
5. Juni 1981: Offizieller Beginn der Aidsepidemie. Michael S. Gottlieb beschreibt im «Morbidity and Mortality Weekly Report» erstmals eine ungewöhnliche Krankheit von fünf schwulen Männern aus Kalifornien, die gleichzeitig an Pilzinfektionen und Lungenentzündungen leiden.
Januar 1982: Gründung der Gay Men’s Health Crisis (GMHC) in New York. Sie ist weltweit die erste Organisation zur Unterstützung von Menschen mit Aids.
31. Mai 1982: Das Nachrichtenmagazin «Spiegel» veröffentlicht den ersten deutschsprachigen Bericht über die mysteriöse Infektion unter Homosexuellen in den USA. Der Titel: «Der Schreck von drüben».
27. Juli 1982: An einer Konferenz von Blutspendeorganisationen einigen sich die Teilnehmer auf einen Namen für die neue Krankheit. Von da an heisst sie offiziell Acquired Immune Deficiency Syndrome, kurz: Aids.
1982: Das Virus breitet sich rasend schnell aus. Der erste Fall von Aids in der Schweiz.
20. Mai 1983: Einer Gruppe um Luc Montagnier gelingt es am Pasteur-Institut erstmals, das HI-Virus zu identifizieren. Das Virus stammt aus dem Gewebe eines Aidspatienten, Montagnier nennt es zunächst «Lymphadenopathie-assoziiertes Virus». Die fast gleichzeitige Veröffentlichung der Entdeckung durch Robert Gallo führt zu einem bizarren Rechtsstreit über die Erstentdeckung.
6. Juni 1983: Aids kommt am Kiosk an. Erstes Aids-Titelblatt eines Magazins.
1984: Der erste HIV-Antikörper-Test kommt auf den Markt.
1984: Die Genfer Schwulenorganisation Dialogai eröffnet den ersten Beratungsdienst für Aidskranke in der Schweiz. Die Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich organisieren den ersten Aids-Informationsabend mit einem Spezialarzt und Privatdozenten der Universität Zürich.
1985: In Frankreich und Deutschland wird es Pflicht, sämtliche Blutprodukte auf HIV-Antikörper zu testen. In der Folge gehen die HIV-Infektionen bei Hämophiliepatienten drastisch zurück.
2. Juni 1985: Drei Mitglieder der Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich gründen die nationale Organisation Aids-Hilfe Schweiz (AHS). Mit der Ernennung des bekannten Fernsehmoderators André Ratti zum Präsidenten gelingt der Gruppe ein grosser medialer Coup. Ratti ist der erste prominente Schwule in der Schweiz, der sich öffentlich outet und sich zugleich als Aidskranker zu erkennen gibt.
2. Oktober 1985: HollywoodSchauspieler Rock Hudson stirbt an Aids. Sein Coming-out kurz vor dem Tod sorgt weltweit für grosses Aufsehen.
Mai 1986: Erst jetzt testet man alle Schweizer Blutproben auf HIV.
1986: Eine von der Aids-Hilfe Schweiz konzipierte Broschüre wird an alle Schweizer Haushalte verteilt. Sie gilt als erfolgreichste Präventionskampagne der Schweiz.
25. OKTOBER 1986: Fernsehmoderator André Ratti stirbt. Er ist der erste bekannte Aidstote der Schweiz.
3. Februar 1987: Charles Clerc stülpt sich in der «Tagesschau» ein Kondom über seinen Finger.
20. März 1987: Das erste HIV-Medikament wird in den USA zugelassen. Der Wirkstoff Azidothymidin (AZT) kann den Krankheitsverlauf aber nur verlangsamen.
9. April 1987: Prinzessin Diana eröffnet die erste auf HIV spezialisierte Krankenhausabteilung, das London Lighthouse. Vor allem die Tatsache, dass Diana Aidspatienten die Hand gibt, ohne Handschuhe zu tragen, erregt weltweit Aufmerksamkeit.
1987: Beginn der «Stop Aids»-Kampagne des Bundesamts für Gesundheit. Der Bundesrat setzt im gleichen Jahr auch eine eigene Kommission für Aidsfragen (EKAF) ein sowie eine weitere Kommission zur Kontrolle der Aidsforschung (KKAF).
1987: Polo Hofers «Stop Aids»-Song stürmt die Schweizer Hitparade. Die Textstelle «Bim Sitesprung im Minimum ä Gummi drum» wird zum geflügelten Wort.
1987: Der damalige deutsche Kurienkardinal Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., sagt: «Man muss nicht von einer Strafe Gottes sprechen. Es ist die Natur, die sich wehrt.»
18. Januar 1989: Der Autor Bruce Chatwin stirbt an Aids.
16. Februar 1990: Der US-Künstler Keith Haring stirbt an Aids.
1991: Die von der New Yorker Künstlergruppe Visual Aids entwickelte rote Schleife wird als internationales Symbol eingeführt.
7. November 1991: Basketballspieler Earvin «Magic» Johnson gibt sein Coming-out als HIV-Positiver und tritt gleichzeitig vom Sport zurück.
24. November 1991: Queen-Sänger Freddie Mercury stirbt.
1992: In Zürich wird ein Sterbehospiz eröffnet, das sich speziell um die Bedürfnisse von Aidspatienten kümmert.
Februar 1992: Der italienische Textilhersteller Benetton veröffentlicht ein Werbeplakat mit dem sterbenden Aidskranken David Kirby im Kreis seiner Familie.
Juli 1992: Die ursprünglich für Boston geplante internationale Aidskonferenz muss kurzfristig nach Amsterdam verlegt werden. Der Grund: Die amerikanische Regierung hält an ihrer Regelung fest, allen HIV-Positiven die Einreise in die USA zu verwehren.
12. September 1992: Schauspieler Anthony Perkins stirbt 60-jährig an Aids.
6. Januar 1993: Der Tänzer Rudolf Nurejew stirbt an Aids.
1995: Studien belegen, dass die Behandlung mit zwei Wirkstoffen besser gegen das Virus wirkt als die Monotherapie. Die Zweierkombi wird neuer Behandlungsstandard.
1996: Der Virologe David Ho stellt an der 11. Welt-Aids-Konferenz in Vancouver die neuentwickelte Tripeltherapie vor. Die sogenannte Highly Active Antiretroviral Therapy, kurz HAART, bringt die Wende. Aids ist von diesem Zeitpunkt an behandelbar. Es gibt ein Leben mit HIV.
1997: Das amerikanische Gesundheitsdepartement berichtet, dass in den USA erstmals die Zahl der Aidstoten gesunken ist. Ende 1997 sind 30 Millionen Menschen mit dem HI-Virus infiziert, jährlich sterben mehr als zwei Millionen.
2. August 1997: Der Afrojazzer Fela Kuti stirbt an Aids.
1999: Aids ist weltweit die vierthäufigste Todesursache aller Zeiten.
2000: US-Präsident Bill Clinton erklärt Aids zum Staatsfeind, da die Epidemie Regierungen stürzen, Chaos in der Weltwirtschaft verursachen und ethnische Konflikte auslösen könne.
2001: Die Welthandelsorganisation setzt Patente für Aidsmedikamente ausser Kraft. In der Folge fallen die Preise um bis zu 99 Prozent.
2003: Die Weltgesundheits-organisation (WHO) startet ihre Initiative «3 by 5»: Bis Ende 2005 sollen drei Millionen HIV-Infizierte in Entwicklungsländern eine Therapie erhalten. Das ehrgeizige Ziel wird erst in den Folgejahren erreicht.
März 2007: Die WHO und die Uno-Organisation UNAIDS empfehlen die Beschneidung als ergänzende Präventionsmethode. Zuvor hatten Studien in afrikanischen Ländern gezeigt, dass beschnittene Männer beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr ein um 60 Prozent niedrigeres Ansteckungsrisiko aufweisen.
30. Januar 2008: Die Eidgenössische Kommission für Aidsfragen (EKAF) stellt als weltweit erste Regierungsstelle fest, dass HIV-Positive bei sorgfältiger Einnahme ihrer Medikamente nicht ansteckend sind. Das sogenannte EKAF-Statement sorgt international für Wirbel, da es wesentlich differenzierter ist als die altbekannte Präventionsbotschaft «Kondome schützen».
2008: Luc Montagnier, Entdecker des HIV, erhält den Nobelpreis für Medizin.
2010: Nach mehr als zwei Jahrzehnten heben die USA das seit 1987 geltende Einreiseverbot für HIV-Positive endgültig auf. Das Verbot habe «mit Angst zu tun, nicht mit Fakten», begründet Präsident Barack Obama die Kehrtwende.
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