Plötzlich kahl
Ein junger Mann hat alles, was er will. Doch dann verliert er seine Haare - und damit seine Identität.
Veröffentlicht am 27. November 2015 - 10:20 Uhr
Die letzten Gäste suchen einen Platz. Getuschel, Gebrumme und Hallo-Rufe im Saal. Marc Studer steht vorn, im dunkelblauen Anzug, mit schmaler Krawatte. Gespanntes Warten auf die Braut. Der Trauzeuge gibt das Zeichen. Marc Studer tritt zwei Schritte vor, nimmt ein Mikrofon.
Nur noch Gebrumme.
Was jetzt kommt, hat der 26-Jährige in den letzten Wochen nächtelang durchgespielt. Auf seiner Glatze perlt der Schweiss. «Hallo zusammen. Ja, ich bin es. Der Marc.»
Stille.
«Für all jene, die mich in letzter Zeit nicht gesehen haben: Ich habe all meine Haare verloren. Man weiss nicht warum. Aber es sind nur die Haare, sonst geht es mir gut.» Schluchzen im Publikum.
Er ist spät dran. Noch rasch vor den Spiegel, Gel in den Wuschelkopf wischen. Als er die Hände wäscht, klemmt ein Büschel zwischen den Fingern. Er muss los. Am Abend wäscht er das Gel wieder raus. Der Abfluss ist verstopft. Haare. Er reibt sich mit dem Frottiertuch trocken. Wieder Haare, im Tuch. Doch sein Wuschelkopf ist so dicht, dass Marc keine weiteren Gedanken daran verschwendet.
Er macht weiter wie bisher: Schlagzeug spielen in einer Rockband, surfen, drei- bis viermal pro Woche ausgehen. Der Surferboy und Kumpeltyp kommt auch bei den Frauen gut an. Sein Dreitagebart, die dunklen Haare und seine Sprüche gefallen. Auf Facebook hat er weit über 1000 Freunde. Und in Biel, wo Marc Studer aufgewachsen ist, kann er keine fünf Minuten durch die Innenstadt gehen, ohne ein, zwei Bekannte zu treffen.
Der Abfluss der Dusche ist immer öfter verstopft. Bald muss er jeden Morgen lose Haare vom Kopf putzen. Überall Haare: im Bett, auf den Kleidern, in der ganzen Wohnung. Seit dem ersten Haarausfall sind nun fast zwei Monate vergangen.
Eines Abends macht Studer das, was er sich lange nicht traute: Er setzt seine Fingerkuppen bei der Stirn an und arbeitet sich vorsichtig durch seinen Wuschelkopf. Der rechte Zeigefinger zuckt zurück, er spürt etwas, was vorher nicht da war: nackte Haut. Eine Lücke, so gross wie ein Zweifränkler.
In den Wochen danach fressen sich immer mehr Lücken in den Wuschelkopf. Er geht zum Hautarzt. Dieser verschreibt eine Kortisonsalbe für die kahlen Stellen. Nichts Neues für Marc, denn Kortison begleitet ihn schon lange. Bereits als Kleinkind hatte er starke Hautausschläge. Die Ekzeme im Gesicht, an den Armen und auf der Brust behandelt er seit Jahren mit Kortison. Heute sagt er: «Als Jugendlicher habe ich mich geschämt mit den roten Flecken im Gesicht. Kortison half schnell und zuverlässig. Es war mein Wundermittel. Jetzt wurde es mir zum Verhängnis.» Zuerst wirkt das Kortison auch diesmal schnell, die Haare wachsen nach. Doch nur wenige Wochen später sind da wieder Lücken. Zweifränkler und Fünfliber.
Sommer 2015. Marc Studer sitzt aufrecht in einem Bieler Strassencafé. Er findet die richtigen Worte, erzählt ruhig, als wäre es nicht seine Geschichte. Nur die Pausen lassen erahnen, was in ihm drin passiert – sie werden immer länger. Während er erzählt, verliert der Japanische Schnurbaum neben dem Tisch seine creme-weissen Blüten. Fingerhutgross, blumenförmig. Sie landen im Aschenbecher, auf dem Tisch, auf dem Asphalt.
«Ich konnte die Lücken gerade noch knapp verbergen, aber mich nervte, dass ich überall Haare hinterliess. Und so sagte ich an einem Samstagmorgen zu meinem Mitbewohner: «Dani, jetzt müssen die Haare weg.» Marc kniet sich vor das Lavabo im Bad der Männer-WG. Schwaches Licht, dunkle Kacheln, Holztäfer an der Decke, Altbau. Das einzige Geräusch kommt vom Ventilator in der Wand, der wegen des Durchzugs rotiert.
Marc setzt seine Stirn auf den Waschbeckenrand. Er ist vom eigenen Mut überrascht. Das Surren der Tondeuse übertönt den Ventilator. Dani nimmts genau. Bahn um Bahn – bis das ganze Lavabo gefüllt ist. Danach Rasierschaum und glattrasieren. Marc zieht sich am Waschbecken hoch und starrt in den Spiegel. Auf einen Schlag bereut er seinen Mut. Abstehende Ohren, Gruben in der Haut, Eierkopf. Tränen.
Im Strassencafé erzählt Marc: «Es war wirklich ein Schock. Aber wenn ich gewusst hätte, was später noch alles kommt, hätte ich nicht so reagiert.» Marc nimmt einen grossen Schluck von seinem Mineralwasser. Alkohol darf er schon lange nicht mehr trinken – wegen dem, was noch kam.
Seit der Kopfrasur geht Marc fast nur noch mit Hut vor die Tür. Die Glatze fällt trotzdem auf. Er, der sonst gern mit Sprüchen ausgeteilt hat, muss jetzt einstecken: «Warum so kurz?», «Wette verloren?», «Und jetzt noch ein Hakenkreuz tätowieren?».
Studer geht wieder zum Hautarzt. Dieser diagnostiziert eine Autoimmunerkrankung: «Da kann man halt nichts machen.» Eine grobe Fehldiagnose, wie sich zeigen wird. Marc Studer verändert sich weiter: Die Augenbrauen werden schmaler, bis sie ganz verschwinden. Die Wangen bleiben glatt. Dann fallen die Schamhaare aus, am Schluss die Wimpern.
Etwa sieben Wochen nach der Kopfrasur ist sein Körper komplett kahl. Und das mitten in den Hochzeitsvorbereitungen. In zwei Monaten will er seine Freundin Naïma heiraten. «Ich hatte mich schon sehr lange auf diesen Tag gefreut. Und klar: Das ist der Tag, an dem du unglaublich gut aussehen willst.» Die Hochzeit absagen, das kommt zwei Monate vorher nicht in Frage. «Wir hatten alles organisiert. Und wir wollten diesen Schritt machen, das wollten wir uns nicht nehmen lassen.»
Eine Perücke? «Das haben tatsächlich viele vorgeschlagen. Das wollte ich aber nicht, das wäre nicht ich gewesen.» Und doch, dass er ohne Haare heiraten soll, macht Marc Studer grosse Mühe. Naïma versucht ihn zu beruhigen: «Ich heirate dich mit Haaren, ohne Haare, mit grünen, blauen, egal. Du bist und bleibst mein Marc. Und ich finde dich auch ohne sehr attraktiv.» Ein Kompliment, das er selber nicht nachvollziehen kann. Er findet sich nicht mehr schön, und in zwei Monaten will er unglaublich gut aussehen. Er weiss: Jetzt braucht es ein Wunder. Marc glaubt an Gott. Er betet jeden Abend um Heilung.
Ein Schluck Mineralwasser im Strassencafé: «Ich war fest davon überzeugt, dass Gott ein Wunder tut und meine Haare bis zur Hochzeit nachwachsen.» Die Redepausen unterm Japanischen Schnurbaum werden länger, die Blüten schneien auf den Asphalt. «Ich liebte es immer, unter Leuten zu sein. Ohne Haare war ich aber plötzlich auch ohne Kollegen. Ich kreuzte Bekannte und Freunde auf dem Trottoir, erkannte sie, aber sie schauten durch mich durch. Ich war wie unsichtbar.» Pause, Schluck, Pause. «Einmal hat mich meine Schwester nicht erkannt. Meine eigene Schwester!»
Plötzlich streckt er den Arm hoch und winkt. «Hallo! Ja, selber? Machs gut! Ciao!» – «Der hat mich jetzt erkannt. Aber er kennt mich auch erst, seit ich so aussehe, der hat mich nie anders gesehen.
Item. Ich habe mich früher stark über mein Äusseres definiert. Aber plötzlich war ich nicht mehr der gutaussehende Marc, sondern nur noch der Marc.» Studer geht fast nur noch für die Arbeit aus der Wohnung. Er arbeitet als Fachperson für Radiologie im Spital, muss oft Tumoren von Krebspatienten röntgen. Ihnen ist seine Veränderung nicht entgangen. Einmal sagte einer: «Endlich jemand, der weiss, wovon man spricht. Haben Sie die Chemo schon abgeschlossen oder sind Sie noch dran?»
Dann neue Hoffnung: Marc Studer wechselt zu einer Ärztin in Zürich, die Schulmedizin mit Naturheilkunde kombiniert. Sie untersucht Blut und Stuhl und merkt schnell: Eine Autoimmunerkrankung ist es nicht. Stattdessen stellt sie fest, dass bei Marc das Entgiftungsgen GSTM1 fehlt. «Dieses Gen hilft dem Körper, Schadstoffe abzubauen. Wenn es fehlt, ist bereits das Einatmen von Rauch oder starken Abgasen ein Problem», sagt die Ärztin. Bei Marc Studer wurde früher nie nach der Ursache seiner Ausschläge gesucht, das rächt sich jetzt. Seine Ärztin erklärt es so: «Weil sich der Körper nie selber entgiften konnte, versuchte er die Schadstoffe über die Haut abzustossen – das Kortison hat das Gift jahrelang zurück in den Körper gedrückt. Zusätzlich haben sich im Darm falsche Bakterien eingenistet, dadurch wurde das Immunsystem massiv geschwächt. Irgendwann haben dann die Haare gesagt: ‹In so einem Umfeld können wir nicht mehr wachsen.›»
Die Ärztin stellt eine Therapie zusammen, mit dem Ziel, das Kortison langsam auf null zu fahren. Doch vor der Therapie kommt zuerst die Hochzeit. Marcs Gebete werden nicht erhört. «Ich hatte outfitmässig vorgesorgt, falls es doch kein Wunder gibt. Baseball-Cap, passend zum Anzug, passende Brille. Mein Glaube war doch nicht so gross.»
Ohne Haare war er für Freunde und Bekannte wie unsichtbar. Einmal erkannte ihn nicht mal seine Schwester.
«Hallo zusammen. Ja, ich bin es. Der Marc. Ich habe all meine Haare verloren. Man weiss nicht warum. Aber es sind nur die Haare, sonst geht es mir gut.» Enge Freunde, die wissen, wie sehr Marc tatsächlich leidet, können die Tränen nicht zurückhalten. Die Band stimmt «Invincible» der Band Muse an – «unbesiegbar»:
Follow through
Make your dreams come true
Don’t give up the fight Y
ou will be alright
Cause there’s no one like you in the universe
Die Tür geht auf. Naïma, in elegantem Weiss, wird von ihrem Vater hereingeführt. Sie sieht aus, als käme sie direkt aus einem Hochglanzkatalog für Brautmode. Die blonden Haare locker nach hinten gesteckt, das Kleid aus Federn, Spitzenstoff und Tüll lässt die zierliche Schulter frei. Die Glatze von Marc wird mittlerweile vom schwarzen Cap bedeckt, die markante Brille spendet Kontrast. «Ja, ich will.»
Die Flitterwochen in Indonesien. Bei der Rückreise am Flughafen Zürich schaut die Zollbeamtin auf den Pass, dann zu Marc, auf den Pass, zu Marc. «Ich habe all meine Haare verloren.» Die Zollbeamtin holt einen Kollegen dazu. Sie messen Augenabstand, die Breite des Mundes, die Nase. Nach 20 Minuten darf Marc durch den Zoll. Zurück in die Schweiz, wo blutige Nächte, Schmerzen und Verzweiflung warten.
Die Therapie beginnt: weniger Kortison, kein Alkohol, kein Zucker. Infusionen zur Unterstützung der Organe. Bakterienstämme zum Darmaufbau und homöopathische Tropfen zur Entgiftung. Ausserdem verschreibt die Ärztin ein Krankheitstagebuch. Jeden Tag Fotos und eine kurze Notiz:
1 Mal baden, 1 Mal duschen,
7 Mal eincremen
Nacht: 2,5 h Schlaf, dann duschen,
eincremen
sehr starker Juckreiz, kratzen bis blutig
Die Therapie wirkt – das Gift kommt heraus.
1 Mal baden: einzige Zeit ohne Schmerzen und Juckreiz
Nacht: kratzen bis blutig, erst am Morgen eingeschlafen durch Erschöpfung von Kratzen,
Waschen, Eincremen
stark angeschlagene Psyche, verzweifelt
Auch bei der Arbeit muss sich Marc Studer ständig eincremen und die Ekzeme am Körper waschen. Er schliesst sich in der Pause auf der Toilette ein.
2 Mal baden, einzige Zeit ohne Schmerzen
starke Schmerzen beim Bewegen der Haut
Schwellungen und Hitze unter den Armen und im Genitalbereich
Nacht: mehrere Stunden kratzen bis blutig
Psyche am Nullpunkt
Studer wird krankgeschrieben. Für die Infusionen muss er nicht mehr aus dem Haus, er kann sich dank seiner Ausbildung die Nadel selber stecken.
2 Mal baden
diverse Mal eincremen
Nacht: 3 h geschlafen, dann wegen starker Schmerzen ganzer Körper mit Quarkwickel belegt
«Das ist wohl das einzig Positive aus dieser Zeit: Ich durfte erfahren, wie gross die Liebe von Naïma ist.» Naïma schiebt Nachtschichten: Quarkwickel, eincremen, beistehen. Oft steht sie auf, wenn Marc nachts unter die Dusche muss. Sie leistet ihm Gesellschaft und schläft auch mal vor der Dusche am Boden ein. Es ist die erste Zerreissprobe für die junge Ehe. «In dieser Krise haben wir oft zusammen gebetet, und wir fühlten uns von Gott getragen.»
Die Tage und Nächte vergehen, das Muster bleibt gleich: Schmerzen, Juckreiz, Kratzen, Blut. Erst Wochen später notiert Marc:
2 Mal duschen
mässiger Juckreiz
Barthaare und einzelne Kopfhaare beginnen zu wachsen!
Nacht: 10 h geschlafen
Nach und nach wachsen die Haare wieder. Zaghaft und nur mit der Lupe erkennbar – aber sie wachsen. «Marc Studer ist nun seit einem Jahr bei mir in Behandlung. Wir sind über dem Berg, aber noch nicht am Ziel», fasst seine Ärztin zusammen. «Wir müssen weiter entgiften, die Arbeit des Entgiftungsgens mit Aminosäuren und Vitaminen ersetzen. Und ganz wichtig: Irgendwann müssen wir die Kortisondosis ganz herunterfahren.»
Beim Gespräch im Café hat Marc Studer wieder Andeutungen von Augenbrauen, auch einzelne Wimpern. Die Kopfhaare rasiert er weiterhin, da sie nur fleckenweise wachsen. In den folgenden Wochen wachsen die Haare weiter. Der Wuschelkopf ist zwar nicht zurück – aber Marc wagt sich wieder unter Leute, geht wieder aus. Dort trifft er auch Leute, die er im letzten Jahr, mit kahlem Kopf, kennengelernt hat. Sie erkennen ihn nicht mehr.
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